Der Konsum der Zukunft hat eine klare Funktion: Er soll ein gutes Leben ermöglichen. Um das zu erreichen, brauchen wir allerdings eine grundlegende Transformation von Konsum. Denn momentan richtet er mehr Schaden an, als er nützt. Vier Thesen für die Zukunft des Konsums – und wie Unternehmen die Transformation des Konsums vorantreiben können.
Ein Auszug aus dem Future:Guide Konsum.
von Janine Seitz
3. Juni 2025
Von heute aus betrachtet wäre eine Welt ohne Konsum (wie wir ihn kennen) eine Welt im Chaos. Die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend:
Wie verbringen wir unsere Zeit, wenn wir einen Großteil des Tages nicht mehr mit Konsum und/oder dem Arbeiten verbringen? Es ist davon auszugehen, dass viele Berufe, die direkt oder indirekt mit Konsum zusammenhängen (z.B. Marketing, Werbung, Einzelhandel), wegfallen. Stattdessen gewinnen Berufe in den Bereichen Reparatur, Wiederverwertung sowie Landwirtschaft und Handwerk für den lokalen, unmittelbaren Bedarf an Bedeutung; es wird das hergestellt, was wirklich gebraucht wird – für diejenigen, die es sich leisten können bzw. die beste Gegenleistung bieten.
Unser Lebensstil verändert sich grundlegend, indem sich der Fokus von materiellem Besitz hin zu immateriellen Werten wie sozialen Beziehungen, persönlicher Entwicklung, Gesundheit und Bildung verschiebt. Wer ein soziales Netzwerk hat, ist besser dran. Lokale und autarke Gemeinschaften erstarken, denn man ist aufeinander angewiesen, muss sich gegenseitig unterstützen und Ressourcen miteinander teilen.
„Konsum gehört zum Menschsein dazu, denn Konsum ist nichts künstlich Geschaffenes.“
Der Drang nach Konsum, nach immer mehr und nach materiellem Erfolg gehört der Vergangenheit an. Das hat auch etwas Befreiendes, es ist eine Art kollektives Detox, ein Abbau von Stress und Erschöpfung. Und: Weniger Konsum bedeutet weniger Ressourcenverbrauch, weniger Müll und weniger Umweltverschmutzung. Das kommt unserem Planeten zugute.
Aber seien wir ehrlich: Für die Menschen ist es eine dunkle Zeit voller Konflikte und Kriege, voller Hungersnöte und Krankheiten, voller Leid, Hass und Gegeneinander. Das globale Wirtschaftssystem, basierend auf Produktion und Konsum, stützt das menschliche Zusammenleben – mit seinem Zusammenbruch wird auch die Menschheit ins Chaos stürzen. Eine Welt ohne Konsum ist somit nicht nur kaum vorstellbar, sondern auch nicht wünschenswert.
Konsum gehört zum Menschsein dazu, denn Konsum ist nichts künstlich Geschaffenes. Der Mensch konsumiert schon allein dadurch, dass er Nahrung zu sich nimmt. Wie können wir also Konsum künftig so gestalten, dass er ein besseres Leben ermöglicht, das dem Menschen, der Gesellschaft und dem Planeten zugutekommt?
Mit Konsum werden strategisch Werte und Haltung ausgedrückt – immer und überall, bewusst oder unbewusst. Konsum dient nicht mehr nur zur Bedürfnisbefriedigung und als Statussymbol, sondern ist Ausdruck von Werten und Identität. Kaufentscheidungen sind zunehmend politisch aufgeladen – Verbraucher:innen nutzen ihre Kaufentscheidungen, unter anderem über Boykotte und Buykotte, um Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft zu nehmen. Unternehmen zeigen Haltung, übernehmen Verantwortung und kommunizieren ihre Werte. Konsumierende erwarten, dass Unternehmen einen Beitrag zu gesellschaftlichen und ökologischen Zielen leisten.
Konsum erlebt einen Imagewandel: Er befreit sich vom Stigma der Schuld, ist positiv und lösungsorientiert. Konsum der Zukunft macht Spaß. Konsum der Zukunft schafft einen Mehrwert für Individuum, Gesellschaft und Umwelt. Unternehmen fördern verantwortungsbewussten Konsum und machen ihn erlebbar. Kreislaufwirtschaft, Sharing-Modelle, Secondhand und Reparaturservices bieten Chancen und eröffnen neue Geschäftsfelder.
Konsum verbindet und bringt Menschen zusammen. Die Konsumgesellschaft wird zur Konsum-Community, die über geteilte Erfahrungen und Erlebnisse Gemeinschaft ermöglicht. Konsum ist kein rein privater Akt, sondern eingebettet in soziokulturelle und institutionelle Strukturen. Konsum fungiert als sozialer Kitt, der Menschen verbindet. Das Konsumerlebnis ist ein ganzheitlicher Prozess, der über den reinen Kaufakt hinausgeht. Die Customer Journey wird zum Customer Experience Cycle.
Konsum stillt Bedürfnisse und steigert nicht Begehrnisse. Somit entfaltet Konsum seine aktivierende Kraft und bringt Menschen ins Handeln. Konsum wird zum Werkzeug für ein erfülltes und sinnvolles Leben. Unternehmen gestalten Konsum so, dass er echte menschliche Bedürfnisse erfüllt und positive Veränderungen bewirkt. Bedürfnisorientierte Lösungen bilden die Basis für eine stabile und resiliente Gesellschaft. Hierfür bietet das Future:Needs-Modell eine Orientierungsgrundlage.
Janine Seitz ist Zukunftsforscherin, Kulturwissenschaftlerin und Expertin für Konsumkultur. Aus den Dynamiken von Trends und Gegentrends entwickelt sie ein ganzheitliches Verständnis von Konsum, das die menschlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt.
Ein Auszug aus dem Future:Guide Konsum.
von Janine Seitz
2. Juni 2025
„Hoppla“ heißt es da von Experten, als wäre man mal kurz gestolpert. Die Wirtschaft in Deutschland ist im ersten Quartal gewachsen – unerwarteterweise. Zuletzt war die Wirtschaft geschrumpft, Prognosen für 2025 gehen von einem Null-Wachstum aus, nun sei man etwas weniger pessimistisch. Die Konsumlaune sei gestiegen, viele Menschen hätten mehr Geld in der Tasche, das sie nun auch bereitwilliger ausgeben.
Ketzerische Frage: Warum ist kein Wachstum eigentlich schlecht? Es bedeutet ja eigentlich nur, dass es nicht „mehr” wird, aber eben auch nicht „weniger“. Ist es nicht schön so, wie es ist, muss es immer „mehr“ sein? Und was hat Konsum mit „Launen“ und „Stimmungen“ zu tun? Konsum ist längst hochgradig emotional aufgeladen, Menschen definieren ihre Identität über Konsum, kaufen sich positive Gefühle ein, werden selbst zur Ware. Privater Konsum hält die Wirtschaft am Laufen, ohne Konsum kein Wirtschaftswachstum.
Konsum durchdringt alle Sphären des Alltags, der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman beschreibt unser „Leben als Konsum“. Doch Konsumieren – und damit in Folge auch unser Leben – hat längst einen bitteren Beigeschmack: Konsum ist anstrengend geworden. Wir konsumieren nicht mehr, weil wir es uns leisten können. Konsum hat seinen Reiz verloren, ist längst Routine, nichts außergewöhnliches mehr. Shopping gilt als eine der unbeliebtesten Freizeitbeschäftigungen, jede:r Dritte Deutsche würde am liebsten gar keine Zeit mehr mit Einkaufen verbringen.
Einerseits scheinen die Konsumierenden die Lust am Einkaufen mehr und mehr zu verlieren, andererseits sehen sich Unternehmen neuen Herausforderungen wie Zollchaos und Handelskonflikten gegenüber. Auch wenn immer mehr klar wird, dass Trump vor allem Verunsicherung stiften und Ängste schüren will, sorgt diese Kombination für eine Konsumkrise: Verbraucher:innen sehnen sich nach freudvollen, sinnstiftenden Erlebnissen, Unternehmen gehen auf Nummer Sicher und wagen kaum Innovationen und Experimente. Hinzu kommt noch, dass Angst keine gute Grundlage für Entscheidungen ist. Denn Angst blockiert den Blick auf das Mögliche und Machbare. Resultat ist häufig eine Rückkehr zu Strategien, die einmal in der Vergangenheit funktioniert haben. Zurück zu Gas, zurück zu Atom, zurück zu Fleisch und tierischen Produkten, zurück zur 40-Stunden-Woche im Büro, zurück ins Patriarchat. Zurück zu den Konsummustern des 20. Jahrhunderts.
Doch aus dem Blick zurück lassen sich durchaus auch positive Zukunftsbilder ableiten:
Innovationen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Neu Zusammensetzen und Rekombinieren; Transformationen sind keine geradlinigen Entwicklungen, sie durchlaufen Schleifen, erleben Backlashes, aber werden letztendlich immer im Zusammenspiel zwischen Trends und Gegentrends vorangetrieben. Gegentrends zeigen somit, wo Überforderung, Übersättigung oder Widerstand zu neuen Haltungen, Bedürfnissen und Systemfragen führen. Und nur aus diesen Widersprüchen kann echter Wandel entstehen – und Konsum neu gedacht werden. Dabei ist eine Rückbesinnung auf so manch Altes durchaus sinn- und wertvoll. Früher war definitiv nicht alles besser, aber durchaus manches und von vielem haben wir uns glücklicherweise verabschiedet. Von was wir uns allerdings auf jeden Fall verabschieden sollten, ist die Angst. Wir dürfen sie noch ein letztes Mal fest umarmen – und dann loslassen.
Janine Seitz ist Zukunftsforscherin, Kulturwissenschaftlerin und Expertin für Konsumkultur. Aus den Dynamiken von Trends und Gegentrends entwickelt sie ein ganzheitliches Verständnis von Konsum, das die menschlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt.
Wie der deutsche Modemarkt in 2030 aussehen kann, wenn er möchte. Ein Zukunftsblick von Handelsexpertin Theresa Schleicher.
22. Mai 2025
Im Jahr 2025 ist der deutsche Modemarkt weiterhin in einer schwierigen Situation. Selbst große Modeketten und internationale Konzerne wie Zara oder H&M spüren den Druck. Die Prognosen für 2025 lauten vorsichtiger als sonst. Während sich die großen Modeketten durch Preis- und Prozessoptimierung stabilisieren, kämpfen insbesondere kleine Boutiquen und deutsche Modehändler mit sinkenden Umsätzen. Der Mittelstand leidet unter einer Kaufzurückhaltung, die durch eine allgemeine Verunsicherung in der Bevölkerung verstärkt wird. Ca. 48 Prozent wollen in diesem Jahr bewusster einkaufen und auch bei Mode sparen – nicht nur indem sie günstiger kaufen, sondern indem sie insgesamt weniger konsumieren (Quelle: Zukunftsstudie Handel 2025). Auch Discount-Textiler und große Ketten sowie Secondhand-Anbieter spüren, dass spontane Impulskäufe seltener werden. Wenn dann auch noch die Preise gering, die Rabatte hoch und die Margen kleiner sind, wird es schwierig.
Doch wenn der reine Fokus auf immer neue Kollektionen nach gelernten Mustern und die Rabattaktionen mittelfristig nicht mehr funktionieren wollen, wird es Zeit darüber nachzudenken, was als neue Leistung – das 2. in dem Preis-Leistungs-Gedanken – überrascht und begeistert. Denn die Menschen werden müde vom Billigwahn und Massenmärkten, sehnen sich bewussten Konsum – aber auch nach Sicherheit, Alltag und einem guten Preis. Das ist der Nährboden einer neuen Mitte im Modemarkt.
Viele Kund:innen kaufen bewusster. Dabei spielt nicht Nachhaltigkeit – so sehr diese Realität schmerzt – die größte Rolle, sondern der Wunsch nach besserer Qualität statt reiner Quantität. Die schnellen Wegwerfprodukte haben schlicht ihren Reiz verloren, zumindest für bereits 42 Prozent der über 29-Jährigen (Quelle: Zukunftsstudie Handel 2025). Ebenfalls ein Zeichen neuer Sinnkultur: Ein Drittel der befragten jungen Konsument:innen findet eine Rückkehr zur lokalen Produktion spannend. Das Label „Made in Germany“ kann damit eine emotionale Bindung erzeugen. Dennoch reagieren Mode-Unternehmen der gesellschaftlichen Mitte nur verhalten auf diesen Trend – C&A etwa stellte seine in Deutschland produzierte Jeans-Kollektion bereits wieder ein, nach „wenig Bemühungen“, diese in den Fokus zu stellen.
„Made in Germany und Made in Europe erhält bei den aktuellen globalen Krisen einen höchst emotionalen Stellenwert – etwas, das für deutsche Mode-Unternehmen zur neuen Stärke werden kann.“
– Theresa Schleicher
Zurück zur Freude? Ausschweifende Designer-Kollektionen mit Mainstream-Marken, glamouröse Kampagnen. Mode kann wieder eine Traumbranche sein. Nur eben bewusster. Neben Nachhaltigkeit und Individualisierung zeigt sich ein weiterer ästhetischer Wandel: Der Wunsch nach Eleganz wächst. In einer Zeit, in der vieles beliebig und wertlos erscheint, rückt ein gepflegter, stilvoller Look stärker in den Fokus. Selbst in avantgardistischen Städten wie Berlin lässt sich ein subtiler Trend hin zu hochwertigerer Kleidung und bewusstem Styling beobachten. Eleganz vermittelt nicht nur Ästhetik, sondern auch eine Form von Sicherheit – ein Gefühl, das in gesellschaftlich unsicheren Zeiten wichtiger denn je wird.
Secondhand-Mode gilt weiterhin als Hoffnungsträger für einen bewussteren Konsum, doch das Wachstum in diesem Segment bleibt hinter den Erwartungen zurück. Der Grund: Viele junge Konsument:innen bemängeln, dass moderne Designs, Leichtigkeit und eine gewisse modische Freude in Secondhand-Angeboten oft fehlen. Bisher zeigen Mode-Unternehmen z.B. mit der Secondhand-Ecke in einem großen Geschäft, was viele wahrnehmen: die Secondhand-Angebote werden als nischig und unmodern empfunden, als die rationale Option in einer Masse von Fast-Fashion-Angeboten. Viele Kund:innen wünschen sich nachhaltige, aber modern interpretierte Kollektionen (48 %, Quelle: Zukunftsstudie Handel 2025). Für die Menschen spielt das Prädikat nachhaltig oft nicht die Hauptrolle, sondern es geht um Qualität von langlebigen Kleidungsstücken, die wiederum mit Recycling und Secondhand assoziiert ist.
Immer mehr Modemarken setzen beim Design ihrer Produkte Künstliche Intelligenz ein. Laut einer Studie von McKinsey integrieren bereits 28 Prozent der befragten Branchenakteure KI in kreative Designprozesse (vgl. McKinsey 2023). Ein Beispiel ist das Pariser Tech-Unternehmen Heuritech, das bereits mit Prada, Dior, Adidas, New Balance oder Louis Vuitton arbeitet. Heuritech analysiert mit KI Bilder aus Social Media und anderen Kanälen und leitet daraus Frühsignale für mögliche Fashion-Trends ab. Auch das Berliner Unternehmen yoona.ai verspricht, den Designprozess um bis zu 80 Prozent zu beschleunigen und innerhalb weniger Sekunden über 20.000 digitale Designoptionen zu erstellen. Eine größere Entwicklung deutet sich ebenfalls in der maßgeschneiderten, aber dennoch günstigen Mode an. In Asien haben sich digitale Plattformen etabliert, die binnen 24 Stunden individuelle Kleidung fertigen – ein Konzept, das mithilfe von Robotic auch in Europa Fuß fassen könnte.
Theresa Schleicher gilt als führende Handels-Zukunftsforscherin Deutschlands. Sie ist Zukunfts-Sparringspartnerin für Handels- und Wirtschaftsunternehmen, wie dem Bundeswirtschaftsministerium und The Future:Project. Die renommierte Zukunftsforscherin und Data Scientist ist Autorin mehrerer bekannter Trendstudien im Handel und gibt ihre Ausblicke in Vorträgen.
Es wird viel über neue Anwendungen von Künstlicher Intelligenz (KI) gesprochen, doch häufig stehen Handelsunternehmen in Deutschland und Österreich noch relativ am Anfang des Einsatzes. Wagen wir einen Ausblick zum Einsatz von KI im Handel, der besonders ein zentrales Thema lösen soll: die Konsumflaute.
8. April 2025
„Die kommenden KI-Strategien für den Einzelhandel sind einfacher umzusetzen, als gedacht.“
– Handels-Zukunftsforscherin Theresa Schleicher
Es verändert sich 2025 etwas in der digitalen Diskussion. Laut dem Gartner Hype Cycle hat Künstliche Intelligenz (KI) die Hauptstufe der KI-Angst und Desillusionen erreicht. Die Euphorie weicht unternehmerischer Sichtweise. Das ist sinnvoll, denn es zeigt sich, dass die Gesellschaft längst weiter ist als viele Unternehmen.
Eine neue Generation wächst heran, für 42 Prozent der AI-Natives (12-19 Jahre) ist das irrelevant, ob sie mit einem Bot oder einem Kundenberater online sprechen, solange der Service stimmt. Auch ein Drittel der 12- bis 28-Jährigen in Österreich verwendet ChatGPT bereits regelmäßig. Sie erwarten von Unternehmen nicht nur Lösungen, die funktionieren, sondern inspirieren und begeistern. Das wird genau jetzt, in Zeiten bewussten Konsums, vollen Lagern und Billigaktionswahn, für den Handel in Österreich so wichtig.
Was viele abhält, ist oft ein festgesetzter Irrglaube: Händler im Mittelstand schrecken vor KI-Lösungen zurück, weil ihnen eingebläut wird, dass sie teuer, aufwändig oder kompliziert seien. Konzerne tun sich hingegen oft schwer, KI mit Kreativität und Leichtigkeit zu verbinden. Doch damit verpasst der Handel viele einfache Chancen, neue Kunden zu erreichen und zu begeistern.
KI-Tools analysieren das Kundenverhalten, Nachfragetrends, Präferenzen und Kaufhistorien, um maßgeschneiderte Produktempfehlungen zu erstellen. Dabei geht es nicht nur darum, Kund:innen an häufig gekaufte Produkte zu erinnern oder ergänzende Empfehlungen zu geben, um den Warenkorb kreativer zu gestalten. Vielmehr liegt der Fokus zunehmend auf der Entwicklung neuer Produkte und Eigenmarken, basierend auf den stetig wachsenden Datenmengen aus bestehenden Käufen, Suchanfragen, Bewertungen, lokalen und saisonalen Präferenzen, oder Social-Media-Trends.
Ein Beispiel dafür liefert der asiatische Supermarkt Hema von Alibaba, der neben vorhandenen Daten gezielt Kundenfeedback aus Wettbewerben und Umfragen nutzt, um neue Produkte zu entwickeln.
Wer im Mittelstand mit den eigenen vollen Lagern und bestehenden Produkten beschäftigt ist, kann mit KI und intelligenten Warenwirtschaftssystemen schnell erkennen, zu welchem Preis, an welchem Ort und welcher Filiale seine Produkte besser funktionieren. Aber auch mit einem Klick Lagerbestände an digitale Plattformen wie Ebay, Kaufland, Amazon etc. verkaufen.
KI-gestützte Assistenten und intuitive Chatbots, die Sinne wie Tasten, Hören und Sehen simulieren, ermöglichen Interaktionen mit Onlineshops oder Kunden-Apps, die sich zunehmend wie ein Gespräch mit einem menschlichen Verkäufer anfühlen.
Ein Beispiel ist das deutsche Start-up FrontNow, dessen Bot Fragen wie „Was brauche ich für Gericht XY?“, „Was soll ich essen, wenn ich eine bestimmte Ernährungsweise verfolge?“ oder „Was brauche ich, um meinen Gartenzaun zu reparieren?“ beantworten kann. Konsument:innen gewöhnen sich zunehmend an sinnlich intuitive Tools, die sehen, fühlen und sprechen. Von sprachbasierten und intuitiven Rezeptdatenbanken bis zu Avatar-Küchenhelfern, die Kund:innen neue Impulse im Lebensmittelbereich geben, liegt hier noch viel Potenzial. In anderen Branchen haben KI-Tools eine besonders umsatzsteigernde Wirkung.
Start-ups wie Arch AI deuten nur an, dass es heute möglich ist, die eigene Wohnung abzufotografieren und in Sekunden wird sie virtuell neu renoviert und umgestaltet. Für Interieur und die Garten- und Baumarktbranche bieten KI-basierte Technologien ganz neue Chancen, Menschen zu inspirieren, die sonst vor weißen Wänden oder grünen Rasen stehen und dann aus Vorsicht oder fehlender Kreativität die wenigen „Standards“ im Markt kaufen. Eine Baumarktkette fragte letztens nach einem passenden Start-up – wir haben es kurzerhand gemeinsam in ein paar Wochen selbst gebaut. Es ist heute so einfach.
Lange Zeit dominierte die Sorge um den demografischen Wandel das Narrativ der Arbeitswelt: Der Mangel an jungen Fachkräften werde Unternehmen vor immense Herausforderungen stellen. Doch während viele noch über das Problem diskutieren, zeichnet sich in den kreativen Branchen der DACH-Region bereits ein bemerkenswerter Shift ab. Gerade die oberen Altersklassen, die sich aktiv mit generativer KI auseinandersetzen, erleben derzeit eine vielversprechende Zukunft. Sie kombinieren ihre Jahrzehnte an Erfahrung, Fachwissen und Arbeitskompetenz mit KI-gestützten Tools – und sind damit in der Lage, schneller, effizienter und präziser zu produzieren, zu analysieren und innovative Lösungen zu entwickeln.
In vielen Bereichen entsteht dadurch ein Ausgleich: Während junge Fachkräfte zunehmend von KI-Tools unterstützt oder in manchen Fällen sogar ersetzt werden, entwickeln sich erfahrene Mitarbeiter:innen zu digital souveränen Führungskräften, die nicht nur Technologie verstehen, sondern vor allem wissen, welche Informationen, Impulse und kreativen Ideen sie in KI-Systeme einspeisen müssen, um Kaufimpulse, Innovationen und neue Beziehungen zu gestalten.
Weitere KI-Trends, Beispiele und Strategien der Zukunftsforscherin Theresa Schleicher gibt es auf der Bühne und in der von ihr herausgegebenen Zukunftsstudie Handel.
Dieser Gastbeitrag erschien zuerst hier.
Infrastrukturen bilden das unsichtbare Gewebe, das die Gesellschaft zusammenhält. Sie sind das stille Fundament, auf dem unsere Lebensweisen, unsere Ökonomien und auch unsere Zukunftsvorstellungen ruhen. In einer Zeit, die von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt ist, treten sie aus ihren Schatten – und offenbaren sich als zentrale politische Frage der nächsten Gesellschaft.
Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Jonas Höhn
7. November 2024
Blickt man auf die maroden Brücken, Straßen und Schienen, die sich durch unsere Landschaften ziehen, auf veraltete Schulgebäude, überlastete Krankenhäuser, lästige Funklöcher und stockende Internetverbindungen, dann offenbart sich eine unangenehme Wahrheit: Die Infrastruktur, die einst die Grundlage für unseren Wohlstand und den Fortschritt bildete, ist brüchig geworden.
Die Defizite unserer Infrastrukturen spiegeln eine Gesellschaft wider, die sich noch immer schwertut, den tiefgreifenden Wandel, den unsere Zeit erfordert, aktiv anzugehen. Klimawandel, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Ungleichheit im Zugang zur Gesundheitsvorsorge, Herausforderungen im Bildungswesen oder in der Mobilität: All dies sind Symptome einer systemischen Krise. Und: einer Weigerungshaltung, Infrastrukturen neu zu denken und zu gestalten – als Schlüsselfaktor einer lebenswerten Zukunft.
Kollektive Praktiken, zum Beispiel im Konsum- oder Mobilitätsverhalten, lassen sich über Infrastrukturen erheblich wirksamer verändern, als individuelle Anstrengungen es je erlauben würden. Infrastrukturen sind daher ein mächtiges Werkzeug für gesellschaftliche Transformation: Als „vorausschauende Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“ (Maja Göpel) haben sie das Potenzial, den Wandel der Gesellschaft auf einen konstruktiven Pfad zu leiten.
Infrastrukturen sind weit mehr als nur physische Konstruktionen aus Beton oder Stahl. Sie sind Manifestationen der gesellschaftlichen Paradigmen und Lebensweisen ihrer Zeit: Ausdruck der Art und Weise, wie wir wirtschaften, uns fortbewegen oder auch mit der Natur interagieren. Doch was vor 50 Jahren noch als Fortschritt galt, kann heute zum Hindernis werden. Die Infrastrukturen, auf die wir uns gegenwärtig verlassen, stammen oft aus Zeiten, die von anderen wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Realitäten geprägt waren. Diese gebauten Umwelten tragen die strukturellen Fundamente vergangener Gesellschaften in unsere Gegenwart hinein.
So wirken die Kupferkabel, die einst die Internetrevolution ermöglichten, plötzlich wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit – und sorgen nicht selten für Frust. Öl- und Gaspipelines erinnern uns schmerzhaft daran, wie abhängig wir uns von autokratischen Regimen gemacht haben. Und abgeschaltete Kohlekraftwerke zeugen von den hohen Kosten der Aufrechterhaltung eigentlich überholter Systeme. Was einst als unverzichtbar galt, wird nun immer häufiger störanfällig, ineffizient oder gar obsolet. Doch die tiefen Pfadabhängigkeiten, die diese Infrastrukturen erzeugen, machen es schwer, neue Wege zu beschreiten.
Angesichts der Defizite in der Zukunftsfähigkeit unserer Infrastruktursysteme deutet sich die Notwendigkeit für ein neues infrastrukturelles Paradigma an. Die Infrastrukturen der Transformation gehen über die bloße Reaktion auf Krisen hinaus und richten sich auf eine transformative, zukunftsgewandte Gestaltung unserer Lebenswelt. Um den Modus des Reagierens zu verlassen, in dem wir der Zukunft immer einen Schritt hinterherhinken, müssen wir Antworten auf eine fundamentale Frage finden: Wie soll die „nächste Gesellschaft“ aussehen – und welche Infrastrukturen brauchen wir, um den Weg dahin zu ebnen?
Ausgehend von konstruktiven Zukunftsimaginationen können wir entscheiden, welche bestehenden Infrastrukturen so elementar sind, dass sie erhalten und gepflegt werden müssen – und welche neuen Infrastrukturen wir für unsere zukünftigen Bedürfnisse schon heute errichten müssen. Infrastrukturen der Transformation erfordern daher im Kern eine mutige und antizipative Vorgehensweise, die aktiv auf erwünschte Zukünfte zugeht. Sie entfalten ihre Wirkung in allen sechs großen Transformationen unserer Zeit:
Die Entwicklung hin zu einer kultivierten Digitalisierung und einer neuen Balance zwischen Mensch und Maschine wird schon heute von Infrastruktursystemen begleitet und vorangetrieben. Dazu zählen neben Technologien wie den Breitbandnetzen oder 5G als Grundlage für die digitale Vernetzung auch verbindliche Normen und Gesetze, etwa im Datenschutz oder in der Regulation von Künstlicher Intelligenz. Vor allem in urbanen Räumen sollen vernetzte Systeme in Zukunft sowohl für mehr Effizienz sorgen als auch eine höhere Lebensqualität ermöglichen.
Transformative Infrastrukturen ebnen den Wandel zur Sinnökonomie, indem sie die Grundlage unseres Wirtschaftssystems zukunftsfähig umgestalten. Neben Recycling- und Upcycling-Systemen im Sinne einer Kreislaufwirtschaft und Speichertechnologien, die aufgebaut werden müssen, um den Übergang vom fossilen Zeitalter in das Zeitalter erneuerbarer Energien fördern, zählen dazu auch Bildungsorte, die für die Ausbildung tatsächlich zukunftsrelevanter Berufe und Skills eine zentrale Bedeutung haben, sowie Veränderungen in unseren Arbeitsumgebungen durch neue Arbeitsmodelle.
In einer zunehmend fragmentierten und polarisierten Gesellschaft stärken Infrastrukturen der Transformation den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch gemeinschaftsfördernde und inklusive Strukturen. Alltägliche Begegnungsorte und Third Places wie Cafés, Kneipen, Sportstätten, Parks, Kiosks, Gemeinschaftsgärten oder Bibliotheken wirken sowohl auf der sozialen als auch der politischen Ebene, indem sie – so wie auch neue Formate politischer Beteiligung – demokratische Elemente wiederbeleben und festigen.
Infrastrukturen der Transformation erzeugen ein neues Sozialbewusstsein, indem sie den Wandel von Werten, Normen und Weltbildern zulassen und sich ihm anpassen. Zentral ist dabei die Förderung von individueller Ermächtigung und kollektivem Austausch sowie der Abbau struktureller sozialer Ungleichheiten. Dies bedeutet auch, dass Infrastrukturen nicht nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen konzipiert werden, sondern die Bedürfnisse möglichst aller Menschen berücksichtigen.
Infrastrukturen der Transformation verbessern das Zusammenspiel zwischen globalen Strukturen und lokalen Netzwerken. So können lokale Versorgungsnetzwerke globale Lieferkettensysteme im Sinne eines Resilient Supply absichern und ergänzen. Gezielte Investitionen in zukunftsfähige Infrastrukturen haben zudem das Potenzial, „abgehängte“ Regionen durch eine erneuerte Form der Daseinsvorsorge wiederzubeleben – und Räume lokal und global miteinander zu vernetzen.
Transformative Infrastrukturen ermöglichen den Wandel hin zu einer regenerativen Gesellschaft, indem sie die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume und die Umstellung auf ökologische Lebensweisen unterstützen. Die konkreten infrastrukturellen Maßnahmen reichen vom Ausbau der ökologischen Landwirtschaft über die Förderung nachhaltiger Mobilitätsformen bis zur Renaturierung von Flüssen oder Wäldern.
Infrastrukturen der Transformation sind keine universelle Schablone, die wir einfach auf jede Stadt oder Region anwenden können, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Sie repräsentieren einen notwendigen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Gesellschaft und Zukunft – als lebendige Entwürfe, die sich flexibel an die spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort anpassen und die bereits bestehenden Strukturen mitdenken. Schließlich findet die Transformation unserer Gesellschaft nicht auf einem weißen Blatt Papier statt, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess.
Reallabore oder ähnliche Projektformen können dabei als lokale Katalysatoren für Transformation dienen und durch die Vermittlung konkreter Zukunftsbilder helfen, die Angst vor Wandel abzubauen. Zugleich dürfen diese lokalen Initiativen nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets im Kontext einer größeren, übergeordneten Transformation. Hierbei kommt vor allem Politik und Staat wieder eine wichtigere Rolle als Initiator und Vermittler zu: Zuständigkeiten müssen klar definiert, neue Finanzierungsmodelle entwickelt und pragmatische Ansätze zur Weiterentwicklung von Infrastrukturen konsequent gefördert werden.
Transformative Infrastrukturen erfordern unseren Mut, endlich in zukunftsfähige Versorgungsnetze für die nächste Gesellschaft zu investieren. Damit spielen sie eine entscheidende Rolle für unser generelles Verhältnis von der Zukunft: Sie stellen sicher, dass wir auf künftige Herausforderungen nicht nur passiv reagieren, sondern eine lebenswerte Zukunft aktiv gestalten können – indem wir heute die richtigen Weichen stellen.
Ob Infrastrukturen oder Lieferketten, digitale Kommunikation oder das Schulsystem: Überall stockt, hakt und stottert es. Der Fokus auf „Innovation“ hat uns die Pflege dessen, was schon da ist, vergessen lassen – die Maintenance. Doch das nahende Ende des Innovationismus zeigt den Beginn eines neuen Age of Maintenance an, das unsere Wirtschaft und unsere sozialen Beziehungen verändern wird: Wir lernen wieder, uns zu kümmern.
Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Nina Pfuderer
7. November 2024
Alles, was nicht gepflegt wird, geht irgendwann kaputt oder funktioniert nicht mehr. Verschleiß und Verfall sind in der Natur der Dinge angelegt. Diese Tatsache rückt heute allerdings immer häufiger in den Hintergrund, weil fast immer die „Innovation“ im Fokus steht. Neu ist besser als alt: Dieser Glaubenssatz ist mittlerweile so tief in uns verankert, dass es schwer ist, daran vorbeizusehen. Innovation war immer schon Treiber des Fortschritts, doch inzwischen prägt sie unsere Gegenwart auch durch ihre Kehrseite.
Wir sehen heute in praktisch jedem Bereich der Gesellschaft, wie mangelnde Investitionen in die Instandhaltung von grundlegenden gesellschaftlichen Systemen zu katastrophalen Problemen führen, von bröckelnden Brücken und schmutzigen Krankenhäusern bis zu heruntergekommenen Schulen und überforderten Behörden. Trotzdem lautet die Standardantwort von Politiker:innen, Expert:innen und Führungskräften auf die Krisen unserer Zeit noch immer: mehr Innovation! Dieser Instinkt, alle Hoffnungen auf das Neue zu setzen, ist genau das Problem, das sich als „Innovationswahn“ bezeichnen lässt.
Mittlerweile hat der Fokus auf Innovation absurde Ausmaße angenommen. So ist es oft günstiger, ein technisches Gerät neu zu kaufen anstatt das alte zu reparieren. Der Neubau von Straßen wird staatlich subventioniert, für die Ausbesserung von Schlaglöchern müssen Kommunen dagegen selbst aufkommen. Eigentlich nur logisch, dass Politiker:innen lieber auf Neues setzen: Man macht sich nicht beliebt, wenn man Straßen oder Brücken sperrt, um sie zu restaurieren. Besser kommt es an, die rote Schleife bei der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums durchzuschneiden. Maintenance lohnt sich da oft nicht, zumindest kurzfristig gesehen. Diese Vernachlässigung von Instandhaltung und Pflege zugunsten von Innovation ist auch ein geistiges Problem: Es zeugt von der „wachsenden Geringschätzung für das, was eine moderne Gesellschaft erst möglich macht“. Inzwischen hat sich die Bevorzugung von Innovation vor Maintenance auch strukturell manifestiert – und konfrontiert die deutsche Wirtschaftspolitik nun mit riesigen Investitionssummen.
Was passiert, wenn Maintenance vernachlässigt wird, zeigt auch die Broken-Window-Theorie, die einen Zusammenhang zwischen dem Verfall von Stadtgebieten und Kriminalität herstellt: Auf eine zerbrochene Fensterscheibe folgt schnell die nächste. Ähnlich verhält es sich mit dem Verfall von Brückeninfrastrukturen: Sobald eine Brücke ausfällt, werden die Brücken auf anderen Strecken stärker belastet und verfallen ebenfalls schneller. Kaputte Brücken sind wie eine „ansteckende Krankheit“.
Es ist an der Zeit, den Fokus wieder auf Maintenance zu richten. Aber das ist gar nicht so einfach, denn Maintenance-Tätigkeiten sind oft unsichtbar. Eine Reparatur ist dann gelungen, wenn man es ihr nicht ansieht. Es geht auch darum, „den Anteil der eigenen Arbeit unsichtbar werden zu lassen, keine Spuren zu hinterlassen“. Auch Infrastrukturen sind für die Öffentlichkeit meist so lange unsichtbar, bis sie nicht mehr tun, was sie eigentlich tun sollen – bis sie nicht mehr funktionieren.
Auch wenn es nicht so scheint: Kulturhistorisch haben wir die meiste Zeit damit verbracht, Strukturen, auf die wir uns seit Jahrtausenden verlassen, instand zu halten. So blieben unsere Straßen sicher, unsere Gebäude stabil und sauber, unsere Unternehmen produktiv, unsere Leben beschützt. Dass genau diejenigen Berufsgruppen, die das System gesund und am Laufen halten, häufig gesellschaftlich am wenigsten geschätzt und dazu oft auch am schlechtesten bezahlt werden, wissen wir spätestens seit der Coronapandemie.
Und obwohl unsere Gesellschaft digitale Technologien als Innovationen und Disruptionen feiert, besteht auch in diesem Bereich die meiste Arbeit aus Maintenance-Tätigkeiten: Es geht darum, sicherzustellen, dass alles läuft, den Bug im Code zu finden oder Sicherheitslücken zu stopfen.
Ein großer Teil der unbezahlt verrichteten Arbeit sind Maintenance-Tätigkeiten. Die deutliche Mehrheit der Care-Arbeit in Familien und im Haushalt – sowie des Mental Loads – liegt heute noch bei Frauen. Vielleicht konnte der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fokus auf Innovation nur auf dem Rücken der unbezahlt verrichteten Care-Arbeit so lange erfolgreich sein.
Ein Gedankenexperiment: Wäre die Welt weniger kaputt, wenn wir uns nicht im Patriarchat befinden würden? Männer verursachen mehr Unfälle, sind öfter im Gefängnis, sie kosten mehr – ganze 63 Milliarden pro Jahr. Studien legen nahe, dass weibliche Führungskräfte in Unternehmen eher langfristige und strategische Investitionen tätigen und weniger risikofreudig sind als männliche Führungskräfte, die eher auf schnelle Gewinne und Innovation setzen. Damit bliebe theoretisch mehr Geld für die Sanierung und Instandhaltung des Bestehenden. Eine weibliche Perspektive würde unserer auseinanderfallenden Welt wahrscheinlich guttun.
In der heutigen Wegwerfgesellschaft ist der Gedanke, sich um etwas zu kümmern, etwas zu hegen und zu pflegen, zu reparieren, immer unwichtiger geworden. Doch wir merken: Es wird nicht ohne gehen. Komplexität braucht Zuwendung. Eine Maintenance Society nimmt deshalb sowohl die Erhaltung von Infrastrukturen als auch die Erhaltung sozialer Beziehungen in den Blick: Wir müssen uns auch als Gesellschaft umeinander kümmern.
Bei der gesellschaftlichen Dimension der Maintenance geht es gar nicht unbedingt um die Bildung enger Communitys oder die Renaissance traditioneller familiärer oder religiöser Strukturen. Sondern um eine grundlegende Rücksicht anderen gegenüber, eine gesellschaftliche Instandhaltung. Wichtig ist es, sich darauf verlassen zu können, dass die Fürsorge, die wir einander geben, erwidert wird. Dann können sich auch moralische Tugenden entfalten und das Vertrauen wachsen – sowohl untereinander als auch in soziale und politische Institutionen.
Nach langen Zeiten der Innovation, in denen nur die besten Ideen und die schönsten Dinge gefördert und gefeiert wurden und als die Welt grenzenlos erschien, sind wir nun im Age of Maintenance angekommen. Wir müssen Pflanzen und Tiere vor dem Aussterben retten, wir versuchen, bei den Klimazielen gerade noch die Kurve zu kriegen. Alles ist geprägt von dem Gefühl: Wir müssen uns zusammenreißen, damit wir nicht noch mehr kaputtmachen. Damit wir unsere Welt erhalten können.
Das ist kein rückwärtsgewandter Gedanke, sondern eigentlich ein zukunftsweisender – und vor allem ein zukunftsverantwortungsvoller. Während es bei Innovationen um die eigene Vormachtstellung im Wettbewerb der Zukunft geht, hat das Prinzip der Erhaltung die Zukunft der nächsten Generationen, der gesamten Gesellschaft, der ganzen Welt, im Blick. Damit entwickeln wir ein anderes Zeit- und Welt-Denken. Die Erhaltung unseres Planeten ist die ultimative Maintenance-Aufgabe.
Die Initiator:innen der Inner Development Goals (IDG) erkannten, dass wir unsere Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen werden, ohne unsere inneren Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund wurde das Framework der Inner Development Goals entwickelt. – Ein Auszug aus dem Future:Guide Marketing
von Nina Weiss
15. Oktober 2024
„Wir haben heute die Grenzen rein externer, technokratischer Lösungen zur Lösung globaler, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme erreicht. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, braucht es einen inneren Wandel. Denn die tatsächlich größten Herausforderungen sind Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit.“
Diese Aussagen stammen von den Gründer:innen der Inner Development Goals, einer Initiative, die 2020 in Stockholm ins Leben gerufen wurde und innerhalb weniger Jahre zu einer globalen Bewegung wurde. Über 4.000 Wissenschaftler:innen, Expert:innen und Praktiker:innen waren daran beteiligt, darunter renommierte Professor:innen, Psycholog:innen sowie Wirtschaftsweise von MIT und Harvard wie Otto Scharmer, Robert Kegan, Peter Senge und Renée Lertzman.
Äußerer Wandel setzt inneren Wandel voraus. Die IDGs bieten ein Framework, das uns hilft, die für Transformation erforderlichen inneren Fähigkeiten besser zu erkennen, zu verstehen, zu kommunizieren, zu entwickeln und zu integrieren. Sie sind ein Skill-Set für alle, die an Transformation und Zukunft arbeiten: CEOs, Führungspersonen, Politiker:innen, Strateg:innen und Marketingverantwortliche.
Das Open-Source-Framework wird von über 3.000 Kollaboratoren ständig weiterentwickelt. Es besteht aus fünf Bereichen mit insgesamt 23 inneren Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualitäten, die aufeinander aufbauen, aber auch einzeln betrachtet werden können. Diese Skills sind für die Bewältigung komplexer Herausforderungen und für die Gestaltung von Transformationen essenziell. Partner:inen der Initiative sind etwa die Universität Harvard sowie Firmen wie Google und IKEA. Der Zugang ist inklusiv gestaltet: Jeder kann mitmachen.
Die IDGs sind entscheidende Fähigkeiten, um Wandel zu gestalten. Dies gilt nicht nur für Einzelpersonen, sondern ebenso für Organisationen und besonders für Marken. Sie bieten eine Orientierung auf dem Weg zu mehr Impact und sind ein nützliches Tool für nachhaltige Markenentwicklung.
Ähnlich wie die SDGs aufzeigen, welche Wirkung ein Unternehmen nach außen hat, helfen die IDGs, zu verstehen, ob die inneren Werte eines Unternehmens zu dem passen, was es nach außen propagiert. Sie sind ein guter Gradmesser dafür, ob ein Unternehmen die nach außen kommunizierten Werte auch im Inneren lebt.
Marken können anhand der IDGs erkennen, welche Fähigkeiten schon in ihnen stecken und welche sich gut für die Kommunikation nutzen oder noch weiter ausbauen lassen. Marken, die noch am Anfang ihrer Transformation stehen, können mit den IDGs beginnen, vorhandene Potenziale und Blindspots zu analysieren und dadurch nächste Schritte identifizieren. Die IDGs zeigen Gestaltungschancen auf und können helfen, besser zu kommunizieren und langfristig erfolgreiche Strategien zu entwickeln.
Die Blütezeit des Marketings ist vorbei. Von KI-Bots über Content-Offensiven bis zum Einkauf von Influencer:innen – die digitale Welt hat die Optionen vertausendfacht, aber auch das Grundrauschen ins Unermessliche gesteigert. Wir werden von Markenbotschaften praktisch erschlagen. Markentreue schwindet. Das Misstrauen wächst. Wie kann eine zukunftsfähige Form des Marketing aussehen? – Ein Auszug aus dem Future:Guide Marketing
von Lena Papasabbas
15. Oktober 2024
Die Transformationen, Krisen und Umbrüche des 21. Jahrhunderts stellen Marken vor völlig neue Herausforderungen. Zwar wurden Marken schon immer von gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt, diese waren jedoch meist evolutionärer Natur, wie die Digitalisierung, Globalisierung oder Individualisierung. Heute finden sich Marken in einem Umfeld, das geprägt ist von unberechenbaren Umbrüchen und Dynamiken. Es sind transformative Zeiten.
Während sich das gesellschaftliche Gefüge verschiebt, finden sich Unternehmen in einer Welt wieder, in der die Markentreue rasant schwindet – insbesondere bei den jüngeren Generationen. Das liegt zum einen an einem wachsenden Misstrauen gegen Unternehmen und ihren Marketingaktivitäten. Zum anderen an dem Überangebot an Markenerfahrungen, das die Menschen geradezu überflutet.
Immer häufiger treten neue, bewegliche Unternehmen auf den Markt (und verschwinden wieder), denen es gelingt, spezielle Bedürfnisse und Trends schnell und punktgenau zu besetzen. Je mehr die Bedeutung etablierter Marken bei der Kaufentscheidung sinkt, desto härter wird der Kampf um Aufmerksamkeit ausgefochten. Das meist auf immer mehr Kanälen und mit immer besserer Datengrundlage. Die Sorge, einen möglicherweise relevanten Kanal zu verpassen, nicht auf dem neuesten Stand der technologischen Möglichkeiten zu sein oder zu spät auf den nächsten Social-Media-Trend zu reagieren, wächst. Häufig führt das allerdings zu kurzsichtigen Reaktionen und nicht selten versanden Marketingbudgets wirkungslos im digitalen Raum.
Eine omnigechannelte Dauererregung und Reizüberflutung lassen vor allem die Masse an Marketingbotschaften weiter anwachsen – und damit auch die Skepsis und Genervtheit der Konsumierenden. Das Resultat ist eine steigende Immunität gegen Markenbotschaften und Werbeversprechen und ein Anwachsen der Kluft zwischen eigentlich gewünschten und tatsächlichen Kundenerfahrungen und -erlebnissen.
Guter Content gilt hier als die Superkraft im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Verbindung zu den Inhalten und dem eigentlichen Produkt oder der Dienstleistung wird immer loser und löst sich teilweise ganz auf. Viele Unternehmen tappen in die Reichweite-Falle: Selbst wenn die Kampagne auf YouTube oder Instagram viral geht, bleibt der mediale Erfolg häufig ohne echte ökonomische Wirkung.
Angesichts des dynamischen Spannungsfelds, in dem sich Marken heute bewegen, wird es immer schwieriger, die richtige Marketingstrategie zu finden. Trends lösen sich immer schneller gegenseitig ab. Oder sie werden von mächtigen Gegentrends sofort wieder überrumpelt. Die Datenberge zu Konsum- und Userverhalten wachsen, während technologische Möglichkeiten durch KI explodieren. Nie hatten Unternehmen mehr Möglichkeiten und Wege, herauszufinden, was „der Kunde“ will.
Doch die Zielgruppen-Analyse wird nicht selten zum Verhängnis. Zum einen sorgen KIs, ähnliche Datengrundlagen und Testing-Verfahren dafür, dass sich Markenwelten immer mehr ähneln. Zum anderen bleiben Menschen trotz aller KI und Big Data überraschend unberechenbar. In diesem Spiel gewinnt nicht selten, wer mutig vorangeht und etwas anderes wagt.
Große Erfolge haben zuletzt vor allem Marken gefeiert, die auf einem stabilen Wertegerüst aufbauen. Dass Haltung und Verantwortung für die Positionierung von Marken immer wichtiger werden, ist auch im Mainstream angekommen. Die eigene Marke mit Werten aufzuladen gehört inzwischen zum guten Ton. Doch auch hier führen angstgetriebene Überreaktionen zu einer Art „Purpose Overflow“: Kraftvolle Worte wie „Vision“, „Mission“ oder sogar „Liebe“ werden heute inflationär gebraucht. Purpose-Deklarationen gehören heute zum festen Teil eines jeden Unternehmensauftritts – und werden dadurch auch immer inhaltsleerer. Mehr als ein grüner – oder regenbogenfarbener – Anstrich steckt selten hinter den hochtrabenden Haltungs-Statements. Dabei ist eine konsequent gelebte Haltung der beste Schutz gegen Shitstorm und Imageverlust.
Der wahre Wettbewerbsvorteil für zukunftsfähiges Marketing ist nicht das neueste KI-Tool und auch nicht noch mehr Brand Awareness auf noch mehr Kanälen, sondern eine klare Vorstellung der eigenen Rolle im Kontext gesellschaftlichen Trend- und Wertedynamiken. Nur Unternehmen die ein konkretes Zukunftsbild in sich tragen, eine Vision von Zukunft in der sie selbst gestaltend teilhaben, können dieses authentisch nach außen (und nach Innen) vermitteln. Diese authentische Verbindung von Innen und Außen wird zur Hauptaufgabe des Marketing der Zukunft.
Um selbst als Akteure des Wandels zu agieren, brauchen die Brand- und Marketingmanager:innen von morgen sowohl ein tiefes Verständnis für die großen Transformationen unserer Zeit als auch der menschlichen Bedürfnisse und Vergemeinschaftungsprinzipien. Um die Rolle, die das eigene Unternehmen in diesen komplexen Veränderungen spielt und spielen möchte, zu identifizieren und konsequent zu verfolgen, hilft die Entwicklung einer langfristigen Meta-Strategie, die an bereits wirkende gesamtgesellschaftliche Transformationen anknüpft. Vier zukunftsweisende Meta-Strategien stellen wir in unserem Future:Guide „Marketing“ vor. Sie dienen als leitende Rahmenerzählungen und Anknüpfungspunkte für die Entwicklung der individuellen Marken- und Marketingstrategie.
Denn Marken müssen zukünftig ganzheitlich gedacht werden. Die Konsistenz von innen und außen einer Marke wird unabdingbar: Markenerlebnis und Unternehmensverhalten verschmelzen, die Führungskultur wird unmittelbar markenrelevant, Mitarbeitende werden zu Markenbotschafter:innen. Alles, was mit einem Unternehmen zu tun hat, zahlt auf eine universelle Markenerfahrung ein, die Menschen fühlen, erinnern und teilen. Als kollektive Idee und erlebbares Anliegen erzählt die Marke von morgen keine Vision mehr – sie ist selbst Teil der Transformation.
Mit dem „Future:Guide Marketing“ zeigen wir Wege für Marken von morgen auf. Durch umfassende Strategien, Impulse und Handlungsempfehlungen bietet diese Publikation eine Orientierung für Markenverantwortliche in einer Markenwelt im Umbruch.
In unserem Webinar vom 20. November 2024 geben wir Ihnen einen Einblick in unseren Future:Guide Marketing. In Form von Deep Dives tauchen wir gemeinsam mit Nina Weiss, Expertin für Transformations- und Impact Marketing, in verschiedene Bereiche nachhaltiger und transformativer Markenführung ein. Begleitet von zahlreichen Impulsen und Handlungsempfehlungen für die Praxis, bietet dieses Webinar diverse Ansatzpunkte für die Arbeit an und mit Ihrer Marke – auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft.
Melden Sie sich jetzt für unseren kostenlosen Future:Letter an, um die Aufzeichnung vom Webinar zu erhalten.
Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx
29. Februar 2024
„Wir leben in einem Zeitalter der rasenden disruptiven technischen Innovation!“ – So könnte jedes beliebige Beratungsgespräch, jede Rede auf jeder Business-Konferenz beginnen. Was aber, wenn das nichts als Business-Bullshit wäre?
Nehmen wir einmal an, der jüngste Super-Coup des Digitalen wäre einfach nur ein Hype. Klar, Künstliche Intelligenz kann in der Forschung, in der Prozesssteuerung, in bestimmten datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber stellen Sie sich vor, die generative KI, die derzeit überall als das große Zukunfts-Ding gefeiert wird, wäre nichts als eine Angstblüte der IT-Industrie, die verzweifelt eben jenes nächste „große Ding“ sucht. Nehmen wir an, die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – Fusionsenergie, Quantencomputer und eben die superintelligente KI –, wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme.
Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.
Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Bestseller The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation, weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit. Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Dieser „Hype-Innovation-Speak“ kann nur zu Enttäuschungen führen, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen. Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie muss nicht herbeigeredet werden, weil sie, wenn auch leise, meist klar messbar ist. Und: Sie entwickelt sich graduell und nicht mit einem großen Knall.
Vinsel und Russell betonen, dass die Welt, in der wir leben, nicht durch dauernd neue Dinge funktioniert. Sondern zu einem sehr großen Teil durch Erhaltung, Wartung, Pflege, Integration und langsame Verbesserung.
Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere. Einer wahren Anbetung des Disruptiven.
Ein wilder Traum, aus dem wir nun langsam erwachen. Zumindest reiben wir uns häufiger die Augen und fragen uns, ob wirklich jede Innovation unser Leben verbessert. Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, das WLAN funktioniert nicht. Fluggesellschaften sind unerreichbar, und die digitale ID ist unheimlich kompliziert. Der Server im Büro stürzt ständig ab und die smarte Kaffeemaschine hat schon wieder einen Defekt. Und wenn die Stereoanlage den Geist aufgibt, muss man sie wegschmeißen. Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus verlorenen Passwörtern und umständlichen Eingaben verwandelt. Statt schneller wird vieles langsamer.
Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz werden. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in „Techno-Solutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“.
Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit technischem Systemwissen, Care-Arbeiter:innen, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter ständigem Statusverlust. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten, gelten sie als Problem. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.
Menschen, die die alltäglichen Zusammenhänge verstehen, die mit ihren Händen konkrete Arbeit verrichten und dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Dieser Erwartungsüberschuss belohnt unentwegt diejenigen, die mit Illusionen handeln. Und erniedrigt jene, die mit Realitäten umgehen und unsere Welt am Laufen halten.
Individuelle Zukunfts-Skills bringen uns nicht weiter: Es ist an der Zeit, ein neues gesellschaftliches Verständnis von Aufmerksamkeit zu entwickeln.
von Nina Pfuderer
Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Beyond 2024 – Das Jahrbuch für Zukunft“
5. Dezember 2023
Die hyperindividualisierte, digitalisierte Wissensgesellschaft ist von einem mächtigen Imperativ geprägt: Entfalte dein Potenzial! Potenzialentfaltung und Selbstoptimierung sind die scheinbar logische Konsequenz einer immer individualisierteren Gesellschaft und einer Wirtschaft, die sich dem Wachstum verschrieben hat.
Wissen ist heute zugleich zugänglicher und vergänglicher denn je. Und je weniger sich die Zukunft durch das Wissen über die Vergangenheit bewältigen lässt, umso mehr verliert die pure Aneignung von Wissen und Fachkompetenzen an Bedeutung. Als Antwort auf die maschinelle Automatisierung durch Künstliche Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die menschliche Intelligenz und auf genuin humane Fähigkeiten. Diese werden unter einem neuen Namen verhandelt: Future Skills.
Je vielfältiger, komplexer und abstrakter die Palette der Future Skills wird, umso mehr klingen sie mitunter wie Plastikwörter. Und alle zielen letztlich darauf ab, sich bestmöglich anzupassen an eine unsichere, sich rasend schnell verändernde Welt. Frei nach dem Motto: Sei wie ein Grashalm, dann kann dir nichts passieren, dann tut dir auch die schlimmste Krise nichts! Zugegeben, Grashalme sind sehr gut gerüstet für Sturmböen und starke Winde. Aber in einer Dürre sind sie schnell vertrocknet, ihre Wurzeln sind nicht so tief, dass sie auch nur in die Nähe von Grundwasser gelangen. In einer Flut werden sie weggespült und mitgerissen.
Vielleicht wäre deshalb das Bild des Baumes eine Alternative, um über Future Skills nachzudenken. Bäume haben ein dichtes, tiefreichendes Wurzelgeflecht, das als Anker dienen kann. Mit Blättern, die Photosynthese praktizieren und sich ziemlich gut selbst versorgen. Natürlich gibt es auch Krisen, die dem Baum etwas anhaben können – Brände, Blitzschläge, Borkenkäfer, Menschen. Doch der Baum ist nicht darauf ausgelegt, sich schnellstmöglich anzupassen, sondern auf ein langfristiges Überleben in sich wandelnden Umgebungen.
Baum und Grashalm haben also vor allem in zeitlicher Hinsicht ganz andere Skill-Sets. Während der Grashalm Fähigkeiten wie agiles Arbeiten, Adaptivität und Flexibilität symbolisiert, steht der Baum, der mehrere Hundert Jahre alt werden kann, für ein langfristig ausgerichtetes Denken und Handeln. Die Future Skills des Baumes verweisen auf die Konzentrations- und Empathiefähigkeit, auf das Schenken von Aufmerksamkeit, auf das Zuhörenkönnen. Auf die Fähigkeit des Zweifelns und Entscheidens. Auf die abwägende Risikokalkulation.
In Zeiten der fortgeschrittenen Aufmerksamkeitsökonomie, in der Unternehmen für Millisekunden Watchtime bezahlen, wo von überallher Push-Notifications, Blings und Pings aufpoppen und mit der Stitch-Funktion auf TikTok sogar zwei Videos gleichzeitig abgespielt werden, um die Aufmerksamkeit der Zuschauenden so lang wie möglich zu halten – in diesen Zeiten ist es kein Wunder, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird. Und dass wir verlernt haben, anderen Menschen Geduld, Zugewandtheit und Empathie zu schenken. Was wir deshalb brauchen, ist die Kompetenz einer grundlegenden Freundlichkeit.
Was wäre also, wenn wir uns wieder stärker auf jene grundlegenden Kompetenzen konzentrieren, die wirklich zukunftsfähig sind, weil sie uns in Krisen tatsächlich weiterbringen? Die uns einzuschätzen helfen, ob eine Krise wirklich eine Krise oder gar eine Katastrophe ist – oder vielleicht sogar eine Chance für Veränderung?
Das Problem der fehlenden Aufmerksamkeit für andere wurzelt in Wirtschaftslogiken, die auf Analytik und Effizienz getrimmt und nicht empathiefähig sind. Geboren und groß gemacht hat es eine Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass in der Schublade hat verstauben lassen. Im übermächtigen Streben nach Potenzialentfaltung und Selbstoptimierung, bei all dem Upskilling und Reskilling, vergessen wir oft, dass Kompetenzen sich erst im Miteinander richtig entfalten.
Was wir in Zukunft brauchen, um als Zivilisation zu bestehen, ist eine gesellschaftliche Charakterbildung: weg von egozentrierten, impulsiven Entscheidungen, hin zum aktiven Zuhören, Nachfragen, dem wirklichen Interesse für andere. Wenn wir uns darauf konzentrieren, diese Fähigkeiten (wieder) zu erlernen, zu kultivieren und weiterzuentwickeln – im „Kleinen“, als einzelne Individuen, wie im Großen, im Bildungs- und Wirtschaftssystem –, dann werden wir auch in unsicheren und volatilen Zeiten fest verankert sein. Denn dann haben wir Wurzeln, die uns auch in Krisenphasen erden.