Demokratie gedeiht durch Imagination, kollektives Handeln und aktive Partizipation. Angesichts der Herausforderungen der ‚Hyperpolitik‘, Individualisierung und des demokratischen Rückschritts ist es an der Zeit, neu zu überdenken, wie wir Bürger:innen einbinden, Vertrauen aufbauen und Systeme gestalten, die gemeinsame Verantwortung für langfristige Veränderungen ermöglichen.
10. Februar 2025
Lassen Sie mich mit meinem eigenen Weg beginnen, auf dem ich mich intensiver mit (den Zukünften) der Demokratie beschäftigt habe. Er war alles andere als linear. In meinem frühen Zwanzigern wechselte ich, wie es junge Menschen tun, von dem Wunsch, Anthropologe zu werden, zu Historiker, Diplomat und Innovationsspezialist – bis ich schließlich zum Zukunftsforscher und Unternehmer wurde.
Jede subtile Veränderung spiegelte meine Neugier und den Wunsch wider, das größere Ganze zu sehen. Erst als ich die Zukunftsforschung entdeckte, erkannte ich, dass ich das perfekte Feld gefunden hatte. Eines, das multidisziplinäre Perspektiven zusammenbringt, um zu erforschen, wie sich Gesellschaften und Systeme im Laufe der Zeit verändern und vor allem, wie wir die Zukünfte gestalten können, die wir sehen wollen.
Zukunftsarbeit, insbesondere wenn sie auf die Demokratie angewendet wird, verbindet sich tief mit dem Kern dessen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben und sie zu gestalten. Demokratie in ihrem modernen Sinne entstand aus dem imaginativen Sprung, dass wir uns eine bessere Zukunft vorstellen könnten. Thomas Mores Utopia – vor über 500 Jahren veröffentlicht – ist ein kraftvolles Beispiel dafür. Es legte den Grundstein für die Vorstellung einer Welt, in der Menschen Einfluss auf ihr kollektives Schicksal haben. Dieser Akt der Vorstellungskraft mobilisierte die Massen und führte zu Revolutionen, die die demokratischen Prinzipien formten, die wir heute als selbstverständlich betrachten.
Aber heute steht die Demokratie vor einer neuen Art der Herausforderung. Wir leben in einem Zeitalter, das einige ‚Hyperpolitik‘ nennen. Alles fühlt sich politisch an und kollektives Handeln ist schwer fassbar geworden. Soziale Medien und eine algorithmusgesteuerte Individualisierung haben den persönlichen Ausdruck verstärkt, während sie unsere Fähigkeit untergraben haben, gemeinsam an geteilten Zielen zu arbeiten. Gemeinschaften zerbrechen, langfristige Verpflichtungen schwinden, und unsere Fähigkeit, systemische Herausforderungen – Klimawandel, Ungleichheit, demokratischer Rückschritt – anzugehen, wird schwächer.
Mit der Intensivierung der Hyperpolitik ziehen sich Individuen in reaktive Haltungen zurück. Äußern Meinungen, aber distanzieren sich von der nachhaltigen Arbeit des Aufbaus von Systemen, die sinnvolle Veränderungen bewirken können. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Kollektives Handeln erfordert Vertrauen, Verantwortlichkeit und den Glauben, dass die eigenen Bemühungen zählen. Diese Qualitäten sind rar, jetzt wo Institutionen zu schwanken scheinen und die Polarisierung zunimmt.
Demokratie war schon immer ein Akt kollektiver Vorstellungskraft. Sie existiert nicht abstrakt, sondern als etwas, das wir durch Gespräche, Debatten und Handlungen schaffen. Im besten Fall ist Demokratie unordentlich, iterativ und zutiefst menschlich – ein System, das den Wert von Meinungsverschiedenheiten anerkennt und gleichzeitig auf gemeinsame Ziele hinarbeitet. Aber sie ist auch fragil.
In meiner Arbeit kehre ich oft zu der Idee zurück, dass Demokratie eine Debatte ist, die wir ständig neu erfinden. Letztlich geht es darum, Raum zu schaffen, um sich das Mögliche vorzustellen – anstatt sich mit dem abzufinden, was ist. Dies erfordert, dass wir Annahmen in Frage stellen, Systeme hinterfragen, die uns nicht mehr dienen, und an die Möglichkeit von etwas Besserem glauben.
Die moderne Krise der Demokratie betrifft nicht nur den Vertrauensverlust in Institutionen. Es geht um einen Verlust an Vorstellungskraft. Viele Menschen sehen Demokratie als etwas, das ihnen passiert, anstatt sich als Teil dessen zu verstehen. Diese „Stealth-Demokratie“-Mentalität geht davon aus, dass Expert:innen die Dinge hinter den Kulissen regeln, wodurch die Bürger:innen frei sind, sich zurückzuziehen. Aber Demokratie kann ohne aktive Teilnahme nicht funktionieren.
Weltweit steht die Demokratie unter Druck von gleich mehreren Seiten:
Wir schaffen Technologie, aber Technologie formt uns wiederum. Das digitale Zeitalter hat neu definiert, wie wir interagieren, wie wir Meinungen bilden und wie wir uns mit Governance beschäftigen. Während diese Kräfte den gesellschaftlichen Zusammenhalt auflösen, schaffen sie auch Möglichkeiten, neu zu denken und neu zu gestalten.
Wenn die Demokratie gedeihen soll, müssen wir überdenken, wie wir politische Gemeinschaften aufbauen. Tatsächlicher Wandel ist eine Teamleistung, keine Solo-Mission. Um voranzukommen, müssen wir Systeme entwerfen, die Engagement inspirieren, Verantwortlichkeit fördern und kollektives Handeln ermöglichen.
Hier sind einige mögliche Wege:
Mathias Behn Bjørnhof ist Zukunftsforscher und Gründer des Beratungsunternehmens ANTICIPATE mit Sitz in Kopenhagen. Auf seinem Blog veröffentlichte er diesen Artikel im englischen Original im Januar 2024.
Wie kann Bildung dazu beitragen, gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen? Über Demokratiebildung im Zeitalter der Krise. Ein Auszug aus dem Future:Guide Bildung.
6. Februar 2025
Die westlichen Demokratien stehen unter Druck. Der Aufstieg autoritärer und rechtspopulistischer Strömungen, befeuert durch Desinformation und algorithmische Verzerrung in digitalen Medien, macht deutlich: Demokratie ist keine selbstverständliche Gegebenheit, sondern eine Errungenschaft, die aktiv erhalten und weiterentwickelt werden muss. Wie kann eine zukunftsorientierte „Demokratiebildung“ diesen zersetzenden Kräften entgegenwirken?
Bildung hat in demokratischen Gesellschaften immer auch eine politische Dimension. Der Bildungsauftrag geht weit über die Vermittlung von Wissen hinaus und umfasst die Förderung von Mündigkeit, kritischem Denken und der Fähigkeit zur Partizipation und zur Zukunftsgestaltung. In Deutschland ist dies im Grundgesetz sowie in den Schulgesetzen der Länder festgeschrieben: Bildung soll dazu befähigen, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen und sich aktiv am demokratischen Leben zu beteiligen.
Doch angesichts der akuten Herausforderungen für die Demokratie reicht ein traditionelles Verständnis von politischer Bildung dafür nicht mehr aus. Es genügt nicht, Fakten über Wahlsysteme und politische Institutionen zu vermitteln. Vielmehr muss Demokratiebildung ein aktiver, erfahrungsbasierter Prozess sein, der vor allem Kinder und Jugendliche befähigt, Demokratie nicht nur zu verstehen, sondern aktiv mitzugestalten.
Die Digitalisierung hat grundlegend verändert, wie Menschen sich informieren, kommunizieren und politisch engagieren. Soziale Medien und Online-Plattformen sind heute zentrale Orte politischer Debatten, bergen aber auch Risiken: Filterblasen, Desinformation und gezielte Meinungsmache erschweren den offenen Diskurs. Hier setzt eine zukunftsorientierte Demokratiebildung an, die sowohl digitale Kompetenz als auch medienkritisches Denken fördert:
Um der wachsenden Bedrohung durch digitale Desinformation und Meinungsmanipulation entgegenzuwirken, ist die Verbindung von Demokratiebildung und Human Digitality essenziell. Entscheidend ist dabei die Befähigung, digitale Räume aktiv und verantwortungsvoll mitzugestalten. Ebenso wichtig wie der Umgang mit bestehenden digitalen Strukturen wird es, diese Strukturen demokratisch mitzugestalten und ihre ethischen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen zu reflektieren.
Eine zentrale Rolle kommt hierbei dem zukunftsorientierten Lernen zu: Basierend auf Selbstbestimmtheit, Autonomie und personalisierten Lernprozessen gibt es Lernenden die Möglichkeit, sich aktiv mit der Welt und ihrer eigenen Zukunft auseinanderzusetzen. Zukunftsorientiertes Lernen verbleibt nicht in isolierten, didaktisch vorbereiteten Szenarien, sondern ist eng verknüpft mit realen gesellschaftlichen Herausforderungen.
In einer Zeit wachsender demokratischer Herausforderungen bedeutet Demokratiebildung dann sehr viel mehr als die Vermittlung von theoretischem Wissen: Im Kern geht es um die Förderung einer Kultur der Partizipation und des kritischen Denkens. Bildungsräume werden damit zu Orten, an denen Demokratie gelebt wird. In offenen Diskussionen, im Modus des selbstbestimmten Lernens, in einem Klima, das Vielfalt und Engagement wertschätzt.
Wenn es um Zukunft geht, blickt alle Welt auf Technologien: Künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Fusionsenergie sollen die Probleme der Menschheit lösen. Doch eine mindestens ebenso wichtige Rolle in der kulturellen Evolution spielen soziale Innovationen.
von Lena Papasabbas
16. Januar 2025
Wir leben in einer Welt, die in der Zukunft gleichbedeutend geworden ist mit Technologie. Die großen Tech-Giganten unserer Zeit haben uns eingebläut, dass wir im Zeitalter der Innovation leben und Lösungen für die großen Herausforderungen eine Frage der technologischen Entwicklung sind.
Tatsächlich sind viele Innovationen aus dem Silicon Valley immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz geworden. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“. Statt uns als Gesellschaft zu dienen, hat der Hype um Innovation vor allem dem Wachstumskapitalismus als Hebel genutzt, um uns zu immer besseren Konsument:innen zu machen.
Eine chronisch unterschätzte Rolle spielt dagegen soziale Innovation, die unser soziales Verhalten verändert. Hier finden sich vergleichsweise einfache Antworten auf die größten Herausforderungen, die sich der Menschheit heute stellen. Auch für globale Probleme, die oft als unlösbar komplex dargestellt werden. So zeigen verlässliche Daten, dass sich die rapide wachsende Weltbevölkerung durch die Bildung von Mädchen und die Gleichstellung von Frauen ausbremsen ließe.
Der Feminismus ist einer der wichtigsten Treiber für kulturelle Evolution, er spielt eine Schlüsselrolle für nachhaltigere soziale Systeme, wirtschaftliche Stabilität und den Erhalt von Frieden. Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat außerdem großen Einfluss auf die Entwicklung ökologisch verträglicher Systeme. Die weltweit in verschiedensten Formen auftretenden Frauenbewegungen und die zahlreichen Erfolge im Kampf um Geschlechtergerechtigkeit und LGBTQ-Gleichstellung machen die Welt nicht nur gerechter, sondern tragen maßgeblich zu einem Gelingen einer umweltverträglichen Wirtschaft und Gesellschaft bei.
Das Spektrum sozialer Innovation umfasst nicht nur das Erlernen neuer Werte und Kulturtechniken. Auch handfeste strukturelle Veränderungen, etwa in Form von Gesetzen, sind zentrale soziale Innovationen. Allein durch eine veränderte Haltung lässt sich das systemisch bedingte Auseinanderdriften von Geld-Eliten und den Leidtragenden des unregulierten Wachstumskapitalismus nicht lösen. Aber durch einen Hebel, der bereits vorhanden ist: Steuern.
Konkrete Modelle zu einem Steuersystem, das die Anhäufung von Reichtum – sowohl von Personen und Familien als auch von Unternehmen – ausbremsen könnte, stellt der Physiker und Klimaforscher Anders Levermann in seinem Buch „Die Faltung der Welt“ vor. Würden sich Gesellschaften etwa dafür entscheiden, dass kein Unternehmen mächtiger sein darf als das Land, in dem es operiert, gäbe es auch keine übermächtigen Superkonzerne wie Google oder Amazon mehr: „Die Regierungen sollten die Unternehmenssteuern so ändern, dass es für Konzerne ab einer bestimmten Größe unattraktiv wird, noch größer zu werden. Sie würden sich dann aufsplitten und damit die Vielfalt stärken.“
Das simple Prinzip der unverhandelbaren, harten Grenzen, innerhalb derer ein System sich bewegen und entfalten kann und muss, ist ein mächtiger Lösungsansatz, um viele aktuelle Schieflagen in Gesellschaft und Wirtschaft zu beheben. Ein klares Verbot der Nutzung fossiler Energieträger zum Beispiel würde zum endgültigen Durchbruch erneuerbarer Energien führen und eine Fülle an Business-Innovationen hervorrufen. Neue Materialien würden entwickelt, neue Treibstoffe, neue Verpackungen … Ein Wachstum in die Breite wäre die Folge.
Eine weitere soziale Innovation: Dürfte niemand mehr als 2 Millionen Euro erben, würde die extreme Anhäufung von Reichtum und damit auch Macht verlässlich eingeschränkt. Geld würde wieder zurück in die Sozial-, Bildungs- und Versorgungssysteme fließen, Parallelgesellschaften von Superreichen, die außerhalb der Gesellschaft stehen, aber immensen Einfluss auf die Politik nehmen, gehörten der Vergangenheit an.
Eine solche „Faltung der Welt“ mag utopisch erscheinen. Doch die harten Grenzen von Zivilisationen haben sich stets verändert. Genauso selbstverständlich, wie wir heute ein Verbot von Sklaverei oder das Wahlrecht von Frauen akzeptieren, wäre es möglich, neue unverhandlbare Grenzen zu ziehen, innerhalb derer sich eine neue, bessere Gesellschaft entwickeln kann.
Die Kulturanthropologin und Zukunftsforscherin Lena Papasabbas beschäftigt sich mit dem Wertewandel und dessen Auswirkungen auf Gesellschaft und Individuum. Auf inspirierende Weise heben ihre Vorträge aktuelle konstruktive Transformationsprozesse hervor, die in eine lebenswerte Zukunft weisen.
Welchen Namen könnte das Next Age, das sich gerade herausbildet, tragen? Die hier versammelten Vorschläge sind zugespitzte Szenarien: Gedankenexperimente, die in dieser Absolutheit nicht zu erwarten sind – aber jeweils bestimmte Eigenschaften und Merkmale aufweisen, die das Next Age mitprägen werden. Die Frage ist nur: in welchem Ausmaß?
Ein Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Matthias Horx
27. November 2024
Das Sonnenzeitalter
Das nächste Zeitalter steht ganz im Zeichen der Sonne. Nach dem Ende der Ära der fossilen Verbrennung entsteht eine neue Kultur, in der Energie preiswert und üppig zur Verfügung steht. Technologien „solarisieren“ sich, Architekturen verändern sich ästhetisch und energetisch – unsere Denk- und Lebensweisen werden vom Zentralgestirn erleuchtet.
Die Herrschaft des Menschen über die Natur
Im Anthropozän hat die menschliche Spezies sich endgültig den Planeten Erde unterworfen: die ganze Biosphäre, die Wälder, Meere, Wüsten und schließlich auch den erdnahen Weltraum. Statt sich der Natur anzupassen, wird alles „terraformt“. Nach dem Vorbild der Arabischen Emirate, in denen riesige künstliche Städte und Landschaften entstehen, erobern die menschlichen Infrastrukturen endgültig den Planeten und formen ihn um. Aber das muss nicht in die Katastrophe führen. BioTechs und SynTechs ermöglichen organische Landschaftsgestaltungen, in denen Technologie und Natur neue Symbiosen eingehen. Oder wie der US-amerikanische Zukunftsforscher Stuart Brand schon 1968 als Motto seines „Whole Earth Catalog“ formulierte: „We are like gods and might as well get good at it.“
Das Zeitalter der neuen Völkerwanderungen
Die klassischen Staatengebilde zerfallen langsam, Grenzen verschwimmen. In einer hypermobilen Welt werden immer mehr Menschen zu Nomaden, die von Ort zu Ort ziehen (oder nicht mehr dort leben, wo sie herkommen). Populationen wandeln sich. „Bürgerschaften“ entstehen aus freien Zusammenschlüssen, ähnlich wie in der Gründerzeit Amerikas, Offshore-Gemeinschaften boomen. Exodus wird ein normales Verhaltensmuster im Zeichen von Krisen und Diktaturen. Aus jedem Flucht-Camp wird früher oder später eine stabile Gemeinschaft mit eigenen Rechten, Strukturen und Lebens- weisen. Den Wandernden gehört die Welt.
Die Evolution zum Komplexen
Die Ära der Metamoderne ist eine kulturelle und philosophische Bewegung, die auf die Postmoderne reagiert. Sie zeichnet sich durch eine Wiederbelebung von Sinn, Gemeinschaft und Fortschrittsglaube aus – während sie gleichzeitig die Unsicherheiten und Widersprüche der postmodernen Welt anerkennt. In der Metamoderne geht es darum, Komplexität und Ambiguität zu umarmen, ohne die Suche nach Lösungen und positiven Veränderungen aufzugeben.
Die Ära des Chaos und der Rudelbildung
Anomie bezeichnet einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnungssysteme. Fortschreitende Gesetz- und Regellosigkeit, immer schwächere Institutionen und zerbröckelnde Infrastrukturen können die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleisten. Die Folge ist eine tribale Renaissance: Gangs und Neo-Stämme haben in einer chaotischen Welt die besten Überlebenschancen. Überall Sekten, Banden, Konglomerate, Mafias, korrupte Systeme, die in gesetzlosen Kleinstaaten und „lost countries“ gegen- einander kämpfen oder sich miteinander verbünden. Die Welt verwandelt sich in eine „Mad Max“-Dystopie mit trumpistischen Zügen.
Das Zeitalter der Multiwesen
„Cthulhu“ ist eine fiktive Kreatur aus einer Kurzgeschichte des US-amerikanischen Schriftstellers H.P. Lovecraft – und der Name einer ganz realen kalifornischen Spinne: Pimoa cthulhu. Das Wort beinhaltet aber auch eine Referenz an die Erdgöttinnen oder die Kräfte der Erde, die von animistischen und pantheistischen Glaubensrichtungen verehrt werden. Ausgerufen hat das Cthuluzän die US-amerikanische Biologin und feministische Theoretikerin Donna Haraway: Im Gegensatz zum Anthropozän steht hier nicht der Mensch in Zentrum der Ge- schichte, sondern das Leben aller Arten und Kreaturen, seien es Oktopusse, Korallen oder Pilze. In Haraways „magischen“ Büchern wimmelt es von Primaten und Cyborgs, die Grenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt ebenso wie die Grenze zwischen Mensch und Maschine.
Die Flucht in die Simulationen
Der Cyberspace wird Wirklichkeit, die virtuelle Welt stülpt sich endgültig über die menschliche Kultur. Wir realisieren, dass es keine „Realität“ mehr gibt – wir aber auch keine mehr brauchen. Die Wirklichkeit war sowieso nur eine Illusion. Immer mehr Menschen emigrieren in Rundum-Simulationen, die von wenigen monopolistischen Superkonzernen beherrscht werden, und in denen man alle Wünsche, Träume, Fantasien verwirklichen kann. Die begehrtesten Tech-Gadgets sind Simulationsanzüge, die Hirn und Körper stimulieren. Viele finden aus den künstlichen Welten gar nicht mehr heraus.
Die Verschmelzung von Mensch und Maschine
Geht es nach dem US-amerikanischen Superfuturisten Ray Kurzweil und seiner Fangemeinde, endet 2046 die Welt, in der Menschen sterben müssen. Mit dem Erreichen der „Singularität“ wird das Tempo der technischen Entwicklung so schnell, dass Supertechnologien entstehen, in denen der Mensch aufgeht. Wir werden unsere Identitäten auf riesige Quantencomputer hochladen und ein ewiges glückliches Leben führen. Eins sind der Mensch und das Himmelreich, in silicium. Amen!
Die Ära des Heilens und Verbindens
Unsere Welt ist erschöpft, überstresst und „aus den Fugen“. Wir leben in einer zersplitterten Wirklichkeit, die sich nach Regeneration sehnt. Nach Heilung und Ganzheit, nach Ent-Schleunigung und Ver-Bindung. In einer Epoche der Regeneration widmen wir uns dem Verbindlichen, dem Heilenden und Zusammenfügenden. Wir bilden neue Gemeinschaften, überwinden die Wegwerfgesellschaft und entwickeln eine neue Kultur des Zuhörens, die die Demokratie stärkt und erneuert. Wir lernen, wieder überzeitlich zu denken – posterity statt prosperity. Unser Leben ist wieder auf die Nachkommen- den ausgerichtet. Wir begleiten uns selbst liebevoll durchs Leben – und tun dies auch mit anderen. Aus dem Wort „kümmern“ verschwindet der Kummer.
Das Zeitalter der chinesischen Dominanz
China wird zur Mega-Supermacht des 21. Jahrhunderts. Nachdem es quasi die Monopolherrschaft über die wichtigsten Zukunftstechnologien übernommen hat und reihenweise Durchbrüche in Sektoren wie Gentechnik, Quantentechnik und Lebensverlängerungsmedizin erzielen konnte, steigt es auch zur hochtechnologisch führenden Nation auf, einschließlich eines unbesiegbaren Militärs. Die USA dekonstruieren sich nach einem Quasi-Bürgerkrieg 2025 selbst. 2030 gründet China den Großen Asiatischen Staatenbund, dem auch Indien beitritt. 2050 verkündet China das endgültige Aus für alle fossilen Energien, einschließlich des Baus von 100 großen Fusionskraftwerken.
Das Zeitalter der Gigastädte
Heute leben bereits mehr als 50 Prozent aller Menschen in Ballungs-Agglomerationen mit mehr als 10 Millionen Einwohner:innen. In 500 Megastädten werden bald 3 Milliarden Menschen leben. Die Verdichtung führt zu immer mehr Differenzierung, Individualisierung und energetischer Aktivität, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Irgendwann werden so gut wie alle Menschen in verdichteten Konglomeraten leben. Auf dem Land regieren die Agrarroboter, und ein erheblicher Teil der Bevölkerung zieht auf riesige Kreuzfahrtschiffe, auf autonome Inselarchipele oder in künstliche Wüsten-Superstädte – „The Line“ in Saudi-Arabien liefert einen Vorgeschmack.
Das Zeitalter der Verbindungen
Nach Ansicht des australischen Philosophen Glenn A. Albrecht sollte die nächste Ära der Menschheitsgeschichte die Bezeichnung „Symbiozän“ erhalten. Symbiose bezeichnet den Lebenszusammenhang zum gegenseitigen Nutzen. Nach der Logik von Trend und Gegentrend entsteht ein Zeitalter, in der wir einen freundlichen Umgang mit Ökonomie, Ökologie und uns selbst erlernen – eine „Kindness Economy“.
Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Matthias Horx
7. November 2024
Kennen Sie das Doomfeeling? Man wacht morgens auf. Stellt das Radio an oder scrollt die Nachrichtenseiten. Plötzlich wird einem übel. Schwindelig. Irgendwo hat wieder ein dumpfer Idiot die Macht übernommen. Eine hässliche Partei Wahlen gewonnen. Ein Krieg ist ausgebrochen, der kein Ende findet. Das Internet spuckt irgendwelche Berge von Müll und Hass aus. Irgendwo tobt ein schrecklicher Sturm. Alle streiten sich unentwegt um irgendeinen Unsinn. Wir werden das Gefühl nicht los, dass alles den Bach runtergeht: die Wahrheit. Die Hoffnung. Die Liebe.
„Beyond“ bedeutet „darüber hinaus“. Oder „jenseits davon“. In Beyond 2025 geht es vor allem um die Frage, wie wir alle – jede:r Einzelne, aber auch die gesamte Gesellschaft – zur Zukunft stehen. Wie gehen wir mit ihr um? Wie konstruieren wir sie? Was unterscheidet etwa Visionen von Utopien? Utopien schreiben eine Zukunft fest, die niemals erreicht werden kann – und sich deshalb selbst zerstört. Visionen hingegen sind Orientierungen, Leuchsterne beim Finden des besseren Weges. Wenn man das Utopische mit dem Visionären verbindet, kann etwas Besseres entstehen. Neben der Utopie gibt es auch noch die Protopie, die Eutopie oder die Polytopie – Varianten des Möglichkeitsraums, den wir als „Zukunft“ wahrnehmen.
Es sind die Tiefenfragen unserer Zeit, die uns in Beyond 2025 bewegen: Wie verändert das Gespenst der „Künstlichen Intelligenz“ unsere Selbstbilder und menschlichen Fähigkeiten? Wie kann das „Solar Age“, das Zeitalter der kosmischen Energie, zur Realität werden – oder ist es das möglicherweise schon? Wie muss sich der Wandel selbst wandeln, damit das Neue wahrhaftig werden kann? Welche Denk- und Fühlweisen folgen auf die ermüdeten Narrative der Moderne und der Postmoderne?
Naomi Alderman, die Autorin des weltweit zum Bestseller avancierten Romans „The Future“, formulierte einmal eine pfiffige Frage: „Was ist die nützlichste Information, die du über dein Leben haben kannst? Der Name der Epoche, in der du leben wirst.“
Es geht um das Next Age. Um die Epoche, die nach der Omnikrise beginnt. Denn nach jeder chaotischen Phase folgt wieder eine Renaissance. Können wir gemeinsam in die nächste Epoche hineinfühlen, hineinspüren? Dem Kommenden einen Namen geben? Einen Mythos finden?
Machen wir Zukunft. Jetzt und hier, trotz allem, das uns bedrückt.
von The Future:Project
28. August 2024
Kriege, Polarisierung, Hasskultur, Klimakrise. Die Zukunft sieht ganz schön düster aus. Manchmal fragen wir uns, kann eigentlich noch irgendwas die Zukunft retten? Wie ist das alles nur möglich, was uns jeden Tag verunsichert, ängstigt, irritiert, fertig macht?
Aber dann kippt etwas – und zwar innerhalb weniger Tage, wie zuletzt im US-amerikanischen Wahlkampf. Man nennt das einen „Semantic Shift“: Plötzlich sind Bedeutungen, die milliardenfach durch die Medien gegangen sind und sich in Abermillionen von Hirnen eingespeichert haben (Trump ist gefährlich, wir müssen uns fürchten, die Demokratie ist verloren, die Bösen gewinnen, man kann sowieso nichts machen…) umcodiert worden.
Manchmal ist ein einziges Wort entscheidend, um diesen Tipping Point herzustellen. Weird. Durch diese Vokabel erscheint Trump plötzlich nicht mehr als der dämonische Deutungsmächtige, Gefährliche, Unaufhaltbare. Sondern als der verrückte alte Narzisst, der er tatsächlich ist. Nicht für alle, aber für immer mehr Menschen findet hier ein Abschied vom Dämonischen statt. Und das ist mit viel Lachen und Freude verbunden.
Zuständig für diese erstaunliche Wandlung ist eine Zukunfts-Kraft, die sich spontan bilden kann, auch und gerade in einer Zeit der Omnikrise: Die Zuversicht. Während Hoffnung wartet, dass irgendwo „von oben” Erlösung kommt, ist die Zuversicht offen für das Staunen. Und im Staunen verwandeln wir uns selbst.
Momentum. Das ist ein Moment, in dem sich die Dinge neu, zum Zukünftigen hin, zusammenfügen. In der Systemforschung nennt man das Emergenz. Die überraschende Fähigkeit von Individuen, Gruppen, Gesellschaften, Organisationen, Kulturen, sich plötzlich spontan und kreativ zu verwandeln. Man kann die Welt zum Leuchten bringen, wenn man ihre in die Zukunft gerichtete Komplexität versteht. Wie der Komplexitätsforscher Neil Theise, Professor für Pathologie, Zen-Schüler und Pionier auf dem Gebiet der Plastizität adulter Stammzellen, in seinem Buch „Notes on Complexity” formulierte: „Komplexität hat das Potential, die ganze Welt von einer Wolke der Möglichkeiten in eine andere zu schieben.”
Um unser inneres Zukunftsmomentum zu finden, sollten wir zunächst unsere Mediengewohnheiten überprüfen. Was lesen wir, was sehen wir, was nehmen wir von der großen Welt um uns herum tatsächlich wahr? In einer Zeit, in der die Medien zu Verstärkern von Erregungen geworden sind, ist das eine entscheidende Frage. Wir alle leben inzwischen in einer kognitiven Blase, in der das Negative, Unlösbare überwiegt, einfach weil es mehr Aufmerksamkeit erregt. Das heißt nicht, dass das Schlechte nicht existiert. Aber wir werden es nur vom Besseren aus verändern können.
Das Gelingende wird ausgeblendet. Aber steht es wirklich so schlecht um unsere Welt? Geht wirklich alles den Bach herunter, auf unserem Planeten? Wir haben eine kleine Auswahl von Zuversichten zusammengestellt: Narrative, Fakten, Trends und Geschichten über unsere Welt, in denen das Bessere aufscheint. Das Momentum, in dem die Welt sich verwandelt.
1. Die Wale kehren zurück
Nach Jahrzehnten des Walfangs erholen sich die Bestände vieler Walarten wieder. Besonders erfreulich ist die Nachricht, dass die Population der Buckelwale in der Cumberland Bay auf den Südgeorgischen Inseln fast wieder auf das Niveau von 1904 angestiegen ist. Diese Entwicklung zeigt, dass Naturschutzmaßnahmen tatsächlich wirken und die Natur sich erholen kann. Ein Wal bindet während seines Lebens die gleiche Menge Kohlenstoff wie tausend Bäume. Das heißt, durch die Wiederherstellung der Walpopulation kann auch das Ökosystem der Meere wiederhergestellt und die Folgen des Klimawandels abgemildert werden.
Die Kosten für Solarenergie sind in den letzten Jahren dramatisch gesunken – allein von 2010 bis 2022 um fast 90 Prozent. Dies hat die Solarenergie zur günstigsten Stromquelle weltweit gemacht. Länder wie China, die USA und Indien investieren massiv in erneuerbare Energien, was den globalen CO2-Ausstoß langfristig reduzieren könnte.
Die Alphabetisierungsrate weltweit ist beeindruckend gestiegen. 1980 konnten etwa 68 Prozent der Weltbevölkerung lesen und schreiben, heute sind es 87 Prozent. Der Trend geht ganz klar in Richtung mehr Zugang zu Bildung für alle.
Dank globaler Initiativen und struktureller Veränderungen ist ein Ende des Hungers in Sicht. Organisationen wie die „World Central Kitchen“ leisten unermüdliche Arbeit, um Menschen in Not mit frischen Mahlzeiten zu versorgen. Diese und andere Maßnahmen könnten dazu führen, dass Hunger in naher Zukunft weltweit der Vergangenheit angehört.
Immer mehr Frauen sind in Parlamenten vertreten, und die Rechte queerer Menschen verbessern sich weltweit. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Anteil weiblicher Abgeordneter stetig erhöht, und zahlreiche Länder haben Gesetze verabschiedet, die die Rechte von LGBTQ+ Menschen stärken.
Wälder auf der ganzen Welt erholen sich. So gibt es heute in den USA mehr Bäume als vor 100 Jahren. Initiativen wie „Plant for the Planet“ pflanzen Millionen Bäume weltweit, was nicht nur zur Bekämpfung des Klimawandels beiträgt, sondern auch Lebensräume für unzählige Arten wiederherstellt.
Globalisierung und technologische Fortschritte haben die Welt näher zusammengebracht. Internationale Kooperationen und Initiativen fördern den Austausch von Ideen und Ressourcen, was zu einer besseren Bewältigung globaler Herausforderungen führt. In einer globalen Umfrage in 18 Ländern gab etwa die Hälfte der Befragten an, sich eher als Weltbürger:innen zu fühlen, denn als Bürger:innen ihrer Nation.
Innovative Lösungen helfen, mit extremer Hitze umzugehen. So entstehen etwa Gebäude, deren Fassaden nach dem Vorbild von Elefantenhaut gebaut werden, um die Hitze abzuhalten. In Afrika wächst ein Baumgürtel, der die Ausbreitung der Wüste aufhalten und das Klima stabilisieren soll.
Es gibt immer mehr Plattformen, die konstruktive Nachrichten verbreiten und positive Entwicklungen in den Vordergrund stellen. Portale wie „Reason to be Cheerful“ oder „Positive News“ zeigen, dass es zahlreiche Gründe gibt, optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Welche Transformationen führen uns aus der Krise? In unserer neuen Meta-Studie „Omniskrise“ zeigen wir weitere konstruktive Wege in die nächste Gesellschaft auf.
Wie uns eine Krise, in der alles miteinander zusammenhängt, den Weg in die Zukunft zeigt.
Transformation ist das Thema unserer Zeit – und zugleich so voraussetzungsreich wie nie zuvor. Wie kann systemischer Wandel in der nächsten Gesellschaft gelingen? Ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Future:Transformation“.
27. Juni 2024
Im 21. Jahrhundert befindet sich die Weltgesellschaft im größten Umbruch seit der Industrialisierung. Der Übergang in die „nächste“, vernetzte Gesellschaft, sowie die große Transformation von der fossilen zur postfossilen Gesellschaft sind in Ausmaß und Intensität vergleichbar mit den beiden früheren fundamentalen Transformationsprozessen der Menschheitsgeschichte: der Neolithischen Revolution, die Ackerbau und Viehzucht weltweit verbreitete, und der Industriellen Revolution, die den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft markierte.
Allerdings ist der Epochenwandel unserer Zeit auch ein historisches Novum. Resultierten die vorigen Umbrüche jeweils aus einem allmählichen evolutionären Wandel, angetrieben durch neue technologische und ökonomische Möglichkeiten, herrscht heute ein akuter Veränderungsdruck. Die Vielzahl globaler systemischer Krisenphänomene, allen voran die Klimakrise, führt in eine „Omnikrise“. Sie macht klar, dass wir die Aufgabe haben, einen fundamentalen Systemwandel zu gestalten. Deshalb ist Transformation das Thema unserer Zeit.
Zugleich sind die Startbedingungen für das Angehen dieser systemrelevanten Veränderungen heute komplexer als je zuvor. Denn die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts steht geradezu sinnbildlich für Unplanbarkeit: Die alten Vorstellungen von Eindeutigkeit und Steuerbarkeit, die noch bis ins späte 20. Jahrhundert galten, werden unter vernetzten Vorzeichen obsolet. Langfristig stabile oder verlässlich berechenbare Strukturen lösen sich auf. Die Netzwerkgesellschaft ist im Kern volatil und unsicher.
Die zentralen Zukunftsfragen lauten daher: Wie ist Transformation unter hochgradig komplexen und vernetzten Bedingungen überhaupt möglich? Und wie können wir (wieder) zu aktiven Gestalter:innen der Zukunft werden, anstatt Veränderung passiv zu erdulden oder uns reaktiv an den Wandel anzupassen?
Auch – oder sogar: gerade – unter digitalisierten Vorzeichen gilt: Transformation lebt im Kern von der Aktivierung menschlicher Vorstellungskraft. Das zentrale Tool für Transformation sind deshalb nicht Daten – denn sie können stets nur aussagen, was in Bezug auf bestimmte Parameter passieren wird. Dieses lineare Denken hilft nicht weiter, wenn es darum geht, neue Perspektiven zu eröffnen auf das, was Menschen bewirken können. Erst die Kraft der Imagination lässt Wandel zur Befreiung werden. Entscheidend für den Willen zur Veränderung, für die Lust auf Transformation, ist der Glaube an die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Und die praktische Erfahrung von Veränderung – nicht als passives Adaptieren, sondern als aktives Kreieren.
Transformation geschieht deshalb immer menschengeleitet, in Form einer erhöhten Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit. Und: nie zentral gesteuert und top-down, sondern „verstreut“. Um transformative Kräfte zu entfalten, braucht es deshalb vor allem wirksame Motive und Anregungen zum Verlassen des Status quo. Die Transformabilität (transform ability) eines Systems wird also nicht von effizient gestalteten Strukturen und Technologien bestimmt. Sondern: von richtungsweisenden Begründungen, mit denen Menschen Technologien und Institutionen kreieren, erzählen, verbreiten.
Insgesamt erfordert die Komplexität heutiger Krisen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in unserem Transformationsverständnis: weg von einem Denken in linearen Phasen, das im Kern noch immer der alten „Change“-Idee verhaftet ist, hin zu einem komplexeren, evolutionären Zugang, der Transformation als fortwährendes Erschaffen und Etablieren systemrelevanter Elemente und Zusammenhänge begreift.
Eine Theorie der Transformation kann nur dann zukunftsweisend sein, wenn sie Veränderung als nichtlinearen Verlauf versteht, in dem der Auf- und Ausbau des Neuen stets parallel zum Bewahren und Verabschieden des Alten entwickelt wird. Wandel ist also immer ein Lernprozess, der auch das Ver-lernen beinhaltet: das Verabschieden von Denk- und Handlungsweisen, die sich nicht (mehr) bewähren. In diesem Sinne ist transformatives Lernen immer Erfahrungslernen. Es folgt keinem vermeintlich perfekten Plan, sondern oszilliert permanent zwischen Noch-nicht-ganz-Verstehen, Etwas-besser-Verstehen und Weiter-Probieren.
Die Grundlage für dieses dynamisch-nichtlineare Verständnis von Veränderung ist ein Transformation Mindset, das Wandel als Konstante betrachtet – und immer auch als Chance. Diese Perspektive prägt auch das Transformationsmodell des Future:Project, das Wheel of Transformation.
Ein Gastbeitrag von Anja Kirig und Marcel Aberle
26. Juni 2024
Die EM 2024 soll ein „Heimspiel für Europa“ werden, ein großes Fußballfest, das gleichzeitig neue Maßstäbe bei der Nachhaltigkeit von Sportgroßveranstaltungen setzen soll. Kann das gelingen? Und welche Rolle spielen die großen Transformationen unserer Zeit für die Zukunftsfähigkeit von Sport(groß)veranstaltungen?
Konnektivität beeinflusst den Sport auf vielen Ebenen. Nicht nur Großsportveranstaltungen wie die EM 2024 nutzen immer mehr digitale Schnittstellen. Dabei geht es künftig nicht nur darum, innovative Tools einzusetzen, sondern eine digitale Kultur zu schaffen, die den Sport bereichert und zugänglicher macht. Die Transformation zur Human Digitality bedeutet interaktive Plattformen, virtuelle Fan-Erlebnisse und erweiterte Realität (AR), die das Erlebnis sowohl vor Ort als auch online intensiver gestalten können.
Nicht ganz EM, aber Fußball der Zukunft: Im April 2024 stellte Newcastle United ein spezielles Trikot für hörgeschädigte Fußballfans vor, das in der Lage ist, Geräusche des Stadions in Vibrationen umzuwandeln, wodurch die Atmosphäre spürbar wird. Das Trikot wurde in Zusammenarbeit mit dem Trikotsponsor Sela und dem Royal National Institute for Deaf People entwickelt. Das Trikot nutzt Sensoren, die während der Aktionen im Stadion vibrieren und die Geräusche des St. James’ Park in Echtzeit in ein Tastgefühl umwandeln. Diese Mechanismen transformieren die akustischen Reaktionen der Menschenmenge in spürbare Vibrationen und ermöglichen es den Fans, die Stadionatmosphäre über ihrer Haut zu spüren.
Ein weiterer wichtiger Trend ist die Transformation zur Conscious Economy. Hier stehen nachhaltige und soziale Werte im Mittelpunkt, nicht ausschließlich der Profit. Dies steht im Gegensatz zu den bisher sehr wirtschaftlich ausgerichteten Großsportveranstaltungen. Von Sponsoren über Merchandising bis hin zu Zulieferern und Organisationen ist es wichtig, Partner zu hinterfragen und zu prüfen. Mehr Engagement in sozialen Projekten, wie Jugend- und Breitensport oder die Integration benachteiligter Gruppen sollten im Fokus stehen. Solche Initiativen könnten langfristig die Wahrnehmung und Organisation von Sportevents hin zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung verändern.
Sport handelt Fair ist ein Zusammenschluss von NGOs, Sportvereinen, Verbänden und Kommunen, die sich bundesweit für die Themen Sport, fairer Handel und Nachhaltigkeit engagieren. Eine der Initiativen ist die Erstellung einer Produktliste für fair gehandelte und ökologisch hergestellte Sportkleidung und -materialien, die sowohl für Individualsportler als auch für Kommunen und Vereine geeignet sind. Die Grundlage dieser Liste ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Produkten und Herstellern von Sportartikeln, um empfehlenswerte Produkte zu identifizieren. Bei der Bewertung der Nachhaltigkeit wurde die gesamte Lieferkette berücksichtigt, wobei soziale und ökologische Faktoren gleichermaßen einbezogen wurden.
Großsportveranstaltungen haben die Chance, Vielfalt und Inklusion zu fördern. Durch inklusive Strukturen und die Betonung einer Gemeinschaft kann eine Gesellschaft entstehen, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern aktiv feiert und integriert. Die Legacy solcher Events könnte eine dauerhaft inklusivere Sportkultur sein. Gerade die EM, die leicht informelle Gruppen bildet, kann helfen, der globalen Einsamkeitskrise entgegenzuwirken. Dabei müssen aber stets die individuellen Eigenarten und Hintergründe der Teilnehmenden berücksichtigt werden.
Zum Eröffnungsspiel der UEFA EURO 2024 ist die FlipKick-Webseite online gegangen. Auf flipkick-fussball.de stehen über 100 Videos zur Verfügung, die Begriffe aus dem Fußball in Deutsche Gebärdensprache (DGS) zeigen, wie zum Beispiel Anstoß, Bundestrainer:in, Finale und Nationalmannschaft. Die Begriffe wurden von jungen Fußballfans übersetzt. Ziel ist es, die Verständigung und das Miteinander unter den Fans zu ermöglichen. Bereits im Vorfeld der EM 2024 fanden Workshops im Rahmen von FlipKick statt, die von Bundesligisten wie FC St. Pauli oder Schalke 04 veranstaltet wurden.
Eine EM kann daher auch als Bühne genutzt werden, um gesellschaftliche Wertediskurse im Kontext der Mindshift Revolution mitzugestalten. Durch die Auswahl vielfältiger Sportbotschafter:innen, die Unterstützung von Athlet:innen-Initiativen und die Sensibilisierung für Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, soziale Inklusion und Gesundheit können Stereotype überwunden und ein breiteres Verständnis von sportlicher Teilhabe entwickelt werden. Dies kann die gesellschaftliche Vielfalt im Sport langfristig erhöhen.
Der Fanclub der Deutschen Nationalelf „Eff Zeh Confianza n.e.V.” wurde Ende 2023 gegründet. Ziel des Vereins ist es, die Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland zu einem bunten Event zu machen und ein neues Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft zu schaffen. Die Initiatoren, Sebastian Schuhl und Jonas Schuster, haben dafür die Initiative „Football for All“ ins Leben gerufen. Diese Initiative betont die verbindende Kraft des Fußballs und seine universelle Sprache, die Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zusammenbringt. „Football for All“ möchte Vielfalt und Toleranz im Fußball und in der Gesellschaft fördern. Außerdem soll ein Gemeinschaftsgefühl durch Aktionen wie den bunten Fan-Schal, der für Vielfalt und Toleranz steht, geschaffen werden. Dieser eigens entworfene Fan-Schal symbolisiert diese Werte und wird in einem Berliner Fußball-Startup produziert. Ein Teil des Erlöses geht an die Organisation Buntkicktgut. Der Fußball soll seine Rolle als Breitensport nutzen, um Menschen zu vereinen und ein inklusives Umfeld zu schaffen.
Großsportveranstaltungen sind internationale Magneten mit der Möglichkeit, lokale Identitätsverständnisse zu stärken. Sie sind Aushängeschild für eine Region, für eine gewisse lokale Kultur und ermöglichen darüber, Glokalisierung lebendig werden zu lassen. Die Legacy – der Zukunftswert – solcher Events kann eine stärkere Wertschätzung und Förderung lokaler Kulturen sein, ohne ein Prinzip des globalen Miteinanders zu eliminieren.
Das kostenlose Bildungscamp ‚FAIRkickt‘ bietet im Rahmen der EM 2024 in Frankfurt am Main eine Plattform für innovative Ansätze in den Bereichen Klimaschutz, globale Gerechtigkeit, Inklusion und Gleichstellung – stets unter dem Leitmotiv Fußball und Breitensport. Eine der Veranstaltungen widmet sich der Bedeutung migrantischer und diasporischer Sportvereine. Diese Vereine stehen für die kulturelle Vielfalt Frankfurts, bleiben jedoch oft unbeachtet. Die Veranstaltung ermöglicht es den Vereinen, sich vorzustellen, gefolgt von einer Diskussionsrunde mit der Bürgermeisterin von Frankfurt, in der die Vereinsvertreter ihre Beiträge und Herausforderungen thematisieren.
Anstatt auf bestimmte sportliche Aktivitäten oder Ressourcen zu verzichten, hat die EM die Chance, innovative Lösungen zur Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks umzusetzen. Der Gedanke des ökologischen Handabdrucks, der positive Nachhaltigkeitswirkungen und gesellschaftlichen Mehrwert erfasst, misst und bewertet, kann hier einen direkten Mehrwert schaffen. Als elementarer Teil der Eco Transition zeigen solche Maßnahmen, dass nachhaltige Sportevents möglich sind, ohne die Qualität oder das Erlebnis der Teilnehmenden zu beeinträchtigen. Langfristig könnten sie als Vorbild für künftige Veranstaltungen dienen und die Nutzung nachhaltiger Praktiken im Sport fördern.
Der Spielplan wurde nach Nachhaltigkeitsaspekten gestaltet, um Reisen für Teams und Fans zu minimieren. Dies reduziert zusätzliche Emissionen durch Flüge oder Autofahrten. Laut dem ESG-Bericht der UEFA sollen Mannschaftsreisen in Deutschland per Bahn oder Bus erfolgen. Zudem wird Ticketinhabern eine 36-stündige Nutzung des lokalen Nahverkehrs von 6.00 Uhr am Spieltag bis 18.00 Uhr am Folgetag ermöglicht.
Die sechs großen Transformationen unserer Zeit beeinflussen auch die Zukunft des Sports und der Großveranstaltungen wie der EM. Sie zu verstehen und zu nutzen, bedeutet, die Zukunft und den Zukunftswert von Großsportveranstaltungen mitzugestalten. Denn Sport ist von Emotionen geprägt, und Emotionen führen zu Handlungen (im Gegensatz zu Fakten, die oft nur zum „Wir sollten doch, müssten wir nicht?!“ führen).
Der Sport – und speziell der Fußball als größte Sportart der Welt – bildet somit einen essenziellen Hebel in Bezug auf den systemischen Wandel im Übergang zur nächsten Gesellschaft.
Welche Trends beeinflussen die Transformation des Sports? Das Future:System, die transformative Trendsystematik des Future:Project, beleuchtet diese und viele weitere Wandlungsprozesse unserer Zeit – und identifiziert dabei konkrete Gestaltungspotenziale für eine lebenswerte Zukunft.
Die Sozialwissenschaftlerin Anja Kirig beobachtet kontinuierlich gesellschaftliche Veränderungsprozesse, insbesondere in den Bereichen Sport und Tourismus sowie Gesundheit, Nachhaltigkeit und Post-Individualisierung.
In ihren Vorträgen bereitet sie die Inhalte eloquent und anschaulich auf, eröffnet Möglichkeitsräume und bietet Orientierung.
Im Fokus des Informatikers und Sport-Experten Marcel Aberle stehen die Transformationen Human Digitality und Conscious Economy und deren Impact auf die Gesellschaft. In seiner Arbeit verbindet er Trendforschung mit Hands-on-Qualität und liefert wertvolle Handlungsempfehlungen für eine lebenswerte Zukunft.
Wie muss sich die Demokratie im 21. Jahrhundert verändern, um zukunftsfähig zu sein?
Ein Auszug aus der Metastudie „Die Omnikrise“.
6. Juni 2024
„Heute haben die westlichen Demokratien sowohl mit einer Legitimitätskrise als auch mit einer Effizienzkrise zu kämpfen“: So diagnostizierte der belgische Historiker David Van Reybrouck schon vor rund einem Jahrzehnt den Krisenmodus der Demokratie. Die Signale für diesen Befund haben sich den vergangenen Jahren kontinuierlich verdichtet. Von sinkenden Wahlbeteiligungen und Parteibeitritten bis zum Erstarken radikaler Kräfte, die offen die Demokratie bedrohen. Weltweit stehen liberale Demokratien heute unter Druck und wirken schwerfällig und schwunglos im Angesicht der Omnikrise.
Im 21. Jahrhundert ist die Demokratie strukturell mit erschwerten Bedingungen konfrontiert. Denn eine hochkomplex vernetzte Gesellschaft ist immer weniger in der Lage, das demokratische Grundversprechen einzulösen: die Einbeziehung aller Bürger:innen. In der Netzwerkgesellschaft kann Teilhabe nicht mehr garantiert werden, im Gegenteil: Netzwerke schließen alle aus, die nicht dazugehören. Auch deshalb agieren autoritäre Länder heute deutlich effizienter als demokratische Systeme.
Zudem bewirkt die Vernetzung eine mediale Fragmentierung, die einen echten öffentlichen Diskurs verhindert und polarisierende Tendenzen stärkt. Vor allem soziale Medien stellen unvereinbare Sichtweisen stärker denn je heraus und ermöglichen die unkritische Bestätigung jeweils eigener Positionen – zugunsten radikalisierter Kräfte. Auch die Verbreitung Fake News, zunehmend durch KI-Chatbots, wirkt destabilisierend. Je mehr dabei Deutungs- und Erfahrungsräume auseinanderfallen, umso verzerrter wird das Bild der öffentlichen Debatte. Und umso mehr kann sich die Vorstellung verfestigen, die Demokratie sei eine Art Dienstleister, dem man das Vertrauen entziehen kann, wenn die Ergebnisse nicht passen.
Doch so wie die Vernetzung das demokratische System herausfordert, setzt sie zugleich neue transformative Kräfte für eine demokratische Revitalisierung frei. Die zentralen Zukunftsfragen lauten dabei: Wie kann es der Demokratie gelingen, Bürger:innen nicht nur als Konsumierende, sondern als aktiv Mitgestaltende zu adressieren? Wie kann das politische System auch in der vernetzten Gesellschaft Teilhabe gewährleisten? Und welche Formen demokratischer Partizipation können dabei helfen?
Die Grundvoraussetzung für partizipative Maßnahmen in Richtung „mehr Demokratie“ ist ein Bewusstseinswandel im politischen System. Die Erkenntnis, dass soziale Kräfte nur dann freigesetzt werden können, wenn entsprechende Handlungsspielräume bestehen, innerhalb derer sich bürgerliches Engagement überhaupt entfalten kann. Der Fokus liegt dabei auf der praktischen Umsetzung: Zentral sind Räume der Teilhabe, die mehr Bürgerbeteiligung und Austausch ermöglichen.
Viele konkrete Ideen für partizipative Formate werden bereits erfolgreich erprobt. Dazu zählt etwa das Konzept einer „Monitorial Citizenship“. Das kontinuierliche Monitoring von Regierungsaktivitäten durch Bürger:innen hilft, Misstrauen in politische Institutionen produktiv zu kanalisieren und zu reduzieren. Ähnliches ermöglicht die Open-Source-Software Consul Democracy: Städte und Stadtviertel können auf Basis von Behördendaten Wahlen oder Online-Abstimmungen durchführen und geplante Gesetzesvorhaben vorab diskutieren. Bürger:innen können zudem Vorschläge für Projekte einreichen, die sie mit öffentlichen Geldern umsetzen möchten. Das Programm wird bereits in 35 Ländern genutzt, darunter auch Deutschland.
Zahlreiche bürgerdemokratische Pionierprojekte belegen zudem, wie eine stärkere Bürgerbeteiligung die Akzeptanz politischer Entscheidungen und die Zustimmung zur Demokratie erhöht. So verbessern niedrigere Hürden für Volksbegehren und -entscheide oder Ämter wie eine „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ nicht nur die Umsetzung zivilgesellschaftlicher Anliegen. Sie zeigen auch, dass mehr Teilhabe die Bürger:innen zufriedener und sozial engagierter macht. Länder, in denen Demokratie ständig erlebbar wird, weil Menschen an Entscheidungen beteiligt und zu konstruktiver Mitbestimmung aufgefordert sind, sind weniger demokratiefeindlich.
Zunehmender Beliebtheit erfreut sich dabei die Wiederentdeckung der Losdemokratie. Von den Ursprüngen der Demokratie im alten Athen bis weit ins 18. Jahrhundert wurden die Mitglieder der Volksvertretung nicht gewählt, sondern ausgelost. Heute wird das Losprinzip zunehmend in Form von Bürgerräten umgesetzt. Dabei ermöglicht es eine echte Repräsentation der gesamten Gesellschaft und erzeugt eine hohe persönliche Verantwortung – sowohl für die zufällig ausgewählten Bürger:innen, die aktiv Lösungen entwickeln, als auch für die Politiker:innen, die mit diesen Lösungen weiterarbeiten.
Als Dialogformate mit offenem Ausgang eröffnen Bürgerräte einen Prozess, der die demokratische Kultur verwirklicht, indem er Bürger:innen aus ihren medialen Bubbles herauslöst. Das kann einen echten Mindshift bewirken: Fangen Menschen an, in einem gesicherten Rahmen miteinander über akute politische Herausforderungen zu reden, werden Vorurteile abgebaut, und die Wertschätzung gegenüber der Politik steigt. „Bürgerräte sind Schmelztiegel für harte Fronten“, sagt Claudine Nieth, Vorständin des Vereins „Mehr Demokratie“. In Deutschland wurde 2019 erstmals ein losdemokratischer Bürgerrat eingesetzt. Inzwischen hat der Bundestag eine eigene Stabsstelle für Bürgerräte geschaffen.
Bürgerräte sind ein Beispiel für neue Räume der Begegnung und des gemeinsamen Tuns, die Brückenschläge über die Gräben der Polarisierung ermöglichen. Diese Räume zu schaffen und auszubauen, ist elementar für die Demokratie im 21. Jahrhundert: als Zonen, in denen sich verschiedene Eigenlogiken gegenseitig irritieren und abgleichen können. Das leisten auch Initiativen wie „Deutschland spricht“, wo fremde Menschen zusammengebracht werden, um über Politik zu diskutieren, oder Wertedialoge wie die Z2X-Community. In die gleiche Richtung wirkt ein neues, konstruktives Verständnis von Journalismus, das auf Vermittlung und Verständigung zielt.
Für die politischen Parteien folgt daraus der Auftrag, stärker auf Austausch und Dialog anstatt auf Konfrontation und Rivalität zu setzen. Stellvertretend dafür steht das Prinzip der sogenannten Konkordanzdemokratie: Im Gegensatz zur vorherrschenden Konkurrenzdemokratie, in der Konflikte vor allem durch politische Mehrheiten und Parteien-Wettbewerb gelöst werden, zielt eine auf Konsens ausgerichtete Demokratie auf die Aushandlung von Kompromissen, um Unstimmigkeiten zu lösen. Vorreiter sind Luxemburg und die Schweiz, wo gemeinsam gefällte Beschlüsse von allen Regierungsmitgliedern nach außen vertreten werden. Die eigentliche Opposition bilden dann die Bürger:innen selbst, die mittels direkter Demokratie in den politischen Prozess eingreifen können.
Unterstützt werden könnte ein konsensorientiertes politisches Miteinander auch durch das Konzept der „Smart Governance“: die Auslagerung längerfristiger, komplexer Themen an kompetente Fachinstitutionen wie Think Tanks, Universitäten oder NGOs. Eine dezentrale und transparente Expertise fördert nicht nur die Balance zwischen operativer Unabhängigkeit und demokratischer Legitimation. Sie ermächtigt die Politik auch, Probleme nicht nur zu reparieren, sondern Themen proaktiv anzupacken.
Aktuell leidet die Demokratie vor allem darunter, dass sie zu wenig und zu selten erlebbar ist. Lediglich alle vier Jahre wählen zu können, reicht nicht aus, um ein Gefühl demokratischer Selbstwirksamkeit zu erfahren. Und jüngere Bürger:innen – die Ressource der künftigen Demokratie – müssen in der Regel noch immer bis zum 18. Geburtstag warten, um überhaupt wählen zu dürfen. Auch generelle eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre wäre daher eine konkrete Maßnahme für mehr demokratische Resonanzerlebnisse.
In einer partizipativen Demokratie entfaltet ein „aktivierender“ Sozialstaat demokratische Kräfte, indem er nicht nur klare Regulierungen setzt, sondern auch bessere Rahmenbedingungen schafft für mehr Eigeninitiative und Selbstorganisation. Erst wenn Menschen ermächtigt werden, eigenständig neue Formen von Partizipation zu realisieren, können auf breiter Basis neue Möglichkeiten eines übergreifenden, gemeinsamen Handelns entstehen – und neue Weltbilder jenseits populistischer Protestkulturen und ideologischer Grabenkämpfe.
Die Leitformel für demokratischen Zusammenhalt in der nächsten Gesellschaft lautet daher: mehr Selbstorganisation – innerhalb abgesicherter Rahmenbedingungen. Der Staat leistet dann gewissermaßen Hilfe zur Selbsthilfe, indem er es seinen Bürger:innen ermöglicht, sich selbst zu ermächtigen. Zum einen geschieht dies durch konkrete, praktische Projekte und Räume, die Dialoge und Begegnungen ermöglichen, neue Identitätsangebote vermitteln und eine Kultur der „kooperativen Abgrenzung“ fördern. Zum anderen durch verlässliche materielle Rahmenbedingungen, die es Menschen überhaupt erst ermöglichen, frei und freiwillig zu agieren.
Erst ein gewisser Standard an sozialer und finanzieller Absicherung ermöglicht wirksame Spielräume für selbstorganisiertes Handeln – so wie das Fehlen dieser Spielräume die Flucht in populistische, reaktionäre Ideen und Organisationen fördert. Daher braucht eine zukunftsfähige Demokratie auch neue Halteseile, die das Abweichen von altbekannten Pfaden ermöglichen und fördern, ohne Existenzen zu gefährden. Ideen für das Knüpfen solcher Halteseile bilden etwa die Konzepte eines Bedingungslosen Grundeinkommens und eines Bildungsgrundeinkommens oder auch der Vorschlag des französischen Ökonomen Thomas Piketty einer staatlich finanzierten „Erbschaft“ für alle 25-jährigen.
In der nächsten Gesellschaft wird die Rolle des Staates zunehmend die eines Moderators sein, der klare Regeln aufstellt und die kollektive Selbstorganisation unterstützt. Auf dieser Grundlage kann eine neue, konstruktive „Bürger:innen-Bewegung“ entstehen: Menschen, die sich stärker selbst organisieren und dabei aktiv unterstützt werden von einem Staat, der zwar Verantwortung übernimmt, aber erkennt, dass seine wahre Macht auf der Ermächtigung anderer beruht.
Die große Herausforderung für die Politik besteht künftig darin, mutige und realistische Angebote für einen konstruktiven Umgang mit einer hochkomplexen Gegenwart und Zukunft zu machen. Dass der Wille in der Bevölkerung dafür vorhanden ist, beweisen die großen Demonstrationen gegen das Erstarken rechtsradikaler, antidemokratischer Kräfte – ein mächtiges Zeichen für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie.
Die Idee der Demokratie lebt also weiter. Auch und gerade im Zeichen der Omnikrise. Sie wächst durch jede einzelne Erfahrung, in der sie in der sozialen Alltagspraxis erlebbar wird – denn am Ende entscheidet sich immer im Kleinen, ob große Herausforderungen gelingen oder scheitern.
Der zentrale Faktor für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist daher die Förderung einer partizipativen Demokratie, die das Gemeinsame erlebbar macht, ohne das Unterschiedliche auszublenden. Letztlich zielt dieser Transformationsprozess auf eine neue, kooperative(re) Gesellschaft: eine Co-Society, die das Verbindende betont und ein neues Miteinander stärkt. Den Grundstein dafür bildet eine vitale und handlungsfähige Demokratie, in der Politik und Bürger:innen einander ernst – um gemeinsam die großen transformativen Aufgaben unserer Zeit anzugehen.
Wie uns eine Krise, in der alles miteinander zusammenhängt, den Weg in die Zukunft zeigt.
Ein Auszug aus dem focus:book „Raum – Räume transformieren, Zukunft gestalten“
von Nina Pfuderer und Jonas Höhn
29. Mai 2024
Wie gelingt es uns angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Transformationsdynamiken, unsere alltäglichen Lebensräume zukunftsfähig zu gestalten? Lassen wir den Veränderungen ihren Lauf, oder entscheiden wir uns dazu, bewusst und aktiv den Wandel mitzugestalten? Wie wollen wir in Zukunft leben – und welche Räume brauchen wir dafür?
Im Raum manifestieren sich nicht nur Strukturen der Vergangenheit und Gewohnheiten der Gegenwart, sondern auch unsere Wünsche und Träume – und immenses Zukunftspotenzial. Die aktive und gestalterische Beschäftigung mit Raum kann kreative Energien freisetzen und bisher geltende Weltanschauungen dekonstruieren. Raum ist ein Gestaltungselement für eine lebenswerte Zukunft.
Legen wir den Fokus auf diese Transformationspotenziale, sehen wir Raum nicht mehr nur als etwas Gegebenes, sondern als eine Projektionsfläche, die genutzt werden kann, um aktiv eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. Solche Fokusverlagerungen – weg vom Vergangenen und Gegenwärtigen hin zu konstruktiven Zukunftsvorstellungen – haben direkte Effekte: In der Architektur erhalten Nachhaltigkeit, Resilienz und gesellschaftlicher Wandel einen viel größeren Stellenwert als die kurzfristige Effizienzmaximierung. In der Stadtplanung und Raumentwicklung können Räume so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen künftiger Gesellschaften entsprechen, statt in der Vergangenheit verhaftet zu sein. Und es wird deutlich, dass die begrenzte Ressource Raum eigentlich reichlich vorhanden ist – sofern man sie effektiv gestaltet. So entstehen Transformationsräume.
Die im focus:book „Raum“ versammelten Beiträge von Expert:innen aus unterschiedlichsten Bereichen verbindet ein gemeinsamer Kern: Sie alle legen ihren Fokus auf die Transformation hin zu lebenswerten und wünschenswerten Räumen der Zukunft. Aus den verschiedenen Schwerpunkten und einzigartigen Raumbeispielen lassen sich zugleich übergreifende und essenzielle Merkmale von Transformations- und Zukunftsräumen herauslesen.
… inklusiv, weil sie die Alltagsbedürfnisse möglichst aller Menschen erfüllen.
… gemeinschaftlich, weil sie individuelle Akteur:innen verbinden und sozialen Zusammenhalt fördern.
… gesundheitsfördernd, weil sie Wohlergehen als Fundament in der Gesellschaft verankern.
… multifunktional und mehrdimensional, weil sie verschiedene Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen können.
… adaptiv, weil sie sich an gegenwärtige und künftige Herausforderungen anpassen.
… humandigital, weil sie die transformative Kraft des virtuellen Raums in tatsächliche Lebensrealitäten integrieren.
… partizipativ, weil sie Platz für aktive Teilhabe an Gestaltungsprozessen schaffen.
… nahtlos integriert, weil sie Bewegungsräume schaffen, die eine intuitive und inklusive Mobilität ermöglichen.
… glokal, weil sie das Globale und das Lokale sinnvoll verbinden und regionale Besonderheiten hervorheben.
… mutig und experimentierfreudig, weil sie Platz für die Umsetzung verrückter und visionärer Ideen bieten.
… erst wirklich zukunftsfähig, wenn sie die Menschen und ihre grundlegenden Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen!