Das Ende der Innovation

Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, Brücken sind marode, das WLAN funktioniert nicht. Service-Chatbots treiben uns in den Wahnsinn. Social-Media-Plattformen verkommen zu Generatoren von Hass, Spaltung und Fake News. Und das Passwort fürs Online-Banking haben wir schon wieder vergessen…

von Lena Papasabbas

16. Januar 2025

Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus wenig vertrauenserweckenden Informationsströmen, KI-generiertem Contentbrei und umständlichen Login-Prozessen verwandelt. Statt unsere Lebensqualität zu erhöhen, versuchen wir, uns mit Digital Detox, Offline-Zeiten und reduzierter Bildschirmzeit aus den digitalen Zeitlöchern zu kämpfen und ein bisschen analoges Leben zu retten.

Und dabei leben wir doch im “Zeitalter der Innovation“. So jedenfalls tönt es auf allen Business-Konferenzen und von allen Tech-Giganten. Eine Geschichte, die so oft wiederholt wurde, dass alle sie irgendwie glauben. Sie zu hinterfragen, wäre geradezu peinlich. Man möchte ja nicht von gestern sein. Und schließlich haben wir alle schon beeindruckt mit ChatGPT geplaudert. Was aber, wenn das Narrativ vom rasenden Innovationszeitalter völlig übertrieben ist?

Klar, künstliche Intelligenz kann in datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber nehmen wir einmal an, all die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – KI, Quantencomputer, supersmarte Glasses und Watches – wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme.

Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.

Innovationen überall

Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Buch The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation – weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit und Wachstum – aber kaum jemand ist wirklich innovativ.  Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Das führt über kurz oder lang zu Enttäuschung, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen. 

Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie ist oft leise und entwickelt sich graduell – und nicht mit einem großen Knall. Echte Innovation verbessert unser Leben, statt es noch komplizierter zu machen.

Die Welt, in der wir leben, funktioniert nicht dadurch, dass wir ständig neue Dinge erfinden, sondern zu einem großen Teil durch Erhalt, Wartung, Pflege und Integration langsamer Verbesserungen.

Das Neue als das Bessere

Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere.

Wir waren lange geblendet von einem nie dagewesenen Hype um Innovation. Doch inzwischen sind wir innovationsmüde. Heute stehen wir da, mit all unseren schönen neuen Gimmicks und Gadgets. Und wundern uns, dass in dieser schönen neuen Technikwelt nichts mehr so richtig funktioniert. Nicht nur für uns persönlich. Auch gesamtgesellschaftlich scheint es überall zu bröckeln.

Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz geworden sind. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in  „Technolutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“. Statt uns als Gesellschaft zu dienen, hat der Hype um Innovation also vor allem dem Wachstumskapitalismus als Hebel genutzt, um uns zu immer besseren Konsument:innen zu machen.

Stabilität statt Innovation

Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit Systemwissen, Pflegekräfte, Putzkräfte, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter schlechtem Image. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern “nur” die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.

Menschen, die dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Doch die entscheidenden Innovationsfelder der Zukunft liegen weder im Hightech noch auf dem Mars.  Sie liegen in scheinbar profanen Dingen wie Krankenpflege, Bildungswesen, Infrastrukturen, verlässlicher Logistik und Transport, Gastfreundschaft und funktionierender Zwischenmenschlichkeit.

Infrastrukturen der Transformation

Infrastrukturen bilden das unsichtbare Gewebe, das die Gesellschaft zusammenhält. Sie sind das stille Fundament, auf dem unsere Lebensweisen, unsere Ökonomien und auch unsere Zukunftsvorstellungen ruhen. In einer Zeit, die von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt ist, treten sie aus ihren Schatten – und offenbaren sich als zentrale politische Frage der nächsten Gesellschaft.

Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Jonas Höhn

7. November 2024

Symbolbild Infrastruktur

Blickt man auf die maroden Brücken, Straßen und Schienen, die sich durch unsere Landschaften ziehen, auf veraltete Schulgebäude, überlastete Krankenhäuser, lästige Funklöcher und stockende Internetverbindungen, dann offenbart sich eine unangenehme Wahrheit: Die Infrastruktur, die einst die Grundlage für unseren Wohlstand und den Fortschritt bildete, ist brüchig geworden.

Die Defizite unserer Infrastrukturen spiegeln eine Gesellschaft wider, die sich noch immer schwertut, den tiefgreifenden Wandel, den unsere Zeit erfordert, aktiv anzugehen. Klimawandel, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Ungleichheit im Zugang zur Gesundheitsvorsorge, Herausforderungen im Bildungswesen oder in der Mobilität: All dies sind Symptome einer systemischen Krise. Und: einer Weigerungshaltung, Infrastrukturen neu zu denken und zu gestalten – als Schlüsselfaktor einer lebenswerten Zukunft.

Kollektive Praktiken, zum Beispiel im Konsum- oder Mobilitätsverhalten, lassen sich über Infrastrukturen erheblich wirksamer verändern, als individuelle Anstrengungen es je erlauben würden. Infrastrukturen sind daher ein mächtiges Werkzeug für gesellschaftliche Transformation: Als „vorausschauende Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“ (Maja Göpel) haben sie das Potenzial, den Wandel der Gesellschaft auf einen konstruktiven Pfad zu leiten. 

Das Erbe der Infrastrukturen

Infrastrukturen sind weit mehr als nur physische Konstruktionen aus Beton oder Stahl. Sie sind Manifestationen der gesellschaftlichen Paradigmen und Lebensweisen ihrer Zeit: Ausdruck der Art und Weise, wie wir wirtschaften, uns fortbewegen oder auch mit der Natur interagieren. Doch was vor 50 Jahren noch als Fortschritt galt, kann heute zum Hindernis werden. Die Infrastrukturen, auf die wir uns gegenwärtig verlassen, stammen oft aus Zeiten, die von anderen wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Realitäten geprägt waren. Diese gebauten Umwelten tragen die strukturellen Fundamente vergangener Gesellschaften in unsere Gegenwart hinein.

So wirken die Kupferkabel, die einst die Internetrevolution ermöglichten, plötzlich wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit – und sorgen nicht selten für Frust. Öl- und Gaspipelines erinnern uns schmerzhaft daran, wie abhängig wir uns von autokratischen Regimen gemacht haben. Und abgeschaltete Kohlekraftwerke zeugen von den hohen Kosten der Aufrechterhaltung eigentlich überholter Systeme. Was einst als unverzichtbar galt, wird nun immer häufiger störanfällig, ineffizient oder gar obsolet. Doch die tiefen Pfadabhängigkeiten, die diese Infrastrukturen erzeugen, machen es schwer, neue Wege zu beschreiten.

Den Weg für die Zukunft ebnen

Symbolbild Infrastruktur Brücken

Angesichts der Defizite in der Zukunftsfähigkeit unserer Infrastruktursysteme deutet sich die Notwendigkeit für ein neues infrastrukturelles Paradigma an. Die Infrastrukturen der Transformation gehen über die bloße Reaktion auf Krisen hinaus und richten sich auf eine transformative, zukunftsgewandte Gestaltung unserer Lebenswelt. Um den Modus des Reagierens zu verlassen, in dem wir der Zukunft immer einen Schritt hinterherhinken, müssen wir Antworten auf eine fundamentale Frage finden: Wie soll die „nächste Gesellschaft“ aussehen – und welche Infrastrukturen brauchen wir, um den Weg dahin zu ebnen?

Ausgehend von konstruktiven Zukunftsimaginationen können wir entscheiden, welche bestehenden Infrastrukturen so elementar sind, dass sie erhalten und gepflegt werden müssen – und welche neuen Infrastrukturen wir für unsere zukünftigen Bedürfnisse schon heute errichten müssen. Infrastrukturen der Transformation erfordern daher im Kern eine mutige und antizipative Vorgehensweise, die aktiv auf erwünschte Zukünfte zugeht. Sie entfalten ihre Wirkung in allen sechs großen Transformationen unserer Zeit:

Human Digitality

Conscious Economy

Co-Society

Mindshift Revolution

Glocalisation

Eco Transition

Infrastrukturen für die nächste Gesellschaft

Infrastrukturen der Transformation sind keine universelle Schablone, die wir einfach auf jede Stadt oder Region anwenden können, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Sie repräsentieren einen notwendigen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Gesellschaft und Zukunft – als lebendige Entwürfe, die sich flexibel an die spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort anpassen und die bereits bestehenden Strukturen mitdenken. Schließlich findet die Transformation unserer Gesellschaft nicht auf einem weißen Blatt Papier statt, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess.

Reallabore oder ähnliche Projektformen können dabei als lokale Katalysatoren für Transformation dienen und durch die Vermittlung konkreter Zukunftsbilder helfen, die Angst vor Wandel abzubauen. Zugleich dürfen diese lokalen Initiativen nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets im Kontext einer größeren, übergeordneten Transformation. Hierbei kommt vor allem Politik und Staat wieder eine wichtigere Rolle als Initiator und Vermittler zu: Zuständigkeiten müssen klar definiert, neue Finanzierungsmodelle entwickelt und pragmatische Ansätze zur Weiterentwicklung von Infrastrukturen konsequent gefördert werden.

Transformative Infrastrukturen erfordern unseren Mut, endlich in zukunftsfähige Versorgungsnetze für die nächste Gesellschaft zu investieren. Damit spielen sie eine entscheidende Rolle für unser generelles Verhältnis von der Zukunft: Sie stellen sicher, dass wir auf künftige Herausforderungen nicht nur passiv reagieren, sondern eine lebenswerte Zukunft aktiv gestalten können – indem wir heute die richtigen Weichen stellen.

Symbolbild Infrastruktur Windkraft

Wirksamkeit

Zukunft gestalten

Wirksamkeit ist eines der sieben Schlüsselelemente im Wheel of Transformation, das die grundlegenden Faktoren von Transformationsprozessen sichtbar und zugänglich macht. Die einzelnen Elemente bilden dabei keine klar voneinander getrennten Segmente oder isolierte Phasen, sondern treten typischerweise parallel und nichtlinear auf. Wie die Arbeit mit den Transformationselementen praktisch funktioniert, beschreibt die Publikation „Future:Transformation“.

Das Element der Wirksamkeit lenkt die Energie auf das Konstruktive – weg vom Zweifeln, hin zum Gestalten. Zentral ist dabei der Prozess des Selbstausdrucks und der Impression, bei dem Individuen oder Organisationen ihre Identität zum Ausdruck bringen und ihre Visionen und Werte in die Welt tragen. Die Statuierung neuer Normen und Paradigmen lebt  stark vom Austausch mit Gleichgesinnten. Durch die konsequente Ausrichtung auf Wirksamkeit können Veränderungen dann auch langfristige Effekte erzielen. 

Erfahrung: Resonanz

Zentral für die Erfahrung von Wirksamkeit ist eine tiefe Verbindung von Innen und Außen im Erleben des eigenen Gestaltungspotenzials. Häufig geht diese Resonanzerfahrung einher mit einem authentischen Kontakt zwischen Individuen oder Gruppen, die in Transformationsprozessen wirksam gestalterisch beteiligt sind. Eng verbunden damit sind Gefühle der Zugehörigkeit und der Konvivialität. Dies kann auch eine kollektive Motivation schaffen, bereits erprobte und als wirksam-transformativ erfahrene Zugänge oder Methoden zu kommunizieren und kontinuierlich zu teilen.

Kompetenz: Gestaltungskraft

Entscheidend für die wirksame Zukunftsgestaltung ist die Fähigkeit zur Kollaboration und Koalition mit anderen Akteur:innen – inklusive der Bereitschaft, Ideen von außen aufzunehmen und zu integrieren. Dabei ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen und eine integre Haltung bezüglich der eigenen Überzeugungen und Werte zu bewahren. Auch die Fähigkeit, sich selbst immer wieder zu zeigen und auszudrücken, spielt eine zentrale Rolle: So können die Wirksamkeitserfahrungen, die aus dem eigenen Gestaltungsdrang entstanden sind, geteilt und multipliziert werden. 

Potenzial: Gestaltung lebenswerter Zukünfte

Das Element der Wirksamkeit kann andere zu nachhaltigen Veränderungen in Richtung lebenswerter Zukünfte anstoßen. Dafür gilt es, unterstützende und inspirierende Impulse zu setzen sowie kollaborative Kräfte, Co-Kreationen und partizipative Verbindungen zu stärken, die gelingende transformative Erfahrungen bündeln und verbreiten. Gerade eine Pluralität konstruktiver Transformationspfade kann den Weg in ein verändertes Morgen weisen. Denn lebenswerte Zukünfte entstehen immer nur im Miteinander.

Exploration

Das Entdecken von Handlungsspielräumen

Exploration ist eines der sieben Schlüsselelemente im Wheel of Transformation, das die grundlegenden Faktoren von Transformationsprozessen sichtbar und zugänglich macht. Die einzelnen Elemente bilden dabei keine klar voneinander getrennten Segmente oder isolierte Phasen, sondern treten typischerweise parallel und nichtlinear auf. Wie die Arbeit mit den Transformationselementen praktisch funktioniert, beschreibt die Publikation „Future:Transformation“.

Das Element der Exploration steht für den Aufbruch ins Ungewisse, für die Öffnung von Handlungsspielräumen, in denen Neues ausprobiert werden kann. Im explorativen Entdecken und Handeln erfahren Menschen und Organisationen sich selbst wieder als Akteur:innen. Insbesondere im gemeinsamen Agieren kann ein Zugehörigkeitsgefühl erlebt werden, das in Phasen des Wandels verbindet. Das Experimentieren mit möglichen Handlungspfaden und -strategien kann auch eine Refokussierung der eigenen Ziele und Vorstellungen erfordern.

Erfahrung: Selbstwirksamkeit

Im Explorieren entstehen Lebendigkeit, Bewegung und vor allem die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Anstatt eine Veränderung nur passiv zu erdulden oder sich reaktiv an sie anzupassen, wird in neuen Möglichkeitsräumen agiert. Dies stärkt das Selbstvertrauen – und damit auch die Fähigkeit, mit bisher unbekannten Situationen umgehen zu können. Wichtig ist dabei die Bestimmung des eigenen Standpunktes, der eigenen Werte und Ziele: Erfolgreiches Explorieren erfordert eine gefestigte Identität – und eine Offenheit für Umwege. 

Kompetenz: Mut zum Experimentieren

Die Voraussetzung für einen neuen mentalen Zugang zu Veränderung ist der Mut zum Experimentieren: die Fähigkeit, Wandel proaktiv zu gestalten, anstatt nur passiv auf ihn zu reagieren. Dies erfordert sowohl Beweglichkeit und mentale Flexibilität als auch eine gewisse Festigkeit in der eigenen Identität und Haltung. Spiel und Neugier können dabei strukturell implementiert und gefördert werden. Zentral ist zudem eine hohe Frustrations- und Fehlertoleranz – hier spielt die Organisationskultur eine entscheidende Rolle. 

Potenzial: Handlungsfähigkeit

Das Erkunden neuer Möglichkeitsräume schafft die Voraussetzung, um die eigene Idee einer lebenswerten Zukunft in die Gestaltung zu bringen. Exploration braucht dabei stets eine Orientierung am eigenen Kern: Erst die Klarheit für den eigenen Standpunkt ermöglicht das Navigieren in unbekannten Gewässern. Gestaltung wird damit zu einer bewussten Entscheidung, zum aktiven Umgang und zur Lösungssuche innerhalb von Transformationsprozessen. Zugleich ergibt sich dabei die Chance, der Zeit voraus zu sein und neue Wege als Pionier:in zu erkunden.

Imagination

Die Erweiterung des Vorstellungsraums

Imagination ist eines der sieben Schlüsselelemente im Wheel of Transformation, das die grundlegenden Faktoren von Transformationsprozessen sichtbar und zugänglich macht. Die einzelnen Elemente bilden dabei keine klar voneinander getrennten Segmente oder isolierte Phasen, sondern treten typischerweise parallel und nichtlinear auf. Wie die Arbeit mit den Transformationselementen praktisch funktioniert, beschreibt die Publikation „Future:Transformation“.

Das Element der Imagination motiviert zum mentalen Erkunden, zu Suchbewegungen für mögliche Lösungen und Zukunftsbilder. Es befähigt zur De- und Neukonstruktion von „Wirklichkeit“: Das, was zuvor als unmöglich galt, erscheint plötzlich möglich. Fluchtinstinkten wird so eine neue Vorstellung von Zukunft entgegengesetzt, die berührt und im Idealfall befreiend wirkt. Die Transformationskraft der Imagination entfaltet sich vor allem im Prozess der Co-Kreation: Das inter- und transdisziplinäre Zusammenspiel erweitert den Vorstellungsraum durch eine neue Perspektivenvielfalt.

Erfahrung: Neugier

Typischerweise ist die Imagination erkennbar an Emotionen wie Begeisterung und Entdeckungsfreude, an der spielerischen Lust am Ausprobieren. Am Neugierigsein. Da die Imagination immer auch eine indirekte Projektion von Sehnsüchten und Wünschen beinhaltet, kann sie gelegentlich aber auch zu einer gewissen Desillusionierung oder Entzauberung führen: Die imaginierten Wirklichkeiten können dann als utopisch empfunden werden, als allzu weit entfernt von realisierbaren Möglichkeiten.

Kompetenz: Vorstellungskraft

Je ausgeprägter die Vorstellungskraft ist, umso mehr sind Menschen – und damit auch Organisationen – in der Lage, neue Alternativen zu erkennen, Möglichkeitsräume zu erweitern, Visionen und auch Utopien zu entwickeln. Die Vorstellungskraft schafft einen Zugang zum „Beyond“: zum Blick auf das, was jenseits des bereits Gegebenen und Bekannten möglich ist.

Potenzial: Entfaltung

Wird Neugier bewusst wahrgenommen und zur Gestaltung möglicher Zukünfte genutzt, wachsen Mut und Selbstvertrauen. Dann rücken auch solche Veränderungen und Zukünfte ins Wahrnehmungsfeld, die zuvor unmöglich erschienen oder noch gar nicht bewusst waren. So eröffnen sich Möglichkeiten der persönlichen und organisationalen Weiterentwicklung. Der offene Blick für Neues lässt das Potenzial für Entfaltung und Wandel wachsen. 

Revision

Die kritische Überprüfung des Selbst

Revision ist eines der sieben Schlüsselelemente im Wheel of Transformation, das die grundlegenden Faktoren von Transformationsprozessen sichtbar und zugänglich macht. Die einzelnen Elemente bilden dabei keine klar voneinander getrennten Segmente oder isolierte Phasen, sondern treten typischerweise parallel und nichtlinear auf. Wie die Arbeit mit den Transformationselementen praktisch funktioniert, beschreibt die Publikation „Future:Transformation“.

Das Element der Revision ermöglicht eine Bewertung: Was soll bleiben, was muss losgelassen werden? Dieser Prozess ist sowohl für persönliches Wachstum als auch für organisationalen Fortschritt unerlässlich: als zentraler Hebel, um immer wieder in die Selbstreflexion zu gehen und erstarrte Selbstbilder zu verabschieden. Dann bildet die Revision die Basis, um neue Erfahrungen und Erkenntnisse einzubeziehen und aktuelle Wandlungsdynamiken aufzugreifen.

Erfahrung: Selbstreflexion

Das Transformationselement der Revision wird meist als Innenschau und Selbstprüfung erfahren. Häufig manifestiert es sich im Hinterfragen und Überprüfen der eigenen Annahmen und Glaubenssätze. Im ersten Moment kann dies als Selbstkränkung erlebt werden. Es kann auch den Eintritt in eine Trauer- und Abschiedsphase bedeuten. Immer aber fördert das Hinterfragen etablierter Ansichten auch eine neue Hinwendung zur Umwelt, eine Öffnung für externe Impulse und neuartige Perspektiven.

Kompetenz: Repositionierung

Mit dem Annehmen von Unveränderlichem und dem Erkennen des Gestaltbaren birgt das Element der Revision eine enorme transformative Kraft. Um diese Kraft zu aktivieren, ist es notwendig, unveränderbare und veränderbare Anteile des Selbst unterscheiden und eine eigene Haltung im Transformationsprozess für sich definieren zu können. Diese Repositionierung stärkt das Selbstvertrauen, schafft Klarheit über die eigene Rolle und bietet Orientierung in den Höhen und Tiefen von Veränderungsprozessen.

Potenzial: Selbststärkung

Die intensive Selbstinspektion kann eine produktive Selbstresonanz schaffen und das Verständnis für interne Abläufe, Motivationen, Anforderungen und Ziele fördern. Als wiederkehrendes Element in Transformationsprozessen lenkt die Revision die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Überprüfen der eigenen Grundmuster. Dies kann eine nachhaltige Stärkung des Selbst bewirken – und die aktive Gestaltung von Veränderung unterstützen. 

Retardierung

Die konstruktive Kraft des Widerstands

Das Element der Retardierung beschreibt die inneren Widerstände, die als typische Reaktion in der Konfrontation mit Veränderungen und neuen Herausforderungen ausgelöst werden. Diese Gegenhaltung kann jedoch auch eine ganzheitliche Perspektive auf das Veränderungsgeschehen fördern und helfen, die stabilen, robusten und funktionierenden Anteile eines Systems wahrzunehmen. So kann der Übergang von der initialen, impulsiven Reaktion zur kognitiven Auseinandersetzung auch neue Einsichten und Wege eröffnen.

Erfahrung: Widerstand

Die Folge der Retardierung ist meist ein konkreter Widerstand, eine Verzögerung der Prozesse – bis hin zur Sabotage. Als Schutzfunktion erfüllt diese retardierende Angst- und Abwehrreaktion aber auch eine konstruktive Funktion: Sie macht auf konkrete Risiken aufmerksam – und verweist damit auch auf das, was im Wandel bewahrenswert ist. So kann die bewusste Verzögerung von Entscheidungen oder Handlungen einen Raum für Reflexion öffnen. Im Idealfall entwickelt sich dann eine Vorfreude auf das Neue. 

Kompetenz: Konstruktive Distanzierung

Widerstand kann erst mit hinreichendem Abstand produktiv genutzt werden – erst dann kann er die Möglichkeit zur bewussten Abgrenzung von der turbulenten Dynamik des Wandels bewirken. Die Fähigkeit zur konstruktiven Distanzierung befähigt dazu, Veränderungen klarer wahrzunehmen und realistischer einzuschätzen. Dies betrifft nicht zuletzt die Frage, welche Teile des Selbst bewahrt oder verabschiedet werden sollen.

Potenzial: Reflexion

Die Retardierung bildet ein Gegengewicht zur Beschleunigung, die insbesondere disruptive Veränderungsprozesse kennzeichnet. Das Innehalten verhindert ein Abgleiten in völlige Hilflosigkeit und Kontrollverlust – und ermöglicht die Wahrnehmung der eigenen Grenzen und Möglichkeiten. Es entsteht eine punktuelle Distanz zum Geschehen, eine innere Entkopplung vom Transformationszwang. Ein Raum für Reflexion. 

Desorientierung

Die Akzeptanz von Ambivalenz

Desorientierung ist eines der sieben Schlüsselelemente im Wheel of Transformation, das die grundlegenden Faktoren von Transformationsprozessen sichtbar und zugänglich macht. Die einzelnen Elemente bilden dabei keine klar voneinander getrennten Segmente oder isolierte Phasen, sondern treten typischerweise parallel und nichtlinear auf. Wie die Arbeit mit den Transformationselementen praktisch funktioniert, beschreibt die Publikation „Future:Transformation“.

Desorientierung bedeutet zunächst eine Belastung: Rahmenbedingungen brechen auseinander, alte Ankerpunkte verschwinden, Verunsicherung dominiert. Dabei entsteht oft ein innerer Spannungszustand zwischen Unsicherheit und dem Impuls, die Herausforderung zu meistern. Diese Ambivalenz kann der erste Schritt in Richtung einer aktiven, zukunftsgewandten Handlung sein, losgelöst von festgefahrenen Strukturen. Unsicherheit und Widersprüchlichkeit können den Weg in einen kreativen transformativen Prozess ebnen.

Erfahrung: Verunsicherung

Desorientierung kann von Verwirrung, Frustration und auch Verzweiflung begleitet sein. Entfernt sich der eigene Fokus dabei von der Zielorientierung und Situationsbewältigung, gilt es vor allem, wieder Boden unter den Füßen zu erhalten, etwa durch die bewusste Reflexion der eigenen Fähigkeiten und das Experimentieren mit neuen Zukunftsbildern. Je besser es gelingt, der aktuellen Verunsicherung mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen, desto eher kehrt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurück.

Kompetenz: Unsicherheitskompetenz

Der Umgang mit Desorientierung erfordert die Fähigkeit der Unsicherheitskompetenz. Sie basiert im Kern auf zwei Grundbestandteilen, die beide elementar mit dem Thema Akzeptanz verbunden sind: Frustrations- und Ambivalenztoleranz. Es geht darum, auch in unsicheren Situationen handlungsfähig zu bleiben und zu subjektiver Sicherheit zurückzufinden. 

Potenzial: Freiheitsgewinn

Die große Chance der Desorientierung ist der Zugang zu neuen Perspektiven. Das Ablegen von Gewissheiten und Gewohnheiten schafft eine neue Freiheit. Zugleich bereitet die Verunsicherung den Weg für die gezielte (Rück-)Besinnung auf die eigenen Werte und die (Wieder-)Entdeckung des inneren Kompasses. Die Akzeptanz von Unsicherheit kann die eigene Handlungsmacht wieder bewusst machen. Sie lässt Hoffnung entstehen. 

Ent-Täuschung

Das Auseinanderfallen von Ist und Soll

Ent-Täuschung ist eines der sieben Schlüsselelemente im Wheel of Transformation, das die grundlegenden Faktoren von Transformationsprozessen sichtbar und zugänglich macht. Die einzelnen Elemente bilden dabei keine klar voneinander getrennten Segmente oder isolierte Phasen, sondern treten typischerweise parallel und nichtlinear auf. Wie die Arbeit mit den Transformationselementen praktisch funktioniert, beschreibt die Publikation „Future:Transformation“.

Im Element der Ent-Täuschung offenbaren sich Diskrepanzen zwischen den inneren (Zukunfts-)Erwartungen und den beobachtbaren Phänomenen unserer Umwelt (oder den Erwartungen an uns selbst). Das Ist passt nicht länger zum Soll, die subjektive Erwartung deckt sich nicht mehr mit der objektiven Realität. Ent-Täuschungen sind oft schmerzhaft, sie eröffnen aber auch die Chance, blinde Flecken zu erkennen – und längst notwendige Veränderungen einzuleiten.

Erfahrung: Kontrollverlust

Die Ent-Täuschung tritt oft in Form eines Realitätsschocks auf, begleitet von Gefühlen wie Schmerz oder Scham angesichts der Erkenntnis, einer Illusion aufgesessen zu sein. In dieser Situation müssen sich Individuen, Organisationen und auch ganze Gesellschaften eingestehen, dass bisherige Annahmen nicht mehr gültig sind. Zugleich steckt im Kontrollverlust aber auch das Potenzial, einen wesentlichen Impuls für Entwicklung zu schaffen.

Kompetenz: Impulsoffenheit

Um die neuen Perspektiven und Impulse, die ein Kontrollverlust freisetzt, produktiv annehmen und nutzen zu können, braucht es die Fähigkeit der Impulsoffenheit. Auf organisationaler Ebene fördert Impulsoffenheit Kreativität und Neugierde sowie den Austausch über Emotionen. Systeme, die offen und empfänglich für Impulse sind, erkennen auch, dass sie nonkonformistisch sein können. 

Potenzial: Refokussierung

Die Ent-Täuschung bildet nicht selten den Ausgangspunkt von Transformationen. Sie kann aber auch im weiteren Verlauf von Transformationsprozessen immer wieder auftreten, etwa wenn Geplantes nicht so funktioniert wie erhofft oder wenn erwartete Veränderungen und Erfolge nicht oder nicht schnell genug eintreten. Das Potenzial und damit die Relevanz dieses Prozesselements besteht in der Refokussierung und in der Willensbildung zu einer Veränderung.

Wie gelingt Transformation im 21. Jahrhundert?

Transformation ist das Thema unserer Zeit – und zugleich so voraussetzungsreich wie nie zuvor. Wie kann systemischer Wandel in der nächsten Gesellschaft gelingen? Ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Future:Transformation“.

von Christian Schuldt

27. Juni 2024

Das Zeitalter der Transformation

Im 21. Jahrhundert befindet sich die Weltgesellschaft im größten Umbruch seit der Industrialisierung. Der Übergang in die „nächste“, vernetzte Gesellschaft, sowie die große Transformation von der fossilen zur postfossilen Gesellschaft sind in Ausmaß und Intensität vergleichbar mit den beiden früheren fundamentalen Transformationsprozessen der Menschheitsgeschichte: der Neolithischen Revolution, die Ackerbau und Viehzucht weltweit verbreitete, und der Industriellen Revolution, die den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft markierte.

Allerdings ist der Epochenwandel unserer Zeit auch ein historisches Novum. Resultierten die vorigen Umbrüche jeweils aus einem allmählichen evolutionären Wandel, angetrieben durch neue technologische und ökonomische Möglichkeiten, herrscht heute ein akuter Veränderungsdruck. Die Vielzahl globaler systemischer Krisenphänomene, allen voran die Klimakrise, führt in eine „Omnikrise. Sie macht klar, dass wir die Aufgabe haben, einen fundamentalen Systemwandel zu gestalten. Deshalb ist Transformation das Thema unserer Zeit. 

Zugleich sind die Startbedingungen für das Angehen dieser systemrelevanten Veränderungen heute komplexer als je zuvor. Denn die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts steht geradezu sinnbildlich für Unplanbarkeit: Die alten Vorstellungen von Eindeutigkeit und Steuerbarkeit, die noch bis ins späte 20. Jahrhundert galten, werden unter vernetzten Vorzeichen obsolet. Langfristig stabile oder verlässlich berechenbare Strukturen lösen sich auf. Die Netzwerkgesellschaft ist im Kern volatil und unsicher.

Die zentralen Zukunftsfragen lauten daher: Wie ist Transformation unter hochgradig komplexen und vernetzten Bedingungen überhaupt möglich? Und wie können wir (wieder) zu aktiven Gestalter:innen der Zukunft werden, anstatt Veränderung passiv zu erdulden oder uns reaktiv an den Wandel anzupassen?

Die Kraft der Imagination

Auch – oder sogar: gerade – unter digitalisierten Vorzeichen gilt: Transformation lebt im Kern von der Aktivierung menschlicher Vorstellungskraft. Das zentrale Tool für Transformation sind deshalb nicht Daten – denn sie können stets nur aussagen, was in Bezug auf bestimmte Parameter passieren wird. Dieses lineare Denken hilft nicht weiter, wenn es darum geht, neue Perspektiven zu eröffnen auf das, was Menschen bewirken können. Erst die Kraft der Imagination lässt Wandel zur Befreiung werden. Entscheidend für den Willen zur Veränderung, für die Lust auf Transformation, ist der Glaube an die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Und die praktische Erfahrung von Veränderung – nicht als passives Adaptieren, sondern als aktives Kreieren.

Transformation geschieht deshalb immer menschengeleitet, in Form einer erhöhten Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit. Und: nie zentral gesteuert und top-down, sondern „verstreut“. Um transformative Kräfte zu entfalten, braucht es deshalb vor allem wirksame Motive und Anregungen zum Verlassen des Status quo. Die Transformabilität (transform ability) eines Systems wird also nicht von effizient gestalteten Strukturen und Technologien bestimmt. Sondern: von richtungsweisenden Begründungen, mit denen Menschen Technologien und Institutionen kreieren, erzählen, verbreiten.

Lernende Systeme

Insgesamt erfordert die Komplexität heutiger Krisen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in unserem Transformationsverständnis: weg von einem Denken in linearen Phasen, das im Kern noch immer der alten „Change“-Idee verhaftet ist, hin zu einem komplexeren, evolutionären Zugang, der Transformation als fortwährendes Erschaffen und Etablieren systemrelevanter Elemente und Zusammenhänge begreift. 

Eine Theorie der Transformation kann nur dann zukunftsweisend sein, wenn sie Veränderung als nichtlinearen Verlauf versteht, in dem der Auf- und Ausbau des Neuen stets parallel zum Bewahren und Verabschieden des Alten entwickelt wird. Wandel ist also immer ein Lernprozess, der auch das Ver-lernen beinhaltet: das Verabschieden von Denk- und Handlungsweisen, die sich nicht (mehr) bewähren. In diesem Sinne ist transformatives Lernen immer Erfahrungslernen. Es folgt keinem vermeintlich perfekten Plan, sondern oszilliert permanent zwischen Noch-nicht-ganz-Verstehen, Etwas-besser-Verstehen und Weiter-Probieren. 

Die Grundlage für dieses dynamisch-nichtlineare Verständnis von Veränderung ist ein Transformation Mindset, das Wandel als Konstante betrachtet – und immer auch als Chance. Diese Perspektive prägt auch das Transformationsmodell des Future:Project, das Wheel of Transformation.