Die neue Welt(un)ordnung

Deutschland und Europa am Scheideweg

von Prof. Dr. André Reichel

5. Mai 2025

Die geopolitischen Verschiebungen der vergangenen Monate und Jahre haben Europa in eine Phase struktureller Unsicherheit geführt – und zugleich für seltene analytische Klarheit gesorgt. Die Entscheidung der USA, ein Rohstoffabkommen mit der Ukraine zu schließen, markiert eine Zäsur im transatlantischen Verhältnis. Der exklusive Zugriff auf kritische Ressourcen und ein gemeinsamer Wiederaufbaufonds werfen grundsätzliche Fragen zur Rolle Europas in der Weltordnung auf.

Für Deutschland und die EU entsteht daraus nicht nur sicherheitspolitischer Handlungsdruck: Es eröffnet sich auch die Chance, eigene strategische Interessen selbstbewusst zu formulieren – ein Schritt, der das europäische Selbstverständnis neu definiert.

Identitätskrise und neue Souveränität

Gerade für Deutschland ist der Bruch mit den USA nicht nur strategisch, sondern auch emotional tiefgreifend. Über Jahrzehnte waren die Vereinigten Staaten sicherheitspolitischer Garant und kulturelles Leitbild, vom Marshallplan bis zur Westbindung der Bundesrepublik. Diese Verlässlichkeit wurde lange als selbstverständlich betrachtet. Doch mit dem geopolitischen Fokus der USA auf den Indopazifik, wachsender innenpolitischer Polarisierung und schwindender Bereitschaft zu multilateraler Bindung zeigt sich: Europa kann sich nicht länger auf Amerika stützen.

Der Verlust dieses Bezugsrahmens hinterlässt ein kulturelles und politisches Vakuum. Deutschland muss sich neu verorten – normativ, strategisch und gesellschaftlich. Diese Destabilisierung ist zugleich eine Chance: für einen Reifeprozess, der Verantwortung nicht als Last, sondern als Gestaltungsmacht versteht. Das erfordert nicht nur außenpolitische Instrumente, sondern auch eine breite Debatte über Europas Rolle in einer konfliktreichen, multipolaren Welt. Das Friedensprojekt Europa braucht ein Update – als wertebasierte, aber strategisch orientierte Ordnungskraft im 21. Jahrhundert.

Deutschlands neue Rolle

Die wirtschafts- und finanzpolitischen Beschlüsse vom März diesen Jahres, getragen von einer verfassungsändernden Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, markieren einen tiefgreifenden Kurswechsel: Die Schuldenbremse wird gelockert, massive Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung und Verteidigung angekündigt. Damit verabschiedet sich Deutschland von der lange dominierenden Austeritätspolitik und bekennt sich zu einem aktiven, investierenden Staat in geopolitisch unsicheren Zeiten. Diese Maßnahmen sind mehr als haushaltspolitische Anpassungen – sie zeigen den Willen, Deutschlands Rolle im internationalen System neu zu definieren. Auch auf europäischer Ebene wird dieser Richtungswechsel als Zeichen wachsender Gestaltungsfähigkeit wahrgenommen.

Im Inneren deutet sich ein Paradigmenwechsel an: weg vom reaktiven Staat hin zu einem gestaltenden Akteur, der strukturelle Schwächen adressiert und Zukunftsfähigkeit durch strategische Investitionen sichert. Das eröffnet Chancen für eine neue deutsche Führungsrolle – vorausgesetzt, sie wird europäisch eingebettet. Nur durch koordinierte Investitionen, gemeinsame Industriepolitik und institutionelle Reform kann eine solche Rolle integrativ wirken. Der Green Deal, die Sicherheitsunion und die Reform des Stabilitätspakts sind zentrale Hebel für ein strategisch handlungsfähiges Europa – und Deutschland muss bereit sein, hier politische Initiative zu zeigen.

Europas Weg zu strategischer Autonomie

Strategische Autonomie ist seit Jahren Teil des europäischen Diskurses – ihre konkrete Umsetzung ist jedoch noch schwach ausgeprägt. Trotz hoher Verteidigungsausgaben fehlen der EU zentrale Strukturen: eine gemeinsame Eingreiftruppe, abgestimmte Rüstungsprojekte, vernetzte Nachrichtendienste und eine schlagkräftige Cyberabwehr. Projekte wie der digitale Euro oder die europäische Raumfahrtpolitik setzen wichtige Impulse, bleiben aber bislang isolierte Vorstöße.

Autonomie darf jedoch nicht rein institutionell gedacht werden. Eine zentrale Herausforderung liegt in der Abwehr hybrider Bedrohungen – vor allem aus Russland. Desinformation, Cyberangriffe und gezielte Sabotage gehören längst zum Arsenal dieser Einflussnahme. Kampagnen wie „Doppelgänger“, die mit gefälschten Medien Vertrauen und politische Stabilität untergraben sollen, verdeutlichen das Ausmaß. Deutsche Sicherheitsbehörden sprechen von einer dauerhaften Bedrohungslage.

Auch physische Angriffe auf Infrastrukturen – etwa auf Bahnlinien oder Energienetze – sind Teil einer Strategie, Europas Handlungsfähigkeit gezielt zu unterminieren. Der hybride Krieg ist Realität – und findet auf europäischem Boden statt. Strategische Autonomie heißt daher auch: Aufbau einer Sicherheitskultur, die digitale wie physische Angriffe ernst nimmt, demokratische Resilienz stärkt und Desinformation als sicherheitspolitische Herausforderung anerkennt.

Verlust und Transformation

Die gegenwärtigen geopolitischen und gesellschaftlichen Umbrüche spiegeln ein tiefer liegendes zivilisatorisches Muster wider. In seinem Buch 2024 erschienenen Buch „Verlust“ beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz die Ambivalenz der Moderne: Fortschritt, Innovation und Beschleunigung gehen mit dem Verlust von Stabilität, Tradition und kultureller Verankerung einher. Je dynamischer Gesellschaften werden, desto mehr geraten Routinen und Sicherheiten ins Wanken – Fortschritt bringt auch Entfremdung.

Diese Dynamik trifft heute besonders auf die geopolitische Ordnung zu. Jahrzehntelang garantierten Allianzen und internationale Normen ein Gefühl der Sicherheit – doch diese Ordnungen verlieren an Bindungskraft. Der Westen als Bezugsrahmen wirkt brüchig, der Verlust betrifft nicht nur Institutionen, sondern auch kollektive Orientierung.

Reckwitz fordert eine „Reparatur der Moderne“ – keinen Rückzug in die Nostalgie, sondern die bewusste Entwicklung von Strategien, um Unsicherheit zu bewältigen. Resilienz wird so zur Schlüsselkompetenz moderner Ordnungspolitik: nicht als Vermeidung von Krisen, sondern als Fähigkeit, mit ihnen produktiv umzugehen. Für Europa heißt das: Es geht nicht um die Rückkehr zu Blocklogiken, sondern um den Aufbau einer kooperationsfähigen, multipolaren Ordnung. Resilienz betrifft nicht nur Sicherheit und Wirtschaft, sondern auch Bildung, Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine demokratische Ordnung muss Fragmentierung aushalten können – ohne ihre Integrationskraft zu verlieren. Verlust wird so zum Ausgangspunkt eines neuen, anpassungsfähigen Selbstverständnisses.

Die neuen Zukunftsfragen

Vor dem Hintergrund all dieser Umbrüche  und „Verluste“ stehen Europa strategische und normative Zukunftsfragen ins Haus – weit über institutionelle Reformen hinaus. Gefragt ist politische Intelligenz im Umgang mit Unsicherheit, Machtverschiebungen und ökologischen Grenzen. Drei Leitfragen stechen dabei hervor:

  1. Wie kann Deutschland innerhalb der EU führen, ohne als dominierend zu gelten? Nötig ist ein kooperativer Führungsstil, der nationale Interessen mit europäischer Kohärenz verbindet.
  2. Wie lässt sich wirtschaftliche Souveränität sichern, ohne in Protektionismus zu verfallen? Strategische Industrien wie Halbleiter oder grüne Technologien müssen europäisch gefördert, aber in globale Regeln eingebettet werden.
  3. Wie gelingt gesellschaftlicher Umgang mit dem Verlust vertrauter Ordnungen, ohne in Reaktionismus zu verfallen? Eine resiliente Demokratie braucht Räume für Differenz, ohne ihre Integrationskraft zu verlieren.

Weitere Themen drängen: Wie schützen wir demokratische Prozesse im Zeitalter Künstlicher Intelligenz? Wie behaupten wir ökologische Transformation unter geopolitischem Druck? Und wie ersetzen wir das Wachstumsdogma durch nachhaltige Wohlstandsmodelle? Diese Fragen verlangen nach einem konflikttoleranten, interdisziplinären Politikstil. Und nach einer öffentlichen Kultur, die politische Differenz nicht als Gefahr, sondern als demokratische Ressource versteht.

Fest steht: Europas Zukunft entscheidet sich nicht allein in Verträgen – sondern im Mut, die großen Fragen unserer Zeit neu zu stellen.

Die Metastudie zur Omnikrise analysiert die verschiedenen Krisen unserer Zeit – und schaut „Beyond Crisis“: auf das, was nach den Krisen kommt. Denn der Epochenwandel braucht konstruktive Bilder von der Zukunft, um zu gelingen.

Radikale Zuversicht

Krisen, Kriege, Katastrophen überall … Warum geht es scheinbar mit der Zivilisation den Bach runter? Ein Grund für dieses erschöpfende Jahrzehnt ist, dass wir uns mitten in einem Epochenwandel befinden!

– Ein Auszug aus dem Buch „Radikale Zuversicht: Ein Handbuch für Krisenzeiten.“

von Lena Papasabbas

Illustration: Julian Horx

4. April 2025

Das Industriezeitalter stirbt und das nächste Zeitalter ist noch nicht geboren. Keine angenehme Phase, zugegeben. Es ist eine Zeit der Krisen, der Kriege, der Umbrüche, der wegbröckelnden Normalitäten: Die fossile Wirtschaft neigt sich dem Ende zu, das Wachstumsparadigma stößt an seine Grenzen, Geschlechterrollen und ihre einst Struktur-gebende Funktion verschwimmen, das System der Nationalstaaten gerät ins Straucheln. Und neben allem anderen mischen digitale Technologien unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Arbeitswelt weiter auf.

Alte Wahrheiten und Logiken funktionieren nicht mehr, ohne dass das neue Normal schon Kontur angenommen hat.

Doch die gute Nachricht ist: Ein neues Zeitalter steht vor der Tür. Und nicht selten bedeutet ein Epochenwandel einen kulturellen Evolutionssprung. Jetzt ist es an uns, diese Zukunft aktiv zu gestalten. Dafür müssen wir bei uns selbst anfangen. Denn nur wenn wir an eine bessere Zukunft glauben, können wir den Wandel in unserem Sinne gestalten.

Die Kraft der Zuversicht

Zuversicht ist unverzichtbar, um als Individuum und als Gesellschaft zu wachsen. Und sie ist die Basis von Zufriedenheit und Lebensqualität. Die Wirkung von Vorfreude, der kleinen Schwester von Zuversicht, ist gut erforscht. Sie wirkt, als würde das Gehirn von einem gewaltigen Cocktail an Drogen überflutet. Vor allem der Botenstoff Dopamin sorgt für gute Laune, Antrieb und Motivation. So kann die freudige Erwartung des anstehenden Urlaubs einen zur beruflichen Höchstleistungen animieren. Inzwischen ist belegt, dass Vorfreude sogar Stresshormone im Körper vermindert. Zuversicht stabilisiert also nicht nur die Laune, sondern auch die Gesundheit. Umgekehrt macht Pessimismus gestresst, müde und übellaunig.

„‚Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen‘, sagte der Fuchs. ‚Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, um so glücklicher werde ich mich fühlen.‘“

– Antoine de Saint-Exupéry

Ohne Zuversicht kein Fortschritt

Nicht nur das Mental Wellbeing des Einzelnen steht auf dem Spiel. Auch wie Gesellschaften funktionieren – oder eben nicht funktionieren – ist unmittelbar mit unserer Vorstellung von Zukunft verknüpft. Zukunftsangst ist die treibende Kraft für Populismus, Hass und Gewalt. Die geteilte Vision einer besseren Zukunft ist der Motor für Revolutionen, Aktivismus und Engagement.

Diese zwei Triebkräfte können über die kulturelle Evolution einer ganzen Gesellschaft bestimmen. Die anhaltende Rebellion der iranischen Bevölkerung gegen ihr Regime zeigt eindrücklich, welche Macht ein geteiltes Bild von einer besseren Zukunft entfalten kann. Trotz unmenschlicher Repressionen, überfüllter Foltergefängnisse und drohender Todesstrafe setzen sich Menschen für mehr Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ein. Der Glaube an eine mögliche, bessere Zukunft ist der größte Feind der Diktatoren und Autokraten.

Doch genauso stark wirkt sich das Fehlen von Zuversicht aus. Der Siegeszug von AfD, Trump und anderen Rechtspopulist:innen fußt auf Zukunftsangst. Nur wer mit Sorge ans Morgen denkt, fühlt sich von den rückwärtsgewandten „Great again“-Ideologien angezogen. Ohne Zuversicht kein Fortschritt.

Erst Zuversicht macht Menschen gut.

The Good Zone – Die Welt kann besser werden

von The Future:Project

28. August 2024

Kriege, Polarisierung, Hasskultur, Klimakrise. Die Zukunft sieht ganz schön düster aus. Manchmal fragen wir uns, kann eigentlich noch irgendwas die Zukunft retten? Wie ist das alles nur möglich, was uns jeden Tag verunsichert, ängstigt, irritiert, fertig macht?

Aber dann kippt etwas – und zwar innerhalb weniger Tage, wie zuletzt im US-amerikanischen Wahlkampf. Man nennt das einen „Semantic Shift“: Plötzlich sind Bedeutungen, die milliardenfach durch die Medien gegangen sind und sich in Abermillionen von Hirnen eingespeichert haben (Trump ist gefährlich, wir müssen uns fürchten, die Demokratie ist verloren, die Bösen gewinnen, man kann sowieso nichts machen…) umcodiert worden. 

Manchmal ist ein einziges Wort entscheidend, um diesen Tipping Point herzustellen. Weird. Durch diese Vokabel erscheint Trump plötzlich nicht mehr als der dämonische Deutungsmächtige, Gefährliche, Unaufhaltbare. Sondern als der verrückte alte Narzisst, der er tatsächlich ist. Nicht für alle, aber für immer mehr Menschen findet hier ein Abschied vom Dämonischen statt. Und das ist mit viel Lachen und Freude verbunden. 

Zuständig für diese erstaunliche Wandlung ist eine Zukunfts-Kraft, die sich spontan bilden kann, auch und gerade in einer Zeit der Omnikrise: Die Zuversicht. Während Hoffnung wartet, dass irgendwo „von oben” Erlösung kommt, ist die Zuversicht offen für das Staunen. Und im Staunen verwandeln wir uns selbst. 

Zukunfts-Momentum

Momentum. Das ist ein Moment, in dem sich die Dinge neu, zum Zukünftigen hin, zusammenfügen. In der Systemforschung nennt man das Emergenz. Die überraschende Fähigkeit von Individuen, Gruppen, Gesellschaften, Organisationen, Kulturen, sich plötzlich spontan und kreativ zu verwandeln. Man kann die Welt zum Leuchten bringen, wenn man ihre in die Zukunft gerichtete Komplexität versteht. Wie der Komplexitätsforscher Neil Theise, Professor für Pathologie, Zen-Schüler und  Pionier auf dem Gebiet der Plastizität adulter Stammzellen, in seinem Buch „Notes on Complexity” formulierte: „Komplexität hat das Potential, die ganze Welt von einer Wolke der Möglichkeiten  in eine andere zu schieben.” 

Um unser inneres Zukunftsmomentum zu finden, sollten wir zunächst unsere Mediengewohnheiten überprüfen. Was lesen wir, was sehen wir, was nehmen wir von der großen Welt um uns herum tatsächlich wahr? In einer Zeit, in der die Medien zu Verstärkern von Erregungen geworden sind, ist das eine entscheidende Frage. Wir alle leben inzwischen in einer kognitiven Blase, in der das Negative, Unlösbare überwiegt, einfach weil es mehr Aufmerksamkeit erregt. Das heißt nicht, dass das Schlechte nicht existiert. Aber wir werden es nur vom Besseren aus verändern können.

Das Gelingende wird ausgeblendet. Aber steht es wirklich so schlecht um unsere Welt? Geht wirklich alles den Bach herunter, auf unserem Planeten? Wir haben eine kleine Auswahl von Zuversichten zusammengestellt: Narrative, Fakten, Trends und Geschichten über unsere Welt, in denen das Bessere aufscheint. Das Momentum, in dem die Welt sich verwandelt.

1. Die Wale kehren zurück

Nach Jahrzehnten des Walfangs erholen sich die Bestände vieler Walarten wieder. Besonders erfreulich ist die Nachricht, dass die Population der Buckelwale in der Cumberland Bay auf den Südgeorgischen Inseln fast wieder auf das Niveau von 1904 angestiegen ist. Diese Entwicklung zeigt, dass Naturschutzmaßnahmen tatsächlich wirken und die Natur sich erholen kann. Ein Wal bindet während seines Lebens die gleiche Menge Kohlenstoff wie tausend Bäume. Das heißt, durch die Wiederherstellung der Walpopulation kann auch das Ökosystem der Meere wiederhergestellt und die Folgen des Klimawandels abgemildert werden.  

2. Das Solarzeitalter hat begonnen

Die Kosten für Solarenergie sind in den letzten Jahren dramatisch gesunken – allein von 2010 bis 2022 um fast 90 Prozent. Dies hat die Solarenergie zur günstigsten Stromquelle weltweit gemacht. Länder wie China, die USA und Indien investieren massiv in erneuerbare Energien, was den globalen CO2-Ausstoß langfristig reduzieren könnte.

3. Bildung wird zum Allgemeingut

Die Alphabetisierungsrate weltweit ist beeindruckend gestiegen. 1980 konnten etwa 68 Prozent der Weltbevölkerung lesen und schreiben, heute sind es 87 Prozent. Der Trend geht ganz klar in Richtung mehr Zugang zu Bildung für alle.

4. Der Hunger wird enden

Dank globaler Initiativen und struktureller Veränderungen ist ein Ende des Hungers in Sicht. Organisationen wie die „World Central Kitchen“ leisten unermüdliche Arbeit, um Menschen in Not mit frischen Mahlzeiten zu versorgen. Diese und andere Maßnahmen könnten dazu führen, dass Hunger in naher Zukunft weltweit der Vergangenheit angehört.

5. Gender Shift: Gleichberechtigung kommt

Immer mehr Frauen sind in Parlamenten vertreten, und die Rechte queerer Menschen verbessern sich weltweit. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Anteil weiblicher Abgeordneter stetig erhöht, und zahlreiche Länder haben Gesetze verabschiedet, die die Rechte von LGBTQ+ Menschen stärken.

6. Das Comeback der Wälder

Wälder auf der ganzen Welt erholen sich. So gibt es heute in den USA mehr Bäume als vor 100 Jahren. Initiativen wie Plant for the Planet pflanzen Millionen Bäume weltweit, was nicht nur zur Bekämpfung des Klimawandels beiträgt, sondern auch Lebensräume für unzählige Arten wiederherstellt.

7. Die Welt wächst zusammen

Globalisierung und technologische Fortschritte haben die Welt näher zusammengebracht. Internationale Kooperationen und Initiativen fördern den Austausch von Ideen und Ressourcen, was zu einer besseren Bewältigung globaler Herausforderungen führt. In einer globalen Umfrage in 18 Ländern gab etwa die Hälfte der Befragten an, sich eher als Weltbürger:innen zu fühlen, denn als Bürger:innen ihrer Nation.

8. Hitze wird handlebar

Innovative Lösungen helfen, mit extremer Hitze umzugehen. So entstehen etwa Gebäude, deren Fassaden nach dem Vorbild von Elefantenhaut gebaut werden, um die Hitze abzuhalten. In Afrika wächst ein Baumgürtel, der die Ausbreitung der Wüste aufhalten und das Klima stabilisieren soll.

9. The Good Zone: Die Welt kann besser werden

Es gibt immer mehr Plattformen, die konstruktive Nachrichten verbreiten und positive Entwicklungen in den Vordergrund stellen. Portale wie „Reason to be Cheerful“ oder „Positive News“ zeigen, dass es zahlreiche Gründe gibt, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Welche Transformationen führen uns aus der Krise? In unserer neuen Meta-Studie „Omniskrise“ zeigen wir weitere konstruktive Wege in die nächste Gesellschaft auf.

Wie gelingt Transformation im 21. Jahrhundert?

Transformation ist das Thema unserer Zeit – und zugleich so voraussetzungsreich wie nie zuvor. Wie kann systemischer Wandel in der nächsten Gesellschaft gelingen? Ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Future:Transformation“.

von Christian Schuldt

27. Juni 2024

Das Zeitalter der Transformation

Im 21. Jahrhundert befindet sich die Weltgesellschaft im größten Umbruch seit der Industrialisierung. Der Übergang in die „nächste“, vernetzte Gesellschaft, sowie die große Transformation von der fossilen zur postfossilen Gesellschaft sind in Ausmaß und Intensität vergleichbar mit den beiden früheren fundamentalen Transformationsprozessen der Menschheitsgeschichte: der Neolithischen Revolution, die Ackerbau und Viehzucht weltweit verbreitete, und der Industriellen Revolution, die den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft markierte.

Allerdings ist der Epochenwandel unserer Zeit auch ein historisches Novum. Resultierten die vorigen Umbrüche jeweils aus einem allmählichen evolutionären Wandel, angetrieben durch neue technologische und ökonomische Möglichkeiten, herrscht heute ein akuter Veränderungsdruck. Die Vielzahl globaler systemischer Krisenphänomene, allen voran die Klimakrise, führt in eine „Omnikrise. Sie macht klar, dass wir die Aufgabe haben, einen fundamentalen Systemwandel zu gestalten. Deshalb ist Transformation das Thema unserer Zeit. 

Zugleich sind die Startbedingungen für das Angehen dieser systemrelevanten Veränderungen heute komplexer als je zuvor. Denn die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts steht geradezu sinnbildlich für Unplanbarkeit: Die alten Vorstellungen von Eindeutigkeit und Steuerbarkeit, die noch bis ins späte 20. Jahrhundert galten, werden unter vernetzten Vorzeichen obsolet. Langfristig stabile oder verlässlich berechenbare Strukturen lösen sich auf. Die Netzwerkgesellschaft ist im Kern volatil und unsicher.

Die zentralen Zukunftsfragen lauten daher: Wie ist Transformation unter hochgradig komplexen und vernetzten Bedingungen überhaupt möglich? Und wie können wir (wieder) zu aktiven Gestalter:innen der Zukunft werden, anstatt Veränderung passiv zu erdulden oder uns reaktiv an den Wandel anzupassen?

Die Kraft der Imagination

Auch – oder sogar: gerade – unter digitalisierten Vorzeichen gilt: Transformation lebt im Kern von der Aktivierung menschlicher Vorstellungskraft. Das zentrale Tool für Transformation sind deshalb nicht Daten – denn sie können stets nur aussagen, was in Bezug auf bestimmte Parameter passieren wird. Dieses lineare Denken hilft nicht weiter, wenn es darum geht, neue Perspektiven zu eröffnen auf das, was Menschen bewirken können. Erst die Kraft der Imagination lässt Wandel zur Befreiung werden. Entscheidend für den Willen zur Veränderung, für die Lust auf Transformation, ist der Glaube an die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Und die praktische Erfahrung von Veränderung – nicht als passives Adaptieren, sondern als aktives Kreieren.

Transformation geschieht deshalb immer menschengeleitet, in Form einer erhöhten Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit. Und: nie zentral gesteuert und top-down, sondern „verstreut“. Um transformative Kräfte zu entfalten, braucht es deshalb vor allem wirksame Motive und Anregungen zum Verlassen des Status quo. Die Transformabilität (transform ability) eines Systems wird also nicht von effizient gestalteten Strukturen und Technologien bestimmt. Sondern: von richtungsweisenden Begründungen, mit denen Menschen Technologien und Institutionen kreieren, erzählen, verbreiten.

Lernende Systeme

Insgesamt erfordert die Komplexität heutiger Krisen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in unserem Transformationsverständnis: weg von einem Denken in linearen Phasen, das im Kern noch immer der alten „Change“-Idee verhaftet ist, hin zu einem komplexeren, evolutionären Zugang, der Transformation als fortwährendes Erschaffen und Etablieren systemrelevanter Elemente und Zusammenhänge begreift. 

Eine Theorie der Transformation kann nur dann zukunftsweisend sein, wenn sie Veränderung als nichtlinearen Verlauf versteht, in dem der Auf- und Ausbau des Neuen stets parallel zum Bewahren und Verabschieden des Alten entwickelt wird. Wandel ist also immer ein Lernprozess, der auch das Ver-lernen beinhaltet: das Verabschieden von Denk- und Handlungsweisen, die sich nicht (mehr) bewähren. In diesem Sinne ist transformatives Lernen immer Erfahrungslernen. Es folgt keinem vermeintlich perfekten Plan, sondern oszilliert permanent zwischen Noch-nicht-ganz-Verstehen, Etwas-besser-Verstehen und Weiter-Probieren. 

Die Grundlage für dieses dynamisch-nichtlineare Verständnis von Veränderung ist ein Transformation Mindset, das Wandel als Konstante betrachtet – und immer auch als Chance. Diese Perspektive prägt auch das Transformationsmodell des Future:Project, das Wheel of Transformation.

Wege aus der Omnikrise

Sechs Denkanstöße für ein besseres Morgen

Wir stecken mitten in der Krise, sogar in der Omnikrise: das heißt, die verschiedenen Krisen unserer Zeit überlappen und verbinden sich zu einem komplexen, unübersichtlichen Geflecht. Anders gesagt: Das System krankt im Ganzen. Der Grund dafür ist ein Epochenwandel: Wir befinden uns als Gesellschaft in der unangenehmen Übergangsphase zwischen zwei Zeitaltern.

von Lena Papasabbas

23. April 2024

Das alte Normal löst sich auf, und das neue Normal ist nur eine leise Vorahnung am Horizont. Zu viel Wandel auf einmal wirkt lähmend. Deshalb fühlen sich so viele Menschen gerade so unheimlich erschöpft. Wir befinden uns in einem kollektiven Veränderungs-Burnout. Rückzug und Nostalgie wirken attraktiv, als Ausweg, sich einfach von der anstrengenden Welt abzuwenden. Doch um den Wandel in unserem Sinne zu steuern und zu gestalten, brauchen wir eigentlich genau das Gegenteil: Menschen, die sich der Zukunft proaktiv zuwenden. 

Um der überbordenden Komplexität der Welt wieder etwas abgewinnen zu können, hilft es, die Krisen als Möglichkeiten zu begreifen: als ein Aufbrechen alter Strukturen, das uns die Chance gibt, neu zu denken und zu handeln. Ebenso wichtig ist der Glaube daran, dass die neue Realität eine bessere sein könnte, als wir es uns aktuell vorstellen können.

Dafür ist es essentiell, die Pfade in eine bessere Zukunft zu sehen, die es heute schon gibt und die sich zu beschreiten lohnen. In unserer Metastudie Die Omnikrise haben wir sechs dieser möglichen Pfade aus der Krise beschrieben. Hier fassen wir sie in sechs Denkanstößen zusammen, die helfen, unsere Köpfe zu öffnen – indem sie aufzeigen, welche konstruktiven Meta-Lösungen uns in eine bessere Gesellschaft führen könnten.

1. Wohlstand neu denken

Ein Riesenproblem unserer Wirtschaft, Arbeitswelt und Kultur ist das Wachstumsparadigma. Um das ständige Streben nach Mehr loszulassen, ist es eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, Wohlstand umzudeuten: Statt materielle Statussymbole anzuhäufen und vom nächsten Bali-Urlaub zu träumen, während man voll im Hamsterrad steckt, muss Wohlstand umdefiniert werden. Zeitwohlstand lautet das Zauberwort: Weniger Arbeit, weniger Konsum und dafür mehr Lebensqualität und Zeit für das, was wirklich zählt.

Progressive Konzepte wie das bedingungslose Grundeinkommen kündigen bereits einen Paradigmenwechsel an. Degrowth und Postgrowth-Unternehmen experimentieren schon mit Business-Modellen, die nicht (nur) Profitmaximierung zum Ziel haben. Manche Staaten lösen sich auch vom Bruttoinlandsprodukt als alleinigem Wohlstandsindikator – Bhutan rückt beispielsweise das Wachstum von Glück in der Bevölkerung in den Fokus. Auch im Alltag lassen sich immer mehr minimalistische Lebensstile und Entschleunigungstendenzen beobachten. Viele mutige Ideen sind bereits vorhanden. Es lohnt sich, sie ernst zu nehmen: Eine neue Definition von Wohlstand könnte mehr Lebensqualität für alle bedeuten.

2. Bürgertum statt Konsumismus

Die Krise der Demokratie kann nur überwunden werden, wenn wir die Erwartungs- und Forderungshaltung gegenüber der Politik loslassen und uns wieder als aktiven Teil des demokratischen Geschehens verstehen. 

Aktuell ähnelt die Haltung vieler Menschen gegenüber den Politiker:innen der von Konsumierenden: An die Politik werden Forderungen gestellt, sie muss liefern und man selbst ist Nutznießer:in – oder eben nicht. Konsumierende haben ein völlig anderes Mindset als Bürgerinnen und Bürger, die sich als Teilhabende der Gesellschaft verstehen, Verantwortung tragen für das Gemeinwesen und ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen wollen.

Um wieder mehr Menschen dazu zu bewegen, sich selbst als Teil einer lebendigen Demokratie zu verstehen, brauchen wir einen Bewusstseinswandel im politischen System: die Erkenntnis, dass soziale Kräfte nur dann freigesetzt werden können, wenn entsprechende Handlungsspielräume bestehen, innerhalb derer sich bürgerliches Engagement überhaupt entfalten kann. Zentral sind Räume der Teilhabe, die mehr Bürgerbeteiligung und Austausch ermöglichen. Volksbegehren oder Bürgerräte können hier ein Hebel sein, aber auch die Wiederentdeckung von Losdemokratie birgt viel Potenzial für eine Wiederbelebung der Bürger:innen-Demokratie.

3. Denken im Plussummenspiel

Die kollektive kognitive Leistung in Richtung einer besseren, einer wohlwollenden und toleranten Gesellschaft besteht darin, das Denken in Nullsummenspielen zu verlernen. Also das Denkmuster „Was ich bekomme, wird jemand anderem genommen” und umgekehrt. „Wenn ein Mensch reicher wird, muss ein anderer ärmer werden.“ „Wenn Geflüchtete gut versorgt werden, geht das auf Kosten der Einheimischen.“ „Wenn die Kollegin eine Gehaltserhöhung erhält, bleibt für mich weniger übrig.”…

Diese Denkmuster haben ihren Ursprung im Wettbewerbsprinzip des Kapitalismus und sind dementsprechend weit verbreitet – doch sie schaden dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn das Nullsummen-Denken erodiert eine europäische Kultur, in der eigentlich humanistische Werte dominieren (sollten) – und bildet den kognitiven Nährboden für Nationalismus, Populismus und rechte Gewalt.

Statt in Nullsummenspielen können wir aber trainieren, wieder in Plussummenspielen zu denken. Plussummenspiele erzeugen Fortschritt, indem dem bereits Vorhandenen ein „Bonus“, ein „reales Plus“ hinzugefügt wird. Wenn Nationen, Firmen oder Menschen miteinander handeln, kann – sofern ein fairer Markt existiert – eine wechselseitige Gewinnsituation entstehen. Wenn Menschen eine Familie bilden, entsteht ein reproduktiver Überschuss. Fortschritt entsteht durch gelungene Kooperationen.

4. Kulturelle Evolution statt Technologismus

Die schlechte Nachricht: Die Künstliche Intelligenz wird uns nicht alle retten. Die gute Nachricht: Wir haben bereits alle Technologien, die wir brauchen, um viele große Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. 

Ein Beispiel: Die Verkehrswende braucht keine weitere technologische Innovation, keine Flugtaxis, keine Smart Cities, keine autonomen Autos. Alles was wir brauchen, um die Städte wieder lebenswerter und nachhaltiger zu gestalten, sind soziale Innovationen. Weg vom Auto als Statussymbol, hin zum Prinzip „Nutzen statt Besitzen“. Weniger Produktion von Vehikeln, mehr Mobility as a Service. Mit Öffis, Fahrrädern, E-Bikes, ein paar Elektroautos und der digitalen Infrastruktur ist bereits alles vorhanden, was nötig ist, um urbane Räume umzugestalten. 

Zentral ist die Aufgabe, neue Kulturtechniken einzuüben, neue Wertesysteme zu etablieren und in der Stadtplanung konsequent an einer menschen- statt autogerechten Stadt zu arbeiten.

Wir haben uns als Gesellschaft einen regelrechten Innovationsfetisch angeeignet, der für jedes Problem eine Lösung in der Technologie sucht. Wir müssen weg von diesem blinden Innovationismus, der auf Technologie als Allheilmittel setzt und hin zu einem Fokus auf kultureller Evolution. Denn ein Großteil der Strukturen,Technologien und Rahmenbedingungen für soziale Innovationen, die uns in eine bessere Zukunft führen können, sind bereits vorhanden.

5. Glokalisierung

Glokalität statt Globalisierung: Dieses scheinbar triviale Prinzip des Re-Integrierens von lokalen Ressourcen, Expertisen, Strukturen in globalisierte Systeme kann uns eine Menge Probleme vom Hals schaffen, die die entartete Globalisierung hervorgebracht hat. Die Krise traditioneller Lieferketten hat uns die Verletzlichkeit  weltweit verzweigter Lieferkettensysteme vor Augen geführt, die wie Lebensadern globalisierter Gesellschaften fungieren. 

Das Prinzip der Glokalisierung beschreibt ein notwendiges Umdenken: Wertschöpfung und Profitmaximierung dürfen nicht mehr die alleinigen Richtwerte von internationalen Produktionsnetzwerken sein, die in erster Linie die Versorgung der Gesellschaft mit notwendigen Gütern sicherstellen sollen. Faktoren wie Resilienz, Qualität und Nachhaltigkeit müssen in Zukunft gleichberechtigte Ziele dieser Prozessen sein – indem sie das Lokale wieder aufwerten.

Das funktioniert, indem regionale Handelsbeziehungen wieder zu wichtigen Bestandteilen von Produktionsnetzwerken werden, die ebenso für Stabilität und Sicherheit sorgen wie vergrößerte Materialreserven. Lokale Rohstoffalternativen können den globalen Handel ergänzen und durch Diversifizierung starke Abhängigkeiten reduzieren. Egal, ob es um Strom, Lebensmittel oder Möbel geht: Das Prinzip der Glokalisierung bindet überall dort, wo es Sinn macht, wieder lokale Produzenten, Ressourcen und Netzwerke ein.

6. Positive Zukunftsbilder statt Weltuntergangsszenarien kultivieren

Die Aussicht auf die ökologische Katastrophe als neue bedrohliche Mega-Erzählung schwebt aktuell über allem menschlichen Tun. In diesem Narrativ ist der Mensch nur noch ein Schädling, der die Umwelt und damit die eigene Lebensgrundlage zerstört. Die Horrorszenarien von aussterbenden Arten, Kriegen um verbleibende Ressourcen, überschwemmten Städten, gigantischen Flüchtlingsströmen und Naturkatastrophen kennt inzwischen jedes Kind – positive Zukunftsbilder einer lebenswerten Zukunft dagegen sucht man vergebens. 

In der Omnikrise ist es schwerer geworden, an die gute Zukunft zu glauben. Medien versorgen uns im Sekundentakt mit neuen Negativschlagzeilen. Dabei birgt gerade die Zukunftserzählung eines besseren Verhältnisses von Mensch und Umwelt das Potenzial eines neuen Super-Narrativs. Erst eine überzeugende Vision einer positiv aufgeladenen ökologischen Zukunft, die sozial gerecht ist und hohe Lebensqualität für alle bedeutet, mobilisiert und motiviert, die vielen kleinen und großen Schritte anzugehen, die uns in diese Zukunft bringen könnten.

Diese Vision darf allerdings kein „Zurück“ in ein vermeintlich harmonisches Gestern bedeuten, in dem wir alle in Lehmhütten leben und unser eigenes Gemüse anbauen. Was wir brauchen ist eine kreative Rekombination von vorhandenen technologischen, sozialen und naturwissenschaftlichen Ressourcen zugunsten eines ganzheitlich-systemischen Wandels.

Die gute Zukunft

Eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Zukunft ist ein global geteiltes Anliegen, das uns als Gesellschaft einen neuen Richtungssinn, ein Zukunftsbild geben kann – und uns dadurch handlungsfähig macht.

Um die gute Zukunft wieder spürbarer und sichtbarer zu machen, ist es nützlich, bereits vorhandene Transformationen zu erkennen, die in eine nächste, bessere Gesellschaft führen können. Im Future:Project haben wir uns der transformativen Zukunftsforschung verschrieben, die genau diese konstruktive Entwicklung fördert – indem sie wünschenswerte Zukünfte systematisch beschreibt und greifbar macht.

Die Omnikrise

Die Welt wird immer dunkler und düsterer, die Zukunft der Menschheit ist in Gefahr, eine Krise folgt der anderen und lässt uns im Nebel der Zukunftsdepression zurück … Aber stimmt das wirklich? Warum Krisen immer auch im Kopf stattfinden – und wie Krise und Wandel zusammenhängen.

von Matthias Horx

22. März 2024

Zweifelsohne haben wir es heute mit sich überlagernden Krisenphänomenen zu tun: Krisen der Globalisierung, Krisen der Umwelt, Krisen der Gesellschaft, der Demokratie, der Technologie. Aber die wahre Krise unserer Zeit ist eine Wahrnehmungs- und Kognitionskrise. Die Hypermedialisierung durch Internet und Künstliche Intelligenz führt zu einer kollektiven Hysterisierung von Wahrnehmungsformen, in denen sich auch normale oder harmlose Phänomene gegenseitig aufschaukeln, verselbstständigen und ins Monströse wandern.

All das wird umspielt vom Zerfall eines übergreifenden Zukunftsnarrativs, das die letzten Epoche geprägt hat: der Idee eines kontinuierlichen und linearen Fortschritts. Auf diesem Fortschrittsbild eines „Immer mehr“ basieren unsere kulturellen, politischen, gesellschaftlichen Frames, unsere sozio-mentalen Selbstgewissheiten.

Die Enttäuschungskrise

Die Omnikrise ist deshalb vor allem eine Erwartungs- und Enttäuschungskrise. Sie entsteht aus einer kognitiven Dissonanz – zwischen dem, was wir (für die Zukunft) erwartet haben, und dem, wie uns die Welt in ihren realen Phänomenen tatsächlich gegenübertritt.

Die meisten Phänomene, die uns heute in eine apokalyptische Verzweiflungsstimmung bringen, gab es eigentlich immer schon. Mörderische Kriege, Ungerechtigkeiten, Naturzerstörungen und großflächiger, bedrohlicher Wandel sind nichts Neues. Nur: Wir haben es anders erwartet. Das Narrativ des ständigen Fortschritts hat uns Glauben gemacht, alles würde automatisch immer besser. Und alle würden davon profitieren. 

Wir sind enttäuscht, dass es nicht so weiterging mit dem Fortschritt, den Wohlstands- und Komfortabilitätsgewinnen. Das war unser Glaube der vergangenen Jahrzehnte. Und wie jeder Glaube wird er irgendwann zum Fanatismus. Der Fanatiker ist so von einer Annahme überzeugt, dass Scheitern unvermeidbar wird. 

Es ist schwierig, sich von solchen Erwartungsnarrativen zu verabschieden. Wenn unser Gehirn sich einmal auf ein bestimmtes Zukunftsbild eingelassen hat, seine inneren Strukturen daran adaptiert hat, dann ist es kaum davon abzubringen. Der Expectation Bias, die Erwartungsverzerrung führt dazu, dass wir abweichende Informationen erst lange ignorieren. Und sie dann mit allen Mitteln bekämpfen. Aus Ignoranz wird dann Dissonanz, weil Akzeptanz das Eingeständnis einer kognitiven Niederlage wäre.

Enttäuschungen können zu zweierlei führen:

  • Zu Verbitterung, Angst und Aversion. Zur Verweigerung des Wandels, der nötig ist, um die Krise zu überwinden. Zu einer krisenhaften Erstarrung.
  • Oder zu einer Revision unserer Ansprüche. Einem Wandel der Sichtweisen. Der Auflösung der normativen Kriterien, mit denen wir die Welt betrachten. Zu einer Transformation unseres Welt-Verhältnisses.

Die produktive Desillusionierung

Krisen zwingen uns – wollen wir nicht in ihnen verkümmern –, unsere Illusionen loszulassen. Das fällt immer schwer, es kann aber auch befreiend wirken: Aus der Zukunft gesehen ist es eine Befreiung aus der Enge falscher Erwartungen, an denen wir kleben wie eine Fliege am Leim. Die Kraft der Krise zu nutzen, als Energie für Wandel, das ist das Geheimnis des Fortschritts. So ist die menschliche Kultur immer vorangeschritten – durch schreckliche Krisen hindurch, hin zu wahrhaft Neuem und Besserem. 

Die Renaissance, die Aufklärung, der Beginn des Wohlstands, die Emanzipationen der Gesellschaft. Alles verlief nach dem Schema der „produktiven Desillusionierung”. Die Krise, die uns zeigt, dass es so nicht weitergeht, ist eine  Aufforderung und Ermutigung zum Wandel. Wenn wir die Augen auf diese Weise öffnen, sehen wir, dass die Lösungen schon in der Gegenwart latent vorhanden sind. Und dass man die Welt nicht radikal ändern oder untergehen lassen muss. Sondern nur auf kreative Weise neu zusammensetzen. Der Wandel beginnt im Inneren.

Omnikrise und Wandel

Eine Krise wird zum Wandel, wenn wir die Angst vor dem Selbstwandel überwinden.

„Veränderung entsteht nicht durch Wandel, sondern Wandel entsteht durch Veränderung“, formulierte der Soziologe Armin Nassehi. In diesem seltsamen Satz steckt eine nüchterne Erkenntnis: „Change“-Parolen, die man häufig in Unternehmen, politischen Parteien oder öffentlichen Diskursen hört, rechnen nicht mit den Energien von Krisen. Individuen, Systeme, Unternehmen, Gesellschaften ändern sich kaum, wenn alles komfortabel ist. Wandel geschieht eher, wenn wir auf äußere Veränderungen reagieren – sprich: auf Krisen eine Antwort finden.

Die menschliche Grundkompetenz ist nicht stetiger Wandel. Warum auch? Warum sollten wir das Funktionierende nicht beibehalten, das Existierende belassen? Unsere Grundkompetenz ist Adaption. Eine Krise wird zum Wandel, wenn wir die Angst vor dem Selbstwandel überwinden. Wenn wir endlich aufhören, zu jammern und uns ständig darüber zu beschweren, was die Welt uns zumutet.

Webinar zur Omnikrise

Wie können wir durch Krisen Zukunft gestalten? Matthias Horx setzte im Webinar zu Omnikrise am 23.05.2024 die aktuellen Krisengeschehnisse rund um Klima-, Migrations- und Energiekrise, Kriege, Pandemien und Artensterben in einen neuen Rahmen und fragte: Welcher rote Faden durchzieht die multiplen Krisen unserer Zeit? Und was passiert „beyond crisis“?

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Webinar Omnikrise Horx