Generative Künstliche Intelligenz ist nahezu perfekt geworden in der Nachahmung menschlichen Verhaltens und im Kreieren überzeugender Fake-Realitäten. Wie beeinflusst der Siegeszug der Simulation unser Verhältnis zur Wirklichkeit – und das menschliche Miteinander? – Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
7. November 2024
Generative KI ist ein Meister in der Nachahmung unserer medialisierten Wirklichkeit. Das wissen wir spätestens, seitdem die Bürgermeister:innen von Berlin, Wien und Madrid im Juni 2022 längere Videocalls mit Vitali Klitschko führten – ohne zu merken, dass sie es dabei mit einem Fake zu tun hatten. Seitdem ist die Simulationskompetenz der KI-Modelle rapide angewachsen und der Zugang zugleich immer niedrigschwelliger geworden.
Der Vormarsch der generativen KI ruft die Theorie der Simulation ins Bewusstsein, die der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard schon vor fast 50 Jahren formulierte. Demzufolge verschwimmen im Zuge der Medialisierung die Grenzen zwischen Original und Kopie, zwischen tatsächlicher und dargestellter Realität. In Baudrillards „Hyperrealität“ sind wir umgeben von „Simulakren“ – Nachbildungen, die sich so weit von ihrem Original entfernt haben, dass sie eigenständige Realitäten bilden.
Generative KI verleiht diesen Überlegungen eine völlig neue Aktualität und Brisanz. Denn Algorithmen, die Fake-Realitäten erschaffen, stellen nicht nur unser Verständnis von „Wirklichkeit“ infrage, sondern letztlich auch unser soziales Miteinander: Welche Rolle wird der echte Mensch künftig inmitten simulierter Welten spielen? Und was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn die Zuverlässigkeit von Information schwindet?
Die neuen Weltsimulations-Tools erhöhen den Anteil maschinell produzierter und manipulierter Inhalte am gesamten Internet-Content dramatisch: KI-Bots erschaffen heute eigenständig Bilder, Texte und Websites in sozialen Medien, posten Urlaubsfotos, schreiben Kommentare, verschicken Nacktfotos und Deepfakes. Studien zeigen, dass Bots bereits die Hälfte bis drei Viertel des weltweiten Internet-Traffics ausmachen – und dass die Qualität von Suchmaschinen zunehmend unter KI-generierten Websites leidet, die zwar SEO-optimiert, aber inhaltsleer sind. Diese Entwicklung spiegelt auch das „digitale Wort des Jahres 2023“ in den USA: „Enshittification“.
Dabei vollzieht sich auch ein Paradigmenwechsel im Bereich der KI-Dystopien: Im Fokus steht nun weniger die Auslöschung der Menschheit durch feindliche Algorithmen als vielmehr eine selbstreferenzielle Bullshit-Welt, in der wir KI-generierte Inhalte konsumieren, aus denen weitere KI-generierte Inhalte produziert werden und so weiter… Die selbstbezügliche Content-Schwemme weckt nicht nur die Angst vor einem generellen Kulturverlust durch die wiederkehrende Produktion des Immergleichen, sondern auch vor der wachsenden Unfähigkeit, zwischen echt und unecht, wahr und falsch unterscheiden zu können.
Zerfranst die Wissensgesellschaft durch KI nun also wirklich zu einem postmodernen „Anything goes“? Droht uns durch KI-Modelle wie Sora eine „perfekte, voll automatisierte Propagandamaschinerie“? Auf jeden Fall schüren immer perfektere KI-generierte Avatare und Deepfakes ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber unserem kollektiven Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit. Dieser „Realitätsverlust“ kann auch gezielt genutzt werden, um echte Inhalte infrage zu stellen – etwa wenn Politiker:innen Fakten als vermeintlich KI-generiert diskreditieren.
Die Frage nach der „Wirklichkeit“ unserer Weltwahrnehmung ist spätestens seit Platons Höhlengleichnis eine der Schlüsselfragen der Philosophie. Durch KI-generierte Animationen wird sie nun noch einmal neu aufgeworfen. Reine Plädoyers für das „Echte und Einzigartige“ führen dabei ebenso wenig weiter wie die schlichte Gleichsetzung von virtuellen und nichtvirtuellen Realitäten. Vielmehr verweist uns das Spiegelkabinett der generativen KI auf eine grundsätzliche Verschiebung der Bedeutung, die wir dem Unterschied zwischen Abbild und Wirklichkeit beimessen – und auf die ganz realen Konsequenzen, die wir als Menschen daraus ziehen müssen.
Generell ist unsere vernetzte Kultur geprägt von einer zunehmenden Affinität für Imitate und Duplikate. TikTok oder Instagram wären kaum denkbar ohne das Prinzip der Aneignung und Vervielfältigung – das auch jenseits der digitalen Sphäre Blüten treibt, etwa im Gen-Z-Hype um Fake-Luxusprodukte made in China. Generative KI eröffnet nun eine weitere Dimension duplizierter Realitäten, indem sie eine immer intensivere und intimere Interaktion mit KI-generierten Pseudopersönlichkeiten ermöglicht. „Konversationelle KI“ ermöglicht uns, dauerhafte Beziehungen mit KI-gesteuerten Entitäten einzugehen: mit virtuellen Menschen, die uns begleiten, coachen und Workflows für uns ausführen.
Doch je natürlicher und emotionaler wir mit diesen Instanzen interagieren – und dabei auch virtuelle Stellvertreter:innen unserer selbst schaffen –, umso fragiler wird die gesellschaftliche Repräsentation von Realität. Denn eine gemeinsame Vorstellung von Wirklichkeit kann nur entstehen durch ein „Sprachspiel“ im Sinne Wittgensteins: durch Menschen, die sich im gemeinsamen Gespräch darüber verständigen, was ein Ausdruck, was die Wirklichkeit, in der wir leben, bedeutet. Denn Sprache ist per se dynamisch und vielfältig: Ihr Verständnis erfordert immer, die verschiedenen Kontexte und Praktiken zu berücksichtigen, in denen sie ganz konkret verwendet wird. Einen solchen realitätsstiftenden Dialog kann keine generative KI generieren. Im Gegenteil: KI erodiert unseren gemeinsamen Realitätsnenner, indem sie immer dazu tendiert, die Standpunkte ihrer Schöpfer:innen oder sozialer Mehrheitsgruppen überzubewerten.
Eine „starke Objektivität“ erwächst dagegen nur aus kognitiver Vielfalt, aus dem diversen Zusammenspiel einzelner Subjektivitäten. Eben deshalb lebt unsere Wirklichkeitswahrnehmung ganz fundamental vom menschlichen Miteinander, vom konkreten sozialen Austausch. Und damit letztlich auch von einer physischen Komponente, die für KI kategorisch unerreichbar bleiben wird, allen Träumen von algorithmischen „Superintelligenzen“ zum Trotz: unserer Leiblichkeit.
Körperlichkeit bedeutet: Verletzlichkeit. Die physische Fragilität bildet die Grundlage unserer kognitiven, kulturellen, sozialen und emotionalen Intelligenz. Das Fundament unserer Humanität. Der Körper ist der ultimative Kontrapunkt zur rationalen Intelligenz der KI, der diese biologische Weltverankerung prinzipiell verschlossen bleibt. KI-Systeme haben keinen Zugang zu den Verletzlichkeiten der menschlichen Existenz. Im Gegensatz zur traditionellen Geist-Körper-Hierarchie, die Verletzlichkeit als Schwäche und Mangel betrachtete, führt uns KI also zu der Erkenntnis, dass die Basis unseres Denkens, unserer Sozialität und damit auch unseres Wirklichkeitsverständnisses in der somatischen Sensibilität und Instabilität gründet.
Zugleich offenbart sich dabei ein scheinbar paradoxer Zusammenhang: Je genauer wir KI erforschen und je besser wir verstehen, welche menschlichen Fähigkeiten und Verhaltensweisen Algorithmen zwar simulieren, aber niemals selbst „erleben“ können, umso deutlicher wird auch unser grundsätzliches Nichtwissen über dieses leibliche Fundament der menschlichen Existenz: Wie kreieren unsere biologischen Systeme, unsere Zellen und Neuronen das, was unsere kognitiven Fähigkeiten, unsere Intelligenz, unseren „Geist“ ausmacht? Dieses Rätsel erscheint unlösbarer denn je.
So führt uns die simulative KI auch vor Augen, wie zeitlos unverfügbar die Kategorie des genuin Humanen letztlich ist. Wie schon im Zuge vorheriger technologischer Revolutionen erkennen wir, dass der Mensch, mit all seinen seelischen und körperlichen Bedürfnissen, wie ein Fels in der Brandung des technologischen Wandels steht. Eben deshalb ist die Wahrung und Kultivierung eines humanistischen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses so wichtig – gerade in Zeiten, in denen die Wogen der KI-Verheißungen besonders hoch schlagen.
von Matthias Horx und Julian Horx (Illustrationen)
11. September 2024
In Zeiten der künstlichen Dummheit ist es wieder richtig und wichtig, radikal zu werden.
Radikalität heißt: Die Kenntnis der Wurzeln. Und die Verwurzelung des Denkens in der menschlichen Zukunft.
Ein Gespenst geht um in der ganzen Welt und weit darüber hinaus. Es spukt in unseren Köpfen und Seelen. Es lässt uns nicht ruhig schlafen. Es quält und verwirrt unsere Gedanken, unsere Unternehmen, unsere Gesellschaften, unser Mind.
Es ist das Gespenst der Künstlichen Intelligenz.
Auf unheimliche Weise scheint KI das Schicksal der ganzen Menschheit zu bestimmen. Sie saugt alles, was wir wissen, glauben und hoffen, in sich hinein. Sie enteignet die Gedanken, die Bilder, die menschlichen Gefühle. Sie stürzt uns in einen Strudel der Selbstabwertung, der gefühlten Unterlegenheit gegenüber des Digitalen.
Sie zerstört unsere Vorstellung von der Zukunft.
Doch jetzt ist es an der Zeit, diesen Zustand der Angst und Unterwerfung zu überwinden – und zu einer Expedition aufzubrechen, die uns zum Kern unserer Selbst-Verständnisses führt. Wir sind aufgerufen, neu zu verstehen, wer wir – als Menschen – sind. Und was Zukunft für uns bedeutet.
Was „kann“ Künstliche Intelligenz? Und was wird sie können, wenn sie noch viel „weiter“ ist?
Hier ist eine widerborstige These: Generative KI wird, wenn sie „perfekt“ und mit noch mehr Daten trainiert ist, weniger können als heute.
Generative Künstliche Intelligenz ist ein stochastischer Papagei, der immer nur nachplappert oder nachbildet, was bereits existiert. Dies führt zu einem evolutionären Paradox: Je weiter sich KI entwickelt, desto dümmer wird sie. Da die Ergebnisse der KI immer wieder in die KI-Systeme eingespeist werden, entsteht eine regressive Schleife: Das Wiederholte wird wiederholt, die KI wird mit ihren eigenen Produkten überfüttert. Das mündet in eine digitale Dekadenz. Eine Art Selbst-Kannibalisums.
Perfektion ist, im systemischen Sinn, anti-evolutionär. An einem bestimmten Punkt gibt es keine Überraschung der Wahrnehmung mehr. Überraschungen sind jedoch das, womit wir unsere Balance zwischen Chaos und Struktur bewahren. Der menschliche Geist generiert seine Energie über das Staunen. Das Erleben des Neuen und Zauberhaften.
„Die KI wirkt auf mich beruhigend dumm.“
– Helge Schneider, Komiker und Künstler
Generative KI drängt Kreative zu einer harten Selbstüberprüfung: Kann das, was ich herstelle, besser von KI erzeugt werden?
Die Frage klingt vernichtend. Sie hat aber auch einen befreienden Charakter, wenn man sie ehrlich stellt. Denn wenn wir durch die KI ersetzbar sind, heißt das, dass wir uns von der genuinen Kreativität entfernt haben. Wir sind in gewisser Weise selbst zu Maschinen geworden. Zu Anhängseln.
Dann ist es Zeit, neu aufzubrechen.
KI wird den Mainstream der kreativen Arbeit „vertilgen“ – und gleichzeitig aufblähen. Dies wird einen neuen Sektor der radikalen Mittelmäßigkeit erzeugen, in dem weder Löhne noch Honorare gezahlt werden, weil die KI alles übernimmt. Doch zugleich entsteht ein schnell wachsender neuer Markt, in dem die genuine Human-Kreativität wieder neu bewertet und gewürdigt wird.
Maschinen können Kombinationen finden. Materialien sichten. Aber sie haben keine „Wahrnehmungen“. Und sie verstehen nichts von Leidenschaften und Selbstvertrauen, den großen Treibern der Kreativität. All das können sie nur simulieren.
Zu den großen Eigenschaften des Menschen zählt die Wahrnehmung der Wahrhaftigkeit. Auch dafür gibt es einen Markt. Einen riesigen und wachsenden – wenn wir es richtig anstellen.
KI erlaubt es Verlagen, ohne Redaktionen auszukommen. Sie ermöglicht es, Kunst ohne Künstler:innen zu machen. Filme ohne Darsteller:innen zu produzieren. Bücher ohne Autor:innen zu schreiben.
Für die kommende Auseinandersetzung zwischen Mensch und KI wird es auf das Selbstbewusstsein der Kreativen ankommen. Und auf ihre Fähigkeit, ihre eigene Arbeit von der KI-generierten Reproduktion des Immergleichen zu unterscheiden. Mit Stolz in die Welt zu gehen. Und dabei auch die Möglichkeiten generativer Computersysteme zu nutzen, wo es Sinn macht.
„Das Trainingsmaterial der KI ist ein Spiegel der Menschheit“, sagt der Fotograf Boris Eldagsen, der 2023 die „Sony World Photography Awards“ mit einem KI-generierten Bild gewann – und den Preis ablehnte: „Damit zu arbeiten, ist spannend. Ich bin dann in meiner Rolle nicht mehr der Künstler, der ich vorher war (…) Jetzt bin ich der Dirigent, und mein Chor ist das Trainingsmaterial. Ich muss versuchen, damit etwas zu schaffen. Künstlerisch ist es eine tolle Zeit.“ (vgl. Buxmann/Schmidt 2024).
Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Jede dekonstruktive Dynamik bewirkt auch eine konstruktive Gegenbewegung.
Weil generative KI in eine Misstrauensschleife führt (Was ist wahr? Was ist echt? Was soll das?), sind wir mehr denn je auf persönliche Vertrauensverhältnisse angewiesen. Online-Inhalte verifizieren sich nicht mehr von selbst. Wir lernen aktuell, dass Bilder, Audio- oder Videoaufnahmen nichts wirklich zeigen und beweisen.
Deshalb wird es immer wichtiger, zu wissen, von wem eine Information kommt. Wer gepostet oder generiert hat. Es geht um die Intention menschlichen Verhaltens und weniger um die „Inhalte“ (die zunehmend assimilierte Formen sind).
Wir werden schnell ein Gefühl dafür entwickeln, was von KI produziert wurde und was nicht. Damit verbunden sein wird ein Gefühl der Fadheit, des Ekels – so wie unsere Vorfahren eine Abneigung gegen verdorbene Lebensmittel entwickelten. Der Hunger nach Echtheit, Wahrheit, Authentizität kehrt zurück.
Vertrauen ist ansteckend, es bildet seine eigenen, selbstverstärkenden Systeme. Darauf ist Verlass.
37 Parolen, Thesen und Gebote zur wahren Zukunft der Künstlichen Intelligenz und der menschlichen Kreativität.
Generative Künstliche Intelligenz kann heute Formen schaffen, die nicht von menschengemachter Kunst zu unterscheiden sind. Wird die Idee, nur der Mensch könne Kunstwerke schaffen, nun obsolet? Im Gegenteil.
23. Juli 2024
Dass Künstliche Intelligenz uns Menschen bereits in vielen Feldern überholt hat, von Sprachverarbeitung bis zu medizinischer Prognostik, ist längst ins kollektive Bewusstsein eingesickert. Doch wie steht es um die algorithmischen Fähigkeiten, etwas zu erschaffen, das seit jeher als genuin menschlich konnotiert ist – nämlich Kunst? Spätestens seit April 2023 scheinen sich auch hier die Grenzen aufzulösen. Damals erhielt der deutsche Künstler Boris Eldagsen den ersten Preis in der kreativen Kategorie der Sony World Photography Awards für ein ätherisches Schwarz-Weiß-Porträt zweier Frauen im Vintage-Stil. Er lehnte die Auszeichnung ab mit der Enthüllung, dass das Bild von einer KI erstellt wurde.
Seitdem nimmt die generative KI immer neue Meilensteine in Sachen Kreativität. 2024 präsentierte OpenAI zunächst sein Text-to-Video-Modell Sora (japanisch für „Himmel“): eine Bild- und Film-Schöpfungsmaschine, die als Midjourney, DALL-E und Co. um eine Bewegtbild-Komponente erweitert. Mit GPT-4o (nach „omni“, lateinisch für „alles“) folgte ein multimodales KI-Modell, das Bilder und Videos erkennen und produzieren kann. Die neuen KI-Tools bewirken eine radikale Demokratisierung der kreativen Fähigkeiten. So wie heute Jede und Jeder mit Hilfe von KI in Sekundenschnelle Aufsätze in Examensqualität produzieren kann, lassen sich im Handumdrehen fotorealistische Bilder und Videos erstellen.
Zugleich wirft dieser Siegeszug der Kreativ-KI grundlegende kulturelle Fragen auf. Verwandelt sich der Computer nun von einer rein rationalen Rechenmaschine zum kunstschaffenden „Wiederverzauberer“? Erweist sich womöglich das, was bislang als größte Schwäche der KI galt – das „Halluzinieren“ im Umgang mit Unsicherheit –, als ihre eigentliche Stärke, im fantasievollen Erschaffen von Texten, Bildern und Filmen? Jedenfalls scheint generative KI einer tief verwurzelten Vorstellung unserer Kultur zu widersprechen: dem Bild vom Künstler als einsamem Genie.
Generative KI nötigt uns zu einer Neubewertung unseres Kunstverständnisses – und unseres menschlichen Selbstbildes.
Kreative KI scheint auf radikale Weise zu bestätigen, was der französische Philosoph Roland Barthes den „Tod des Autors“ nannte. In seinem gleichnamigen Essay forderte er 1967 eine Abkehr von biografischen Interpretationen, da Kunst lediglich ein System von Zeichen sei. Die gesamte Philosophie- und Literaturgeschichte der 1960er- und 1970er-Jahre war geprägt von der Idee der Intertextualität, der zufolge jeder Text lediglich ein Mosaik aus bereits bestehenden Texten ist. Bringt KI nun einen zweiten „Tod des Autors“, indem sie zudem noch mit der traditionellen Idee bricht, dass ein Kunstwerk immer menschengemacht sein müsse?
Gegen diese Deutung spricht zunächst die Macht der Geschichte. Denn die Angst vor der Obsoleszenz menschengemachter Kreativität begleitete auch schon den Wandel vom Theater zum Film, vom Film zum Fernsehen, vom Fernsehen zu YouTube. Allesamt Medien, die heute ebenso lebendig sind wie die Fotografie, die ihrerseits schon von Photoshop, Digitalkameras, Smartphones, Internet oder eben KI abgelöst werden sollte. Weitet man den Blick, wird ersichtlich, dass und wie das Kunstsystem immer wieder seine Spielregeln an wandelnde soziale, politische und kulturelle Umfelder anpasst.
Allerdings hinterfragt „kreative“ KI nun unser tradiertes Kulturverständnis, das stark am Konzept der Originalität orientiert ist. Als „Kunst“ gilt das, was per se unerwartet und nicht mathematisierbar ist, was tradierte Muster durchbricht – selbst wenn man voraussetzt, dass jede Kulturproduktion immer auch eine Art Ideenrecycling ist.
KI-generierte „Kunst“ drängt uns dazu, die Funktion von Kunst grundsätzlich neu zu reflektieren.
Aus soziologischer Perspektive bildet Kunst ein eigenes Kommunikationssystem innerhalb der Gesellschaft. In seinem Buch „Die Kunst der Gesellschaft“ beschrieb Niklas Luhmann, wie einzelne Kunstwerke dabei als „Kompaktkommunikationen“ fungieren, die als Mitteilung von Information verstehbar sind: Die Formen eines Kunstwerks verdeutlichen, dass sie mit der „Absicht auf Information“ geschaffen wurden. Kunst provoziert also, indem sie ihr Beobachtetwerden schon einkalkuliert. Deshalb ist ein Großteil neuerer Kunst nur verstehbar, wenn man die Beobachtungsweise erkennt, mit der sie produziert wurde. Das gilt auch (und insbesondere) für objets trouvés wie Joseph Beuys’ Fettecke oder readymades wie Marcel Duchamps Pissoir.
Der Kern der Kunst ist also ihr absichtliches Verstandenwerdenwollen: Kunstwerke erzeugen Irritationen und regen zur Sinnsuche an. Kreativität besteht deshalb immer auch in der Verschiebung eines Rahmens, innerhalb dessen etwas wahrgenommen wird. Diese Dimension ist KI per se verschlossen, weil sie nicht sinnvoll verstehen kann, was sie produziert (oder was der Unterschied zwischen Fakt und Fiktion ist). Da KI Neues immer nur in bereits gegebenen Datenrahmen produzieren kann, bleibt ihr ein Denken outside the box, eine „domänensprengende Kreativität“, unzugänglich. Kunst braucht dagegen immer den humanen Kontext, um Kunst zu sein: Entscheidend ist die (menschliche) Konzeption – der (maschinelle) Output allein reicht nicht aus. Daher entsteht Kunst immer erst im Dialog, im menschlichen Verstehen mitgeteilter Informationen, das uns erlaubt, Kunst als solche einzuordnen, wertzuschätzen und mit Emotion aufzuladen.
KI kann dabei zwar behilflich sein, als ein Partner im künstlerischen Schaffensprozess, der Anreize gibt und zu neuen Ideen inspiriert. So sagten in einer Befragung unter professionellen Kreativen 86 Prozent, KI wirke sich „positiv auf ihren kreativen Prozess“ aus. Doch so wie KI die individuelle Kreativität fördern kann, verringert sie zugleich die kollektive Kreativität. So zeigen Studien, dass Kunstwerke, die mit Hilfe von KI produziert wurden, insgesamt gleichförmiger sind. Die eigentliche Quelle von Kreativität, Vielfalt und Originalität ist und bleibt also der Mensch – und gerade die „kreative“ KI verhilft alten romantischen Kulturbildern zu neuer Blüte.
Je mehr „KI-Kunst“ im Überfluss vorhanden ist und je deutlicher wird, dass dabei lediglich Variationen aus einem immer gleichen Pool erzeugt werden, umso wertvoller wird die einzigartige, hirn- und handgemachte Aus- und Aufführung menschlicher Kreativität. So wie „große Sprachmodelle“ à la ChatGPT die menschliche Superkraft der Begegnung stärken, fördert generative KI damit auch ein Wiederaufleben grundromantischer Kunst-Topoi. Von Aura und Emphase bis zur Idee des kreativen Genies, das bestehende Formen durchbricht und neue Paradigmen schafft:
Alles, was KI aufgrund ihrer kognitiven Limitierung nicht leisten kann, wird mit neuer Bedeutung aufgeladen. Damit sorgt KI gerade nicht für einen weiteren „Tod des Autors“ – sondern vielmehr für seine Wiederauferstehung.
Diese (Rück-)Besinnung auf das, was einzigartig und wahrhaft menschlich ist, auf den kreativen Sprung aus dem Nichts und auf das, was uns schön, moralisch, lustig, wertvoll erscheint, beinhaltet ein großes Potenzial der Rehumanisierung – und damit sogar die Chance für ein besseres menschliches Miteinander. Die eigentliche Zukunftsfrage lautet deshalb nicht: Kann KI Kunst? Sondern eher: Können wir Menschen KI? Sind wir in der Lage, KI konstruktiv zu nutzen, als Erweiterung unserer kreativen und sozialen Fähigkeiten? Nicht nur zu unserem jeweils individuellen Wohl, sondern im Dienste einer erstrebenswerten Zukunft, die uns allen zugutekommt? Erst mit diesem Mindset der „Human Digitality“ wird uns der Übergang in eine lebenswerte nächste Gesellschaft gelingen.
Wie sieht die wahre Zukunft der KI aus? Das KI-Manifest von Matthias Horx deckt Vorurteile und Glaubenssätze auf und zeigt, dass wir uns möglicherweise vor den falschen Gefahren fürchten.
37 Parolen, Thesen und Gebote zur wahren Zukunft der Künstlichen Intelligenz und der menschlichen Kreativität.
Ein Gastbeitrag von Stephanie Wössner
13. Februar 2024
Im 21. Jahrhundert steht das Bildungssystem an einem Wendepunkt. Prägende Krisenereignisse – von Pandemien und Klimawandel bis zu globalen Konflikten – sowie zahlreiche Bildungsstudien der vergangenen 15 Jahre haben tief verwurzelte strukturelle Mängel offengelegt, die nicht länger mit halbherzigen Reformen zu bewältigen sind. Um den Anforderungen einer sich rasant verändernden Welt gerecht zu werden, ist eine umfassende Transformation des Bildungswesens notwendig. Künstliche Intelligenz spielt in diesem Prozess eine signifikante Rolle. Doch um die KI-Potenziale zu entfalten, sind grundlegende Veränderungen hin zu einem zukunftsorientierten Lernen notwendig.
Unser Bildungssystem gleicht einem geschwächten Herzen: Es ist unfähig, das lebensnotwendige Elixier effektiv durch die Adern unserer Gesellschaft zu pumpen. Die Probleme sind nicht nur oberflächlich, sie sind Symptome einer tieferen Malaise, hervorgerufen durch veraltete Traditionen und einen ausgeprägten Widerstand gegen notwendige Veränderungen. Denn das heutige Bildungssystem ist ein Relikt der industriellen Revolution, das individuelles und kreatives Denken durch standardisierte Prüfungen und uniforme Lernwege unterdrückt. Um die großen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen, ist es essentiell, das Bildungssystem von Grund auf zu heilen und zu erneuern.
Eine vernetzte Welt verlangt Flexibilität, Kreativität und Teamarbeit – Fähigkeiten, die ein Einheitsmodell der Bildung ausblendet. Zukunftsweisend ist dagegen ein System, das personalisiertes, lebenslanges Lernen fördert und die Talente des Individuums in den Mittelpunkt stellt. Bildung muss daher weit über die reine Wissensvermittlung hinausgehen und zum Nährboden für die Entwicklung vieler Kompetenzen für eine aktive und verantwortungsbewusste Teilhabe an der Gesellschaft werden. Die Basis für die Entwicklung einer ganzheitlichen Persönlichkeit und die Förderung des lebenslangen Lernens bilden Lernumgebungen, die vielfältige Erfahrungen ermöglichen. Dabei kann Technologie uns helfen – und uns gleichzeitig erlauben, uns wieder mehr auf das Menschsein zu besinnen.
Bislang hat KI in der Bildung vor allem für Aufsehen gesorgt durch die Herausforderungen, die sie für traditionelle Lehr- und Bewertungsmethoden darstellt. Die Technologie bietet zwar neue Möglichkeiten für die Unterrichtsgestaltung und die Beurteilung von Leistungen, für die „Datafizierung“ jedes Schrittes eines Kindes oder Jugendlichen im Kontext von Learning Analytics. Doch diese Perspektiven zeigen nur, wie viele Menschen an einem überholten Verständnis von Bildung festhalten. Sie übersehen das wahre Potenzial, das Algorithmen maschinellen Lernens für das menschliche Lernen darstellen: nicht durch die Digitalisierung von bisher analogen Prozessen, sondern weil Algorithmen des maschinellen Lernens die Lernkultur komplett verändern können.
Nein, das Erlernen von Sprachen lässt sich keineswegs durch KI ersetzen. Aber wir könnten jedem Menschen – perspektivisch von Geburt an – einen individuellen KI-Assistenten zur Seite stellen, der diese Person kennt, sie fördert und fordert, anstatt mit der Lupe nach Dingen zu suchen, die sie nicht kann. Dieser persönliche Assistent könnte die menschliche Intelligenz erweitern und uns dabei unterstützen, die Talente, die in uns schlummern, zu fördern – um maßgeblich zur Lösung bestimmter Herausforderungen und zur Gestaltung der Zukunft beitragen zu können. Und was wäre, wenn uns diese Daten gehören würden und wir sie ganz oder teilweise auf sicherem Wege mit den Menschen teilen könnten, denen wir vertrauen, sodass sie uns bei unserer persönlichen Weiterentwicklung unterstützen können?
Für die Zukunft des Lernens bedeutet dies vor allem, dass wir unabhängig von jeglicher Technologie den „Raum“ neu gestalten müssen, in dem sich die Kompetenzen entwickeln, die in Zukunft zur Handlungswilligkeit und -fähigkeit und damit dem individuellen und globalen Wohlergehen beitragen. Wer könnte dafür besser geeignet sein, als die Personen, die seit jeher Lerndesigner:innen sind, nämlich die Lehrkräfte? Allerdings müssen wir uns dafür von der Konvention verabschieden, diesen Raum rein als physischen Raum zu verstehen.
Zukunftsorientierte Lernräume bilden Umgebungen, in denen aus Fehlern gelernt werden darf, in denen wir uns gemeinsam weiterentwickeln und vielfältige Erfahrungen machen dürfen, die dazu beitragen, dass alle Menschen Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Und das schließt auch virtuelle Räume mit ein. Entscheidend ist, dass der selbstbestimmte Mensch dabei stets im Zentrum steht – mit seinen Kompetenzen und seiner gestalterischen Rolle, die auch durch Ansätze wie Game-based Learning, Design und Futures Thinking entwickelt werden kann. Technologien wie Extended Reality und virtuelle Welten, aber ganz besonders KI als erweiterte menschliche Intelligenz oder gar als Lernpartner:in können in dieser Lernumgebung eine unterstützende Rolle spielen.
Die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft setzt voraus, dass Bildung auf persönliche Entwicklung und zukunftsorientiertes Lernen ausgerichtet ist. Der Weg dorthin verlangt eine grundlegende Veränderung in der Einstellung aller Akteure. Es ist eine Reise, die Zeit, Mut zur Selbstreflexion und die Bereitschaft erfordert, gemeinsam an der Gestaltung unserer Zukunft zu arbeiten. Dieser Prozess beginnt mit dem heutigen Tag. Er fordert von einigen ein Loslassen alter Vorstellungen, von anderen die Erkenntnis, dass ihr Beitrag essentiell für die positive Entwicklung unserer Gesellschaft ist.
Indem wir als Gemeinschaft ein neues Mindset fördern, das individuelle Potenziale erkennt und fördert, können wir die Grundlage schaffen für eine Bildung, die allen Menschen das Gefühl vermittelt, einen wertvollen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft zu leisten und Mitspracherecht zu haben. Schaffen wir gemeinsam als Gesellschaft Raum für die Entwicklung dieses neuen Mindsets! Sprechen wir darüber, welche wünschenswerten Zukünfte wir uns vorstellen könnten! Und darüber, was wir tun können, um diese erstrebenswerten Zukünfte wahrscheinlicher zu machen.
Hier finden Sie ein Beispiel, wie eine meiner wünschenswerten Zukünfte aussieht:
Wie prägen Trends wie Transforming Education, Cross-cultural Learning oder Digital Literacy die Transformation des Bildungswesens? Das Future:System, die transformative Trendsystematik des Future:Project, beleuchtet diese und viele weitere Wandlungsprozesse unserer Zeit – und identifiziert dabei konkrete Gestaltungspotenziale für eine lebenswerte Zukunft.
Stephanie Wössner
ist freiberufliche Referentin und Beraterin für zukunftsorientiertes Lernen mit den Schwerpunkten Extended Reality, Game-based Learning, KI, Metaverse, Design and Futures Thinking. Hauptberuflich war sie über zehn Jahre Lehrerin und leitet mittlerweile die Stabsstelle Zukunft des Lernens am Landesmedienzentrum Baden-Württemberg.
Schon seit einigen Jahren gilt die Künstliche Intelligenz als Schlüsseltechnologie des digitalen Wandels. Die jüngsten Fortschritte einiger KI-Tools versprechen den Durchbruch in die nächste Entwicklungsstufe der KI-Technologien. Um ihre Gestaltungspotenziale für Wirtschaft und Gesellschaft zukünftig konstruktiv zu nutzen, braucht es schon heute einen reflektierten Umgang mit KI.
10. Oktober 2023
Im Bereich der technologischen Entwicklung haben nur wenige Phänomene die kollektive Vorstellungskraft so sehr in Anspruch genommen wie die KI. Gegenwärtig treibt sie den digitalen Wandel rasant voran und markiert sogar einen neuen Meilenstein in der gesellschaftlichen Evolution – erstmals interagieren Menschen mit Maschinen wie mit ihresgleichen. Der sprunghafte Fortschritt von inhaltsgenerierenden KI-Tools wie ChatGPT, Dall-E oder Midjourney befeuert nicht nur laufende Debatten um den Einsatz von künstlicher Intelligenz, sondern wirft neue Fragen über die künftige Beziehung zwischen Mensch und Maschine auf.
Doch nicht erst seit ChatGPT begleiten vereinfachende und polarisierende Mensch-Maschine-Erzählungen den KI-Diskurs. Für die einen verspricht die neue technologische Qualität und Komplexität dieser Tools utopische Zukünfte, in denen Maschinen durch scheinbar grenzenlose künstliche Intelligenz zu ultimativen Problemlösern werden. Andere verbinden mit KI dystopische Ängste vor der planetaren Machtergreifung und Auslöschung der Menschheit durch „intelligente“ Roboter und Algorithmen.
Diese Narrative überschätzen KI im positiven wie im negativen Sinne. Sie verzerren unser Verständnis vom gegenseitigen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Technologie, indem sie simple und meist starre Zukunftsbilder malen. KI wird darin zum Buzzword einer vorgeschriebenen Zukunft, zur vermeintlichen Lösung für sämtliche Probleme, zum Erfolgsgarant für jegliches Unternehmen und Produkt. Allzu häufig erfolgt die flächendeckende Implementierung von KI in unseren Alltag aber nicht, weil es wirklich sinnvoll ist, sondern nur, weil es schlicht möglich ist. Wer allerdings in jeder KI-Anwendung die nächste digitale Disruption erwartet, ignoriert die komplexe Dynamik soziotechnischer Fortschritte.
Wie alle Technologien steht auch die KI nicht für sich alleine, sondern ist in ein gesellschaftliches Gerüst eingelassen. Der anfängliche Hype um neue KI-Tools kann überzogene Erwartungen schüren, die später allzu oft enttäuscht werden. Muss mein Toaster wirklich smart sein? Braucht es “intelligente”, sprachgesteuerte WCs? Auch viele Unternehmen stellen fest, dass eine unzuverlässige KI Probleme schaffen kann, wo sie diese eigentlich lösen soll. Und: dass die sinnvolle Einbindung von KI in eine Organisation ein anspruchsvoller und komplizierter Prozess ist.
Parallel entwickelt sich der Faktor Vertrauen immer öfter zu einem zentralen Kriterium in öffentlichen Diskursen über die Künstliche Intelligenz. Der allgemeine Vertrauensverlust in digitale Technologien überträgt sich trotz vieler KI-Utopien nicht zuletzt auch auf Anwendungen der Künstlichen Intelligenz. Immer besser lernen wir zu verstehen, dass und wie Algorithmen heute über Apps und soziale Medien öffentliche Meinungen beeinflussen, populistische Strömungen begünstigen oder in ihnen festgeschriebene Vorurteile, sogenannte digital biases, verbreiten.
Gerade weil KI eine so mächtige Technologie ist, braucht es kluge und durchdachte Herangehensweisen. Für die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen werden konstruktive Gestaltungsansätze im Umgang mit Künstlicher Intelligenz unabdingbar. Gegenwärtig, in der Zeit rasant beschleunigter KI-Fortschritte, bietet sich die passende Gelegenheit für einen pragmatischen und reflektierten Blick auf die Zukunft dieser Technologie. Das bedeutet nicht nur, die Potenziale und Herausforderungen von KI zu verstehen, sondern erfordert ein gänzlich neues Mindset: eine konstruktive, aufgeschlossene und mutige Perspektive auf die sinnvollen Gestaltungsmöglichkeiten KI-basierter Anwendungen.
Grundsätzlich geht es also um einen differenzierten Blick für die zwei Seiten der KI-Entwicklung. Zum einen braucht es ein ganzheitliches Verständnis für die Schlüsselrolle der Künstlichen Intelligenz im digitalen Wandel. Zum anderen benötigen vor allem Unternehmen ein Gespür für konkrete, sinnvolle Einsatzmöglichkeiten und Konsequenzen von KI-Technologien.
Dieser kritisch-konstruktive Umgang setzt sich von den etablierten KI-Narrativen ab. An die Stelle von Simplifizierungen, unbegründeten Ängsten, oder überzogenen Hypes tritt eine selbstbewusste und zukunftsmutige Haltung, die danach fragt, wie KI in das Bild unserer gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft passt: Warum oder wozu können und wollen wir Künstliche Intelligenz nutzen? Wie gelingt eine reflektierte Auseinandersetzung mit ihrem Gestaltungspotenzial für Wirtschaft und Gesellschaft? Welche Vorteile bietet ein konstruktiver Ansatz aus europäischer Perspektive?
Um beantworten zu können, wie die Künstliche Intelligenz unsere zukünftige Gesellschaft mitgestalten kann, müssen wir zuerst die Leitplanken einer lebenswerten Zukunft setzen. Wie wollen wir künftig Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft organisieren? Welche Anforderungen muss eine konstruktive KI als Zukunftstechnologie erfüllen, um sie produktiv nutzen zu können?
Gerade in Abgrenzung zu den Strategien der Tech-Giganten aus den USA und China kann ein verantwortungsvoller Umgang mit digitalen Technologien an vielen Stellen zu einem echten Wettbewerbsvorteil für den KI-Standort Europa werden. Um im globalen Wettbewerb der KI-Revolution nicht abgehängt zu werden und bestehende Abhängigkeiten zu verschärfen, braucht es eine gemeinsame, europäische Vision davon, welche Funktion KI für unsere Zukunft einnehmen soll.
Beispielsweise bieten sich im Bereich der Digital Ethics – also dem Datenschutz, der Sicherheit und der Verlässlichkeit von KI – große Entwicklungspotenziale. Humanistische Werte, klare ethische Richtlinien und tatsächliche Transparenz können das Vertrauen in digitale Technologien wieder steigern und verbindliche digitale Normen fördern. Gleichzeitig erfordert die rasante Weiterentwicklung von KI eine konzentrierte Förderung der Digital Literacy. Dabei geht es nicht nur um das Aneignen technologischer Kompetenzen, sondern vielmehr um einen souveränen und verantwortungsvollen Umgang mit Digitalität: die Befähigung, die Analysen und Lösungen von KI zu bewerten und sinnvoll anzuwenden.
Damit einher geht auch eine Neuverortung des Digitalen als Begleiter des Menschen. In einem kooperativen Miteinander von Mensch und Maschine komplementieren sich menschliche und maschinelle Intelligenz vielmehr, um konkrete Probleme zu lösen. Richtig angewandt, schaffen AI Companions neue Formen produktiver und kreativer Mensch-Maschine-Beziehungen, die weit über das Erledigen von lästigen Alltagsaufgaben hinausgehen.
Immer wichtiger wird künftig auch die Rolle von KI in den Bereichen Ressourcenknappheit, Energieverbrauch und Emissionen. Durch intelligente Algorithmen kann KI den Einsatz von Ressourcen effizienter gestalten, die Energienutzung optimieren oder nachhaltige Lösungsansätze entwickeln – Stichwort Resilient Supply. Ein fortschrittlicher und reflektierter Ansatz nimmt jedoch auch den steigenden Energieverbrauch und Emissionsausstoß von KI-Anwendungen selbst in den Blick.
Der Fortschritt der Künstlichen Intelligenz wird die digitale Vernetzung der Welt weiter vorantreiben – und KI in der nächsten Gesellschaft allgegenwärtig machen. Umso wichtiger ist es deshalb, schon heute die Rahmenbedingungen für diese künftige KI-Welt zu definieren. Nur ein verantwortungsvoller Umgang mit dieser Technologie kann auch einen konkreten gesellschaftlichen Nutzen erzeugen.
Losgelöst von dystopischen Ängsten und hysterischen Hypes eröffnet eine konstruktive KI damit zugleich die Chance für eine neue Ära der Rehumanisierung: Sie ermöglicht die Gestaltung einer humaneren Gesellschaft, in der smarte Technologien dabei helfen, das Leben gesünder und nachhaltiger zu organisieren – und in der genuin menschliche Kompetenzen wieder an Relevanz gewinnen.
Damit wird Künstliche Intelligenz zu einem Kernelement der großen Transformation hin zu einer Human Digitality, die digitale Technologien in ein menschliches Verhältnis setzt. Um diese konstruktiven KI-Potenziale zu erschließen, braucht es schon heute Mut, Optimismus und eine klare humanistische Perspektive.