Zyklen der Zukunft

Wie uns ein neues Zeitverständnis Orientierung in chaotischen Zeiten geben kann

Heute schon an morgen und übermorgen denken, am Wochenende die nächste Woche planen, am Jahresende das kommende Jahr … Wir sind es gewohnt, Zeit als eine Linie zu begreifen. Ein Pfeil, der von der Vergangenheit unaufhaltsam in die Zukunft Zeit. Aber was, wenn wir dieses lineare Denken beiseitestellen und uns auf andere Denkfiguren einlassen? Wenn wir in unserer Umwelt nicht Linien, sondern Zyklen suchen?

Ein Auszug aus „Beyond 2026“, dem Jahrbuch für Zukunft.

von Nina Pfuderer

4. Dezember 2025

Das Ende der Linearität

Lineares Denken durchzieht die westlichen Gesellschaften wie ein roter Faden, von der christlichen Heilsgeschichte über die kapitalistische Wachstumslogik bis hin zum modernen Fortschrittsglauben. Das Diktat der Linearität hat uns fest im Griff. Es muss immer weitergehen, am besten schnell nach vorn und steil nach oben. Wachstumskurven gefallen den Menschen am besten, wenn sie linear sind, also bitte ohne Einbrüche und Abzweigungen nach unten. Auch Trendlinien werden noch immer linear gedacht – weil man sie so am einfachsten in die Zukunft verlängern kann.

Eine ganze Zeit lang hat das ziemlich gut funktioniert. Die westlichen Wohlstandsgesellschaften entwickelten sich lange nur nach oben, alles wuchs immer weiter – Globalisierung, Urbanisierung, Vernetzung, materieller Überfluss. Doch in den vergangenen zehn bis 15 Jahren begann das Diktat der Linearität zu bröckeln. Inzwischen kommt uns die Vorstellung von Wachstum ohne Grenzen hohl vor. Gerade in den herausfordernden Zeiten der Omnikrise bringt uns das alte lineare Denken nicht mehr weiter.

Noch im Agrarzeitalter waren Menschen viel enger mit diesen natürlichen Rhythmen verbunden. Unser natürliches Zeiterleben ist rhythmisch – so wie die Jahreszeiten, wie Tag und Nacht, wie der weibliche Zyklus. Auf hell folgt dunkel, auf Ebbe folgt Flut, auf Anspannung folgt Entspannung. Klar, es ist eine große Errungenschaft, dass wir heute Elektrizität, Supermärkte und Flugzeuge haben. Wir sind zu Herrscher:innen über Raum und Zeit geworden, haben die Zeit begradigt. Doch immer deutlicher stellt sich inzwischen die Frage: Haben wir dabei vielleicht etwas Wesentliches verloren?

Zyklen der Zukunft

Zyklen sind Wellenbewegungen, in die Zukunft gedachte Kreise. Sie kehren immer wieder – aber nie genau gleich. Sie sind kein Hamsterrad, kein „Zurück auf Los“, sondern bringen mit jeder neuen Phase eine gewisse Veränderung, eine Reifung mit sich. Es gibt Zyklen, die Milliarden von Jahren umfassen, und solche, die nur wenige Sekunden dauern. Naturphänomene wie die Erdrotation, Mondzyklen, Jahreszeiten, sogar Leben und Tod folgen zyklischen Mustern. Auch der Mensch ist Teil dieses natürlichen Kreislaufs – physisch, biologisch, hormonell.

Die zyklische Ordnung der Dinge spiegelt sich auch in den Kulturen der Menschen. Vom Aufstieg und Untergang ganzer Kulturen bis zu Modezyklen, die Märkte und Zeitgeist bestimmen. Alles kommt irgendwann wieder – Schlaghosen, Schulterpolster, Arschgeweih. So entstehen „Kurven“ oder „Evolutionslinien“, an denen sich gesellschaftliche Entwicklungen ablesen lassen (vgl. Link 2019).

Wie Mode und Kultur folgen auch politische Strömungen zyklischen Mustern: Alte Rollenbilder, historische Symbole und autoritäre Tendenzen kehren zurück. Wer angesichts solcher Rückschläge der Verzweiflung nahe ist, kann Trost im zyklischen Denken finden: Ein Backlash ist selten endgültig, sondern meist nur ein vorübergehender Tiefpunkt, bevor sich der Zyklus wieder aufschwingt und neue Chancen, Entwicklungen und Bewegungen ermöglicht.

Wirtschaft ist zyklisch

Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Russell Dewey (1895– 1978) widmete sein Leben der Erforschung und Messung von Zyklen. Er fand mehr als 500 verschiedene zyklische Phänomene in 36 verschiedenen Wissensbereichen, etwa im Wachstum eines Kürbisses, in den Schwankungen von Luchsbeständen, in der Variation menschlicher Emotionen – und in der Wirtschaft. 

Durch die Erforschung zyklischer Bewegungen wollte Dewey verlässlichere wirtschaftliche Vorhersagen ermöglichen. Er nahm an, dass Menschen in Rhythmen auf natürliche Zyklen reagieren und so andere Zyklen, auch ökonomische, beeinflussen. Er beschrieb Zyklen als Wellen um eine gebogene Trendachse: Ein Trend wächst zunächst fast linear, stößt an Grenzen und erreicht ein Plateau. Solange der Trend steigt, fallen die Wellen weniger auf – der Tiefpunkt eines Zyklus kann sogar über dem vorherigen Höhepunkt liegen. Erst wenn das Wachstum abflacht, werden Auf- und Abbewegungen deutlich; Krisen wirken dann überraschend, sind aber Teil der schon lange wirkenden Zyklen.

Folgt man Deweys Analysen, könnte die gegenwärtige Phase der Omnikrise einen Punkt markieren, an dem der Aufwärtstrend abflacht, sodass die zyklischen Auf-und Ab- Bewegungen überdeutlich werden. Vielleicht erklärt sich so auch ein Stück weit, weshalb uns Trumps zweite Amtsperiode noch bedrohlicher vorkommt als die erste und warum die Erfolge der AfD in einer geopolitisch und sozial angespannten Lage noch mehr schmerzen: Trendbewegungen, die uns linear erscheinen, nehmen wir als wichtiger und größer wahr als die Zyklusbewegungen, die um die Trendlinie herum liegen.

Um eine Trendwende herbeizuführen, braucht es laut Dewey äußere oder innere Impulse – etwa Innovationen, gesellschaftliche Veränderungen oder außergewöhnliche Ereignisse –, die bestehende Zyklen verstärken oder abmildern und so neue Dynamiken ermöglichen. An diesem Punkt setzt auch die transformative Zukunftsforschung des Future:Project an: mit der Formulierung und Förderung konstruktiver Zukunftsnarrative, die sich aus dem Inneren der Gesellschaft heraus entfalten. Ein solches Narrativ kann auch das Denken in Zyklen selbst sein.

Zyklisch denken, fühlen, arbeiten

DENKEN IN ZYKLEN: DIE KUNST DES WERDENS

Oft schreckt uns das Zyklische ab, weil es den Anschein erweckt, wir würden wieder dort ankommen, wo wir schon einmal waren – ohne Fortschritt, vielleicht sogar im Rückschritt. Doch Zyklen bedeuten keine Stagnation. Jede Wiederkehr trägt eine Veränderung in sich, führt zu einer neuen Stufe der Komplexität und der Reifung. Wie eine Spirale, die sich nach oben windet. Dieses Denken ist auch im individuellen Erleben hilfreich. Zwischen einem Punkt, an dem wir jetzt stehen, und dem Ziel, das wir anstreben, erzeugt unser Gehirn leicht Stress: Die Amygdala aktiviert Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktionen und hemmt so das rationale Denken des präfrontalen Cortex (vgl. Goleman 1996; vgl. Arnsten 2009). Wer dagegen ein „Growth Mindset“ kultiviert, begreift diese Lücke nicht als Gefahr, sondern als Spielraum (vgl. Dweck 2006). Entwicklung heißt dann, sich im Prozess zu weiten, aus Fehlern zu lernen und Wandel als natürlichen Teil des Zyklus zu akzeptieren.

FÜHLEN IN ZYKLEN: INNERE SCHWINGUNGEN ANNEHMEN

Der Schlaf-Wach-Rhythmus und der Menstruationszyklus beeinflussen Konzentration, Kreativität und Extrovertiertheit. Wer seinen Chronotyp kennt und respektiert, lebt im Einklang mit dem natürlichen Energieprofil: morgens nicht auf Höchstleistung pochen, nachmittags lieber Bewegung einbauen, statt sich dagegenzustemmen. Auch der Hormonzyklus lässt sich nutzen: die Lutealphase für Reflexion und Detailarbeit, die Ovulationsphase für wichtige Termine, die Follikelphase für kreative Prozesse (vgl. Erler 2023). Es geht nicht darum, eigene oder fremde Kalender strikt an natürliche Zyklen anzupassen. Vielmehr hilft es, mit dem eigenen Rhythmus zu arbeiten – und Gelassenheit zu bewahren, wenn etwas nicht optimal gelingt. Denn jede Phase geht vorbei. Und mit dem nächsten Zyklus, manchmal schon nach ein paar Stunden, bieten sich neue Gelegenheiten.

ARBEITEN IN ZYKLEN: MIT DER ZEIT STATT GEGEN SIE

Traditionelle Unternehmen sind oft linear organisiert, doch immer mehr Arbeits- und Organisationsformen folgen Zyklen. Die Lean-Startup-Methode etwa basiert auf wiederkehrenden Abläufen: planen, handeln, testen, scheitern, anpassen, erneut testen. Auch Planungs-, Feedback- und Reporting-Prozesse sind meist monatlich getaktet. Moderne Kulturen gehen noch weiter und berücksichtigen biologische Rhythmen, hormonelle Zyklen und neurobiologische Reaktionen. Organisationen, die zyklisch denken, verstehen Wandel anders: Sie wissen, dass Wachstum endlich ist, dass verschiedene Rhythmen ineinandergreifen und auch Krisen nur eine Phase darstellen.

Zyklen als Zukunftskompass

Zyklisches Denken ist kein romantisches Naturideal, sondern ein praktisches Instrument, um Erschöpfung, Krisendenken und überfordernde Linearität zu überwinden. Auf individueller Ebene hilft es, Aufgaben an biologische Rhythmen anzupassen, Stress zu reduzieren und mehr Geduld mit sich selbst und anderen zu entwickeln; auf organisatorischer Ebene ermöglicht es adaptive, wandlungsfähige Strukturen.

Gesellschaftlich erlaubt uns das Verständnis zyklischer Bewegungen, Trends und Krisen als Wellen zu erkennen – und dadurch ruhiger und nachhaltiger zu entscheiden. Wir lernen, „beyond crisis“ zu sehen und neue Zukünfte zu imaginieren. Und zugleich schärft das Denken in Zyklen unser Bewusstsein für die tiefe Verbindung zwischen uns selbst und allen, die uns im zyklischen Lauf des Lebens umgeben: Wir sind eingebettet in vergangene und zukünftige Traditionen – eine Art transgenerationale Umarmung mit unseren Vor- und Nachfahren.

Zyklen lehren uns, dass alles wiederkehrt und jeder Tiefpunkt eine Chance auf Aufschwung birgt – denn in den seltensten Fällen bleiben wir in regressiven Zyklen gefangen. Die Zyklen der Zukunft sind Synthesen des Vergangenen auf einer höheren Ebene. Wer das versteht, gewinnt Orientierung und Gelassenheit in chaotischen, katastrophischen Zeiten.

Electrify! Die Zukunft steht unter Strom

Aufbruch in das neo-elektrische Zeitalter

von Jonas Höhn

31. Oktober 2025

Haben Sie schon bemerkt, dass Sie Zeitzeuge einer gewaltigen technologischen Revolution sind? Wahrscheinlich denken Sie jetzt zuerst an die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz. Doch während digitale Technologien und KI mittlerweile fast täglich Schlagzeilen machen, bahnt sich fast unbemerkt eine noch grundlegendere Transformation der materiellen Welt an: der Aufbruch in das neo-elektrische Zeitalter.

Die erste große Welle der Elektrifizierung begann Ende des 19. Jahrhunderts. Damals entbrannte der legendäre „Stromkrieg“ zwischen den berühmten Erfindern Thomas Alva Edison und Nikola Tesla. Die beiden Visionäre träumten von einer elektrifizierten Welt, in der Strom unbegrenzt verfügbar ist und Fabriken, Häuser und ganze Städte mit elektrischer Energie versorgt sind. Tatsächlich stammen wegweisende Erfindungen wie das Wechselstromsystem, Transformatoren, Generatoren, elektrische Beleuchtungssysteme oder auch Elektromotoren aus der ersten elektrischen Revolution. Viele dieser Erfindungen prägen – in weiterentwickelter Form – bis heute unseren Alltag.

Damals wurde Strom noch fast ausschließlich aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Da die meisten elektrischen Technologien nicht ausgereift waren und es in vielen Branchen einfacher blieb, Kohle und später Öl oder Gas zu verbrennen, beschränkte sich die erste Phase der Elektrifizierung auf einzelne Anwendungen und Bereiche des täglichen Lebens.

Heute, rund 150 Jahre später, haben sich die Vorzeichen grundlegend verändert. Erneuerbare Energien entwickeln sich mit rasender Geschwindigkeit zur dominierenden Quelle der globalen Stromerzeugung. Doch bei den Zukunftspotenzialen dieser Transformation geht es um weit mehr als die Einsparung von Emissionen. In Wahrheit eröffnet das neo-elektrische Zeitalter Visionen von nahezu unbegrenztem, sauberen Strom, neuen Technologien, die für mehr Lebensqualität sorgen, sinnvollem Wirtschaftswachstum und einem erweiterten Verständnis für Regeneration. Die nächste Revolution der Elektrifizierung gibt der Zukunft wieder ein Fortschrittsversprechen – das Leitbild einer elektrisierenden Zukunft, die immer mehr zur gelebten Realität wird.

Am Anfang einer neuen Zukunft

An dieser Entwicklung können auch ewige Pessimist:innen, notorische Anhänger:innen fossiler Lebensstile und Innovationsverhinderungsprofiteure wie der US-amerikanische Energieminister und Fracking-Unternehmer Chris Wright nichts ändern, der die Energiewende als Kulturkampf inszeniert und die Solar- und Windenergie als „Parasit im Stromnetz“ diffamiert (vgl. McKibben 2025).

Diese Überhitzung im politischen Diskurs verzerrt den Blick darauf, dass es nicht etwa parteipolitische Vorlieben oder die Angst vor den Folgen des Klimawandels sind, die die Energiewende vorantreiben, sondern vor allem global wirkmächtige Marktmechanismen und industrielle Logiken. Der wachsende Erfolg der erneuerbaren Energien spricht eine eindeutige Sprache: Die Energieleistung aus Fotovoltaik und Windkraft steigt seit Jahren mit einer Geschwindigkeit, die kein anderer Energieträger in der Geschichte der Menschheit vorweisen kann. Immer wieder muss die Internationale Energieagentur (IEA) ihre jährlichen Prognosen zum Wachstum der erneuerbaren Energien nachträglich nach oben korrigieren, weil sich die Energierevolution mit einer unvorhergesehenen exponentiellen Dynamik entfaltet (vgl. Meyer 2025).

Nicht nur in China, das sich längst zum Zentrum dieser Technologien entwickelt hat, kann man diese Dynamik beobachten. Es handelt sich um eine globale infrastrukturelle Transformation.

Eine entscheidende Ursache für diese bemerkenswerte Dynamik liegt im Preis. Schon heute produzieren Fotovoltaikanlagen in Kombination mit Batteriespeichern deutlich günstigeren Strom als Kohle- oder Gaskraftwerke – Tendenz steigend (vgl. Kost et al. 2024). Würden wir die zukünftige Ausrichtung unserer Energiesysteme nur nach Kosten und Effizienz beurteilen, gäbe es ohnehin keine Zweifel mehr: Erneuerbare Energien sind mittlerweile nicht nur günstiger, sondern auch wesentlich effizienter als fossile Ressourcen.

Werden Kohle, Öl oder Gas verbrannt, geht ein Großteil der Primärenergie als Abwärme verloren. So verschwenden etwa Autos mit Verbrennungsmotoren bis zu 80 Prozent der eingesetzten Energie, sie sind sozusagen „fahrende Heizungen“ (vgl. Meyer 2025). E-Autos überführen dagegen mindestens 70 Prozent der eingesetzten Energie in die Fortbewegung und speisen die überschüssige Energie über ihre Batterien wieder ins System zurück – sie sind also fahrende Speichertechnologien.

Alles wird elektrisch!

Das energetische Potenzial der erneuerbaren Energien ist unvorstellbar groß. Studien zufolge ließe sich mit Solar- und Windenergie der heutige weltweite Energiebedarf um das Hundertfache decken. Dafür wären lediglich 0,3 Prozent der Erdoberfläche nötig – weniger als das, was wir derzeit für fossile Infrastrukturen aufwenden (vgl. Bond 2021).

Die Aussicht auf nahezu unbegrenzte saubere Energie darf nicht missverstanden werden: Es reicht nicht aus, fossile Energieträger im bestehenden System lediglich durch erneuerbare Quellen zu ersetzen. Wir stehen vor einer radikalen Transformation – der rapide Ausbau von Wind- und Solarenergie stellt das gesamte Energiesystem auf den Kopf. Denn wenn Energie kein Mangel mehr ist, stellt sich die Frage: Wie können wir diese gewaltigen Energiemengen sinnvoll nutzen und verwalten, um eine bessere Zukunft zu gestalten?

Hier kommt die große Elektrifizierung ins Spiel. So wie das Wachstum der erneuerbaren Energien hat die Umstellung von nicht-elektrischen Anwendungen auf Strom in den vergangenen 25 Jahren alle Erwartungen übertroffen. Die Fortschritte bei den sogenannten Electrotechs (Batterien, Fotovoltaikanlagen, Smart Grids usw.) sind erstaunlich.

Weitere Fortschritte stehen kurz bevor. Studien zufolge kann die batterie-elektrische Schifffahrt schon bald durch fallende Batteriepreise, leistungsfähigere Akkus und infrastrukturelle Anpassungen weltweit wettbewerbsfähig werden. China treibt diese Entwicklung mit Nachdruck voran und lässt bereits elektrische Frachtschiffe bauen, deren Akkus sich innerhalb von wenigen Minuten austauschen lassen (vgl. Bork 2025). Schon bald könnten so in den Häfen dieser Welt logistische Ökosysteme auf Basis von Electrotechs entstehen.

Nur in den wenigen Bereichen, die sich gegenwärtig schwer direkt elektrifizieren lassen – etwa der Luftfahrt, Stahlproduktion oder Teile der chemischen Industrie – empfehlen Studien noch den teureren grünen Wasserstoff als komplementäre Lösung (vgl. Schreyer et al. 2024). Ansonsten gilt als sicher, dass elektrische Energiesysteme nicht nur sauberer, sondern längst leistungsfähiger, widerstandsfähiger und technologisch überlegener sind als ihre fossilen Vorgänger.

Zukunft unter Strom

Erwächst der Siegeszug der sauberen Energien primär aus Klimasorgen und politischen Maßnahmen? Mitnichten. Ein zentraler Antrieb der neo-elektrischen Revolution sind neue industrielle Potenziale, technologische Innovationen und eine bessere Energiesicherheit (vgl. Walter et al. 2025).

Das neo-elektrische Zeitalter, in dem Strom zur nahezu universell verfügbaren Ressource und zur Lebensader der Gesellschaft wird, ist keine theoretische Vision mehr, sondern eine realistische Aussicht. Eine Zukunft, die in doppelter Hinsicht elektrisiert.

Zukunft verläuft nicht geradlinig, das führt uns die gegenwärtige Omnikrise deutlich vor Augen. Auch die Zukunft der Elektrifizierung ist kein linearer Prozess, der automatisch erfolgt, trotz der atemberaubenden Fortschritte. Die Transformation unserer Energiesysteme wird Reibungen, Friktionen und Widerstände erzeugen.

Doch wir sollten nicht vor der Zukunft flüchten und sie mit negativen Zuschreibungen wie Vermeidung, Verzicht oder Verbot aufladen. Gerade heute muss Zukunft wieder begeistern können. Die Neo-Elektrifizierung und der Aufstieg der erneuerbaren Energien bringen dieses Begeisterungspotenzial mit, indem sie uns greifbare Chancen auf eine bessere Zukunft eröffnen. Diese Strahlkraft ist ein unschätzbarer Zusatznutzen der neo-elektrischen Revolution: Sie hilft uns, auch die Zukunft unter Strom zu setzen.

Wie die Generation Z den Handel neu denkt

Zwischen Sinnsuche, Selbstoptimierung und Schnäppchenlust: Was die Generation KI wirklich will

6. Oktober 2025

Die Generation Z steht im Zentrum einer tektonischen Verschiebung im Handel. Aufgewachsen zwischen Krisen, Klimawandel und KI, bewegt sie sich in einem Spannungsfeld aus Widersprüchen: Sie sucht nach dem nächsten Dopamin-Kick – nach neuen Reizen, Trends und Überraschungen – und gleichzeitig nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Orientierung. Diese doppelte Bewegung prägt ihr Konsumverhalten stärker als jede andere Generation zuvor. Produkte müssen heute aufregend und kalkulierbar sein, inspirierend und erschwinglich. Die Gen Z will das Besondere – aber bitte mit System.

Für den Future:Guide Handel hat Handels-Zukunftsforscherin Theresa Schleicher die Generation Z nach ihren Bedürfnissen und Vorlieben befragt: In qualitativen Gruppen mit Gen-Z-Vertreter:innen sowohl aus Städten als auch aus ländlichen Regionen hat sie die Anforderungen der Gen Z an fünf Branchen evaluiert und quantitativ mit Umfragen abgeglichen und ergänzt.

Lebensmittel: Cleane Basics statt Premium-Hype

Im Lebensmittelhandel steht alles im Zeichen von Gesundheit, Fitness und Zugänglichkeit. Proteinreiche Produkte, Functional Food und regionale Ware sind gefragt – aber zu fairen Preisen. Statt Luxus will die junge Generation gute Alltagslösungen: cleane, günstige Basics, pflanzenbasierte Alternativen und Eigenmarken mit Haltung. Händler:innen punkten mit Konzepten wie Smart Fill-up-Points, personalisierten Ernährungsboxen oder CO₂-Tracking-Apps. Begeisterung entsteht dort, wo Essen wieder zum Erlebnis wird – etwa bei Community-Cooking-Events, Pop-up-Küchen oder Zero-Waste-Aktionen.

DIY & Möbel: Vom Produkt zum Serviceerlebnis

Auch in der DIY- und Möbelbranche zeigt sich ein neues Denken: Weg vom reinen Produktverkauf, hin zu Services und Erlebnissen. Gen Z möchte gestalten, aber mit Unterstützung – durch smarte Tools, AR-Anleitungen oder Mietmodelle. Qualität und Nachhaltigkeit zählen, doch nicht im moralischen Sinn, sondern als Zeichen von Langlebigkeit und cleverem Design. Möbel sollen leistbar, modular und inspirierend sein – wie Mode für den Wohnraum. Workshops, Co-Design-Räume und 3D-Druck-Angebote machen den Handel zum Partner einer kreativen, pragmatischen Generation.

Mode & Drogerie: Lifestyle als Haltung

Mode ist für die Gen Z Ausdruck von Identität – aber auch von Verantwortung. Secondhand, Circular Fashion und cleane Eigenmarken stehen hoch im Kurs. Statt Markenfetischismus zählt die richtige Balance aus Individualität, Ethik und Preis. Ähnlich im Drogeriesegment: Gesundheit und Selfcare verschmelzen mit Lifestyle. Refill-Systeme, hormonfreundliche Produkte und Smart-Beauty-Tools prägen das neue Sortiment. Die Drogerie bleibt Trendsetter – mit Testing-Stationen, Social-Media-Kollektionen und Abo-Modellen, die Convenience und Community verbinden.

Kuratierter Alltag statt Konsumrausch

Die Gen Z verlangt vom Handel nicht einfach Produkte, sondern Orientierung im Überangebot. Sie will entdecken, aber nicht überfordert werden; sie will sparen, ohne Verzicht; sie will Nachhaltigkeit, ohne Moralkeule. Für Händler:innen bedeutet das: weniger Massenkommunikation, mehr Kuratierung; weniger Werbung, mehr Bedeutung. Die Zukunft des Handels liegt nicht im „Mehr“, sondern im richtigen Maß – dort, wo Konsum Sinn, Gemeinschaft und Alltag intelligent miteinander verbindet.

Der Future:Guide Handel von Theresa Schleicher betrachtet Trends und Szenarien für die Handelszukunft. Er zeigt, welche Entwicklungen die Branche in den kommenden Jahren prägen – und welche Chancen daraus entstehen.

zum Buch

Future:Needs

Treiber für den Konsum der Zukunft

Ein neuartiges Modell, das zwölf grundlegende menschliche Bedürfnisse kartiert: Mit „Future:Needs“ verstehen Sie die kollektiven und individuellen Bedürfnisse, die hinter Konsum stecken – und können Ihre Produkt- und Kommunikationsstrategie entsprechend anpassen.

Ein Auszug aus dem Future:Guide Konsum.

von Janine Seitz

25. Juli 2025

Was brauchen Menschen in einer Zukunft, die von Krisen, Wandel und Komplexität geprägt ist? Diese scheinbar einfache Frage steht im Zentrum des Future:Needs-Modells – und sie führt zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem, was Konsum jenseits von Überfluss und Verzicht bedeuten kann.

Denn eines ist klar: Unsere gegenwärtige Konsumkultur ist an ihre Grenzen geraten. Sie ist getrieben von Wachstum, geprägt von kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung und basiert auf einer industriellen Logik des Immer-mehr. Doch Zukunft entsteht nicht aus linearem Fortschritt, sondern aus der Fähigkeit, Muster zu erkennen, Bedürfnisse zu transformieren und neue Möglichkeitsräume zu gestalten.

Von der Bedürfnis-Pyramide zur Zukunftsmatrix

Das Future:Needs Modell, entwickelt von Janine Seitz im Rahmen des Future:Guide Konsum, löst sich bewusst von traditionellen Bedürfnismodellen wie etwa der Maslowschen Pyramide. Stattdessen arbeitet es mit einer systemischen Perspektive: Bedürfnisse werden nicht hierarchisch verstanden, sondern als dynamische Felder, die sich in unterschiedlichen kulturellen und technologischen Kontexten unterschiedlich ausprägen.

Die Future:Needs beschreiben die menschlichen Bedürfnisse, auf die sich Produkte und Services der Zukunft ausrichten müssen – jenseits künstlich erzeugter Begehrlichkeiten.

Unternehmen können das Future:Needs-Modell nutzen, um zu prüfen, welche menschlichen Bedürfnisse ihr Produkt oder ihre Dienstleistung anspricht oder erfüllt:

  • Zugehörigkeit: Ermöglicht mein Produkt Gemeinschaft?
  • Exploration: Schafft es Raum für Entfaltung und Neugier?
  • Verlässlichkeit: Gibt es Stabilität in einer unsicheren Welt?
  • Sinn: Vermittelt es klare Werte und eine Vision?

Von falschen Begehrnissen zu echten Bedürfnissen

Wir unterscheiden zwischen Bedürfnissen und Begehrnissen. Menschliche Bedürfnisse lassen sich erfüllen und ihre Anzahl ist begrenzt. Begehrnisse dagegen sind unstillbar, sie sorgen dafür, dass Menschen in ein Hamsterrad des Konsums geraten: Jedes vermeintlich gestillte Begehrnis erzeugt ein neues Begehrnis und sorgt so für eine stetige Steigerung des Konsums. Ein Bedürfnis hingegen ist endlich und ermöglicht ein zufriedenes Leben.

„Future:Needs sind die Treiber für Veränderungen und Transformationen.“

Bedürfnisse sind das zentrale Motivationssystem von Menschen. Sie lassen sich individuell, aber auch im sozialen Austausch oder im Austausch mit der Umwelt erfüllen. Bedürfnisse sind universell gültig, aber sie haben kulturelle Ausprägungen. Die Strategien zur Bedürfnisbefriedigung sind demnach unterschiedlich. 

In Bedürfnissen steckt auch immenses Potenzial: Future:Needs sind die Treiber für Veränderungen und Transformationen. Sie sind die Grundlage, die intrinsischen Motivatoren für die Entwicklung von Trends. Anders gesagt sind Trends die sichtbaren Manifestationen im Äußeren der intrinsischen menschlichen Bedürfnisse, also die Art und Weise, wie wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen.

„Trends sind die Manifestation dessen, wie Menschen Ihre Bedürfnisse erfüllen.“

12 Tipps: Die Future:Needs als Strategie-Tool

Ihre Produkte müssen nicht alle Bedürfnisse abdecken. Das wäre gar nicht möglich. Aber wenn Sie Ihr Angebot mit den vier Bedürfnisfeldern abgleichen, ergeben sich daraus Empfehlungen für die Entwicklung, Positionierung und Kommunikation Ihres Produkts.

Sicherheit

  • Bieten Sie Produkte und Dienstleistungen an, die grundlegende Sicherheit und Verlässlichkeit gewährleisten.
  • Dies kann sich in langlebigen Produkten, zuverlässigen Services oder auch in der Bereitstellung von Lösungen für physische oder mentale Erholung äußern.
  • Heben Sie in Ihrer Kommunikation Beständigkeit und Vertrauenswürdigkeit hervor.

Autonomie

  • Geben Sie Konsument:innen die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, sich weiterzuentwickeln und ihre eigene Identität auszudrücken.
  • Dies beinhaltet Angebote, die personalisierte Erfahrungen, kreative Entfaltung oder Selbstoptimierung bieten.
  • Stellen Sie die Individualität und Gestaltungsfreiheit in den Mittelpunkt.

Transzendenz

  • Schaffen Sie Produkte mit Sinn und vermitteln Sie klare Werte und eine Vision.
  • Dies kann durch soziale und ökologische Verantwortung, transparente Lieferketten oder Produkte, die persönliches Wachstum und gesellschaftlichen Beitrag fördern, geschehen.
  • Betonen Sie den positiven Einfluss des Unternehmens oder des Produkts.

Verbundenheit

  • Entwickeln Sie Produkte, Dienstleistungen und Kommunikationsstrategien, die soziale Interaktion, Zugehörigkeit und den Aufbau von Gemeinschaft fördern.
  • Dies kann durch Plattformen für Austausch, gemeinschaftliche Erlebnisse oder Produkte, die ein Wir-Gefühl stärken, erreicht werden.
  • Fokussieren Sie sich kommunikativ auf Austausch und Community.

Kundenbedürfnisse erkennen und ansprechen

In einer Zeit der Übersättigung entscheidet nicht mehr das „Was“, sondern das „Warum“. Im Wettbewerb um Zielgruppen und Marktanteile mit immer kleinteiligerer Personalisierung und immer aufwendigeren Marketingkampagnen verlieren viele Unternehmen das Wesentliche aus den Augen: den Menschen – und das, was ihn wirklich bewegt.

Zukunftsfähige Marken entwickeln sich nicht aus dem Bauch heraus – sondern aus einem klaren Verständnis dafür, worauf sie einzahlen. Mit den Future:Needs erkennen Sie heute schon die Bedürfnisse von morgen und können Ihre Strategie darauf ausrichten.

Janine Seitz ist Zukunftsforscherin, Kulturwissenschaftlerin und Expertin für Konsumkultur. Aus den Dynamiken von Trends und Gegentrends entwickelt sie ein ganzheitliches Verständnis von Konsum, das die menschlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt.

Die Zukunft des Konsums

Der Konsum der Zukunft hat eine klare Funktion: Er soll ein gutes Leben ermöglichen. Um das zu erreichen, brauchen wir allerdings eine grundlegende Transformation von Konsum. Denn momentan richtet er mehr Schaden an, als er nützt. Vier Thesen für die Zukunft des Konsums  – und wie Unternehmen die Transformation des Konsums vorantreiben können.

Ein Auszug aus dem Future:Guide Konsum.

von Janine Seitz

3. Juni 2025

Welt ohne Konsum

Von heute aus betrachtet wäre eine Welt ohne Konsum (wie wir ihn kennen) eine Welt im Chaos. Die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend:

  • Das Wirtschaftssystem bricht zusammen, da es auf Wachstum und dem Verkauf von Waren basiert. Ohne Gewinnerzielung keine Arbeitsplätze. Es kommt zu einer Rezession und hoher Arbeitslosigkeit. 
  • Die Massenproduktion von Waren geht zurück, weltweit fallen Jobs weg. Dadurch verändert sich unser Umgang mit Waren: Dinge werden repariert, möglichst lange am Laufen gehalten, jede:r versucht, sich selbst zu versorgen, glücklich können sich diejenigen schätzen, die einen Garten oder Land und Möglichkeiten haben, Nahrungsmittel selbst zu erzeugen. 
  • Die Schattenwirtschaft floriert. Und überhaupt: Wer braucht schon Geld in einer Welt, in der es sowieso kaum mehr etwas zu kaufen gibt? Das Währungssystem verändert sich, neben Geld gewinnen der Tauschhandel und alternative Währungssysteme an Bedeutung.

Wie verbringen wir unsere Zeit, wenn wir einen Großteil des Tages nicht mehr mit Konsum und/oder dem Arbeiten verbringen? Es ist davon auszugehen, dass viele Berufe, die direkt oder indirekt mit Konsum zusammenhängen (z.B. Marketing, Werbung, Einzelhandel), wegfallen. Stattdessen gewinnen Berufe in den Bereichen Reparatur, Wiederverwertung sowie Landwirtschaft und Handwerk für den lokalen, unmittelbaren Bedarf an Bedeutung; es wird das hergestellt, was wirklich gebraucht wird – für diejenigen, die es sich leisten können bzw. die beste Gegenleistung bieten. 

Unser Lebensstil verändert sich grundlegend, indem sich der Fokus von materiellem Besitz hin zu immateriellen Werten wie sozialen Beziehungen, persönlicher Entwicklung, Gesundheit und Bildung verschiebt.  Wer ein soziales Netzwerk hat, ist besser dran. Lokale und autarke Gemeinschaften erstarken, denn man ist aufeinander angewiesen, muss sich gegenseitig unterstützen und Ressourcen miteinander teilen.

„Konsum gehört zum Menschsein dazu, denn Konsum ist nichts künstlich Geschaffenes.“

Der Drang nach Konsum, nach immer mehr und nach materiellem Erfolg gehört der Vergangenheit an. Das hat auch etwas Befreiendes, es ist eine Art kollektives Detox, ein Abbau von Stress und Erschöpfung. Und: Weniger Konsum bedeutet weniger Ressourcenverbrauch, weniger Müll und weniger Umweltverschmutzung. Das kommt unserem Planeten zugute.

Aber seien wir ehrlich: Für die Menschen ist es eine dunkle Zeit voller Konflikte und Kriege, voller Hungersnöte und Krankheiten, voller Leid, Hass und Gegeneinander. Das globale Wirtschaftssystem, basierend auf Produktion und Konsum, stützt das menschliche Zusammenleben – mit seinem Zusammenbruch wird auch die Menschheit ins Chaos stürzen. Eine Welt ohne Konsum ist somit nicht nur kaum vorstellbar, sondern auch nicht wünschenswert.

Wie und warum konsumieren wir heute?

  • Konsum hält Gesellschaften zusammen und verbindet die Welt. Aktuell steckt die Welt im Krisenmodus – dies ist eine Chance, den Konsum zu verändern und ihn zu nutzen, um gesellschaftliche Transformationen anzuschieben.
  • Konsum ist kein menschliches Bedürfnis, sondern eine Kulturtechnik. Eine Strategie, die der Mensch entwickelt hat, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Kulturtechniken sind eng an Bedürfnisse geknüpft: Es geht um die Beseitigung eines Mangels und/oder die Verbesserung der Lebenssituation. Um diese Kulturtechnik anzuwenden, hat der Mensch ein dafür passendes System entwickelt: den Kapitalismus.
  • Dieses System bringt neben Bedürfnissen auch Begehrnisse hervor. Längst ist es ein sich selbst erhaltendes System, das nicht mehr dem Menschen und seinem Streben nach einem guten Leben dient.
  • Ein holistisches Verständnis von Konsum stellt den Menschen wieder in den Mittelpunkt des Konsums. Dies gelingt, indem Unternehmen nicht mehr künstliche Begehrnisse schaffen, sondern ihr Angebot an den menschlichen Bedürfnissen ausrichten.

Vier Thesen für den Konsum der Zukunft

Konsum gehört zum Menschsein dazu, denn Konsum ist nichts künstlich Geschaffenes. Der Mensch konsumiert schon allein dadurch, dass er Nahrung zu sich nimmt. Wie können wir also Konsum künftig so gestalten, dass er ein besseres Leben ermöglicht, das dem Menschen, der Gesellschaft und dem Planeten zugutekommt?

1. Konsum der Zukunft ist eine (politische) Haltung!

Mit Konsum werden strategisch Werte und Haltung ausgedrückt – immer und überall, bewusst oder unbewusst. Konsum dient nicht mehr nur zur Bedürfnisbefriedigung und als Statussymbol, sondern ist Ausdruck von Werten und Identität. Kaufentscheidungen sind zunehmend politisch aufgeladen – Verbraucher:innen nutzen ihre Kaufentscheidungen, unter anderem über Boykotte und Buykotte, um Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft zu nehmen. Unternehmen zeigen Haltung, übernehmen Verantwortung und kommunizieren ihre Werte. Konsumierende erwarten, dass Unternehmen einen Beitrag zu gesellschaftlichen und ökologischen Zielen leisten.

2. Konsum der Zukunft ist nicht mehr das Problem, sondern die Lösung!

Konsum erlebt einen Imagewandel: Er befreit sich vom Stigma der Schuld, ist positiv und lösungsorientiert. Konsum der Zukunft macht Spaß. Konsum der Zukunft schafft einen Mehrwert für Individuum, Gesellschaft und Umwelt. Unternehmen fördern verantwortungsbewussten Konsum und machen ihn erlebbar. Kreislaufwirtschaft, Sharing-Modelle, Secondhand und Reparaturservices bieten Chancen und eröffnen neue Geschäftsfelder.

3. Konsum der Zukunft schafft eine Wir-Kultur!

Konsum verbindet und bringt Menschen zusammen. Die Konsumgesellschaft wird zur Konsum-Community, die über geteilte Erfahrungen und Erlebnisse Gemeinschaft ermöglicht. Konsum ist kein rein privater Akt, sondern eingebettet in soziokulturelle und institutionelle Strukturen. Konsum fungiert als sozialer Kitt, der Menschen verbindet. Das Konsumerlebnis ist ein ganzheitlicher Prozess, der über den reinen Kaufakt hinausgeht. Die Customer Journey wird zum Customer Experience Cycle.

4. Konsum der Zukunft erfüllt Bedürfnisse und aktiviert!

Konsum stillt Bedürfnisse und steigert nicht Begehrnisse. Somit entfaltet Konsum seine aktivierende Kraft und bringt Menschen ins Handeln. Konsum wird zum Werkzeug für ein erfülltes und sinnvolles Leben. Unternehmen gestalten Konsum so, dass er echte menschliche Bedürfnisse erfüllt und positive Veränderungen bewirkt. Bedürfnisorientierte Lösungen bilden die Basis für eine stabile und resiliente Gesellschaft. Hierfür bietet das Future:Needs-Modell eine Orientierungsgrundlage.

Janine Seitz ist Zukunftsforscherin, Kulturwissenschaftlerin und Expertin für Konsumkultur. Aus den Dynamiken von Trends und Gegentrends entwickelt sie ein ganzheitliches Verständnis von Konsum, das die menschlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt.

Konsum zwischen Lust und Frust

Ein Auszug aus dem Future:Guide Konsum.

von Janine Seitz

2. Juni 2025

„Hoppla“ heißt es da von Experten, als wäre man mal kurz gestolpert. Die Wirtschaft in Deutschland ist im ersten Quartal gewachsen – unerwarteterweise. Zuletzt war die Wirtschaft geschrumpft, Prognosen für 2025 gehen von einem Null-Wachstum aus, nun sei man etwas weniger pessimistisch. Die Konsumlaune sei gestiegen, viele Menschen hätten mehr Geld in der Tasche, das sie nun auch bereitwilliger ausgeben.

Konsumlaune, Identitätsstifter, Wirtschaftsmotor

Ketzerische Frage: Warum ist kein Wachstum eigentlich schlecht? Es bedeutet ja eigentlich nur, dass es nicht „mehr” wird, aber eben auch nicht „weniger“. Ist es nicht schön so, wie es ist, muss es immer „mehr“ sein? Und was hat Konsum mit „Launen“ und „Stimmungen“ zu tun? Konsum ist längst hochgradig emotional aufgeladen, Menschen definieren ihre Identität über Konsum, kaufen sich positive Gefühle ein, werden selbst zur Ware. Privater Konsum hält die Wirtschaft am Laufen, ohne Konsum kein Wirtschaftswachstum.

Das Leben ist Konsum. Ist Konsum Leben?

Konsum durchdringt alle Sphären des Alltags, der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman beschreibt unser „Leben als Konsum“. Doch Konsumieren – und damit in Folge auch unser Leben – hat längst einen bitteren Beigeschmack: Konsum ist anstrengend geworden. Wir konsumieren nicht mehr, weil wir es uns leisten können. Konsum hat seinen Reiz verloren, ist längst Routine, nichts außergewöhnliches mehr. Shopping gilt als eine der unbeliebtesten Freizeitbeschäftigungen, jede:r Dritte Deutsche würde am liebsten gar keine Zeit mehr mit Einkaufen verbringen.

Gestern war die Zukunft besser – zumindest aus der Sicht von heute

Einerseits scheinen die Konsumierenden die Lust am Einkaufen mehr und mehr zu verlieren, andererseits sehen sich Unternehmen neuen Herausforderungen wie Zollchaos und Handelskonflikten gegenüber. Auch wenn immer mehr klar wird, dass Trump vor allem Verunsicherung stiften und Ängste schüren will, sorgt diese Kombination für eine Konsumkrise: Verbraucher:innen sehnen sich nach freudvollen, sinnstiftenden Erlebnissen, Unternehmen gehen auf Nummer Sicher und wagen kaum Innovationen und Experimente. Hinzu kommt noch, dass Angst keine gute Grundlage für Entscheidungen ist. Denn Angst blockiert den Blick auf das Mögliche und Machbare. Resultat ist häufig eine Rückkehr zu Strategien, die einmal in der Vergangenheit funktioniert haben. Zurück zu Gas, zurück zu Atom, zurück zu Fleisch und tierischen Produkten, zurück zur 40-Stunden-Woche im Büro, zurück ins Patriarchat. Zurück zu den Konsummustern des 20. Jahrhunderts.

Das Beste aller Zeiten für die Zukunft nutzen

Doch aus dem Blick zurück lassen sich durchaus auch positive Zukunftsbilder ableiten:

  • Konsum verbindet. Schon immer kamen Menschen für gemeinsame Interessen zusammen: Man trifft sich, um gemeinsam zu essen, zu feiern und sich auszutauschen. Auf Märkten wurde gefeilscht, mit Tante Emma geplauscht – es ging immer um Kommunikation und Kauf. Der Wandel von Konsumtempeln zu Konsummaschinen nahm erst Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Lauf – und endete im Niedergang der Kaufhäuser. Auch die Einkaufsmeilen in den Innenstädten sind ein Phänomen der Neuzeit – und durchlaufen aktuell eine Metamorphose, den dort Menschen (wieder) mehr Vielfalt und Aufenthaltsqualität zu bieten. Denn ein hyperindividuelles, höchst personalisiertes Produktangebot und eine seamless Kauferfahrung machen noch kein Konsumerlebnis aus. Kaum verwunderlich, dass im Onlineshopping immer mehr Gaming- und Social-Elemente integriert werden. Konsum ist Kommunikation.  
  • Repairing is caring: In der Wegwerfgesellschaft ist automatisch das Neue das Bessere. Handwerk und Reparatur spielten in den letzten Jahrzehnten kaum mehr eine Rolle. Wieso etwas mühsam reparieren, wenn man es einfach neu kaufen kann? Die Globalisierung und der Freihandel sorgten für billige Neuwaren en masse. Durch die drohenden Handelskriege muss wieder neu über den Wert eines Produkts (inklusive Herstellung, Vertrieb und Entsorgung) nachgedacht werden und Zölle sorgen für eine künstliche Verteuerung von importierten Waren, das Risiko für eine Inflation steigt. Reshoring durch Zölle sorgt zwar für eine Rückverlagerung der Industrien in das eigene Land, zugleich aber auch für Preissteigerungen, sprich das Leben wird in Summe teurer. So könnten Reparaturen und das Wiederaufbereiten von Produkten künftig nicht nur nachhaltiger, sondern auch preislich attraktiv sein. Reparieren erlebt eine Renaissance. 
  • Vintage boomt: Während man früher die Klamotten der älteren Geschwister „auftragen” musste und Antiquitäten von Geschmack und wahrem Luxus zeugten, erleben gebrauchte Waren jeglicher Couleur aktuell ein Revival. Secondhand-Läden, Flohmärkte oder Resale-Plattformen sind längst im Mainstream angekommen. Das “Alte”, das „Gebrauchte” bekommt wieder einen Wert, es wird mit einer Aura des Einzigartigen, des Uniquen aufgeladen – zugleich lässt es sich mit einem guten Gewissen nach Lust und Laune shoppen. In einer Welt, in der man alles haben kann, wird das Einzelstück zum begehrten Objekt; aber es ist auch durchaus okay, wenn es nicht in der passenden Größe oder Ausführung verfügbar ist bzw. das macht auch genau wieder den Reiz aus: Nicht alles haben zu können – und zu müssen. Gebraucht ist wertvoll.

Die Zukunftsangst umarmen – und loslassen

Innovationen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Neu Zusammensetzen und Rekombinieren; Transformationen sind keine geradlinigen Entwicklungen, sie durchlaufen Schleifen, erleben Backlashes, aber werden letztendlich immer im Zusammenspiel zwischen Trends und Gegentrends vorangetrieben. Gegentrends zeigen somit, wo Überforderung, Übersättigung oder Widerstand zu neuen Haltungen, Bedürfnissen und Systemfragen führen. Und nur aus diesen Widersprüchen kann echter Wandel entstehen – und Konsum neu gedacht werden. Dabei ist eine Rückbesinnung auf so manch Altes durchaus sinn- und wertvoll. Früher war definitiv nicht alles besser, aber durchaus manches und von vielem haben wir uns glücklicherweise verabschiedet. Von was wir uns allerdings auf jeden Fall verabschieden sollten, ist die Angst. Wir dürfen sie noch ein letztes Mal fest umarmen – und dann loslassen.

Janine Seitz ist Zukunftsforscherin, Kulturwissenschaftlerin und Expertin für Konsumkultur. Aus den Dynamiken von Trends und Gegentrends entwickelt sie ein ganzheitliches Verständnis von Konsum, das die menschlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt.

Zukunft des deutschen Modemarkts

Wie der deutsche Modemarkt in 2030 aussehen kann, wenn er möchte. Ein Zukunftsblick von Handelsexpertin Theresa Schleicher.

22. Mai 2025

Im Jahr 2025 ist der deutsche Modemarkt weiterhin in einer schwierigen Situation. Selbst große Modeketten und internationale Konzerne wie Zara oder H&M spüren den Druck. Die Prognosen für 2025 lauten vorsichtiger als sonst. Während sich die großen Modeketten durch Preis- und Prozessoptimierung stabilisieren, kämpfen insbesondere kleine Boutiquen und deutsche Modehändler mit sinkenden Umsätzen. Der Mittelstand leidet unter einer Kaufzurückhaltung, die durch eine allgemeine Verunsicherung in der Bevölkerung verstärkt wird. Ca. 48 Prozent wollen in diesem Jahr bewusster einkaufen und auch bei Mode sparen – nicht nur indem sie günstiger kaufen, sondern indem sie insgesamt weniger konsumieren (Quelle: Zukunftsstudie Handel 2025). Auch Discount-Textiler und große Ketten sowie Secondhand-Anbieter spüren, dass spontane Impulskäufe seltener werden. Wenn dann auch noch die Preise gering, die Rabatte hoch und die Margen kleiner sind, wird es schwierig.

Doch wenn der reine Fokus auf immer neue Kollektionen nach gelernten Mustern und die Rabattaktionen mittelfristig nicht mehr funktionieren wollen, wird es Zeit darüber nachzudenken, was als neue Leistung – das 2. in dem Preis-Leistungs-Gedanken – überrascht und begeistert. Denn die Menschen werden müde vom Billigwahn und Massenmärkten, sehnen sich bewussten Konsum – aber auch nach Sicherheit, Alltag und einem guten Preis. Das ist der Nährboden einer neuen Mitte im Modemarkt.

Vier Bewegungen für den Modemarkt der Zukunft

1. Neues Aufleben von modernen, qualitätsorientierten und lokalen Kleidungsstücken

Viele Kund:innen kaufen bewusster. Dabei spielt nicht Nachhaltigkeit – so sehr diese Realität schmerzt – die größte Rolle, sondern der Wunsch nach besserer Qualität statt reiner Quantität. Die schnellen Wegwerfprodukte haben schlicht ihren Reiz verloren, zumindest für bereits 42 Prozent der über 29-Jährigen (Quelle: Zukunftsstudie Handel 2025). Ebenfalls ein Zeichen neuer Sinnkultur: Ein Drittel der befragten jungen Konsument:innen findet eine Rückkehr zur lokalen Produktion spannend. Das Label „Made in Germany“ kann damit eine emotionale Bindung erzeugen. Dennoch reagieren Mode-Unternehmen der gesellschaftlichen Mitte nur verhalten auf diesen Trend – C&A etwa stellte seine in Deutschland produzierte Jeans-Kollektion bereits wieder ein, nach „wenig Bemühungen“, diese in den Fokus zu stellen.

„Made in Germany und Made in Europe erhält bei den aktuellen globalen Krisen einen höchst emotionalen Stellenwert – etwas, das für deutsche Mode-Unternehmen zur neuen Stärke werden kann.“

– Theresa Schleicher

2. Gesellschaftliche Sehnsucht nach mehr Eleganz

Zurück zur Freude? Ausschweifende Designer-Kollektionen mit Mainstream-Marken, glamouröse Kampagnen. Mode kann wieder eine Traumbranche sein. Nur eben bewusster. Neben Nachhaltigkeit und Individualisierung zeigt sich ein weiterer ästhetischer Wandel: Der Wunsch nach Eleganz wächst. In einer Zeit, in der vieles beliebig und wertlos erscheint, rückt ein gepflegter, stilvoller Look stärker in den Fokus. Selbst in avantgardistischen Städten wie Berlin lässt sich ein subtiler Trend hin zu hochwertigerer Kleidung und bewusstem Styling beobachten. Eleganz vermittelt nicht nur Ästhetik, sondern auch eine Form von Sicherheit – ein Gefühl, das in gesellschaftlich unsicheren Zeiten wichtiger denn je wird.

3. Wunsch nach Trendmärkten statt Secondhand-Boutiquen

Secondhand-Mode gilt weiterhin als Hoffnungsträger für einen bewussteren Konsum, doch das Wachstum in diesem Segment bleibt hinter den Erwartungen zurück. Der Grund: Viele junge Konsument:innen bemängeln, dass moderne Designs, Leichtigkeit und eine gewisse modische Freude in Secondhand-Angeboten oft fehlen. Bisher zeigen Mode-Unternehmen z.B. mit der Secondhand-Ecke in einem großen Geschäft, was viele wahrnehmen: die Secondhand-Angebote werden als nischig und unmodern empfunden, als die rationale Option in einer Masse von Fast-Fashion-Angeboten. Viele Kund:innen wünschen sich nachhaltige, aber modern interpretierte Kollektionen (48 %, Quelle: Zukunftsstudie Handel 2025). Für die Menschen spielt das Prädikat nachhaltig oft nicht die Hauptrolle, sondern es geht um Qualität von langlebigen Kleidungsstücken, die wiederum mit Recycling und Secondhand assoziiert ist.

4. Innovationsschübe durch europäische tech-soziale Maßnahmen

Immer mehr Modemarken setzen beim Design ihrer Produkte Künstliche Intelligenz ein. Laut einer Studie von McKinsey integrieren bereits 28 Prozent der befragten Branchenakteure KI in kreative Designprozesse (vgl. McKinsey 2023). Ein Beispiel ist das Pariser Tech-Unternehmen Heuritech, das bereits mit Prada, Dior, Adidas, New Balance oder Louis Vuitton arbeitet. Heuritech analysiert mit KI Bilder aus Social Media und anderen Kanälen und leitet daraus Frühsignale für mögliche Fashion-Trends ab. Auch das Berliner Unternehmen yoona.ai verspricht, den Designprozess um bis zu 80 Prozent zu beschleunigen und innerhalb weniger Sekunden über 20.000 digitale Designoptionen zu erstellen. Eine größere Entwicklung deutet sich ebenfalls in der maßgeschneiderten, aber dennoch günstigen Mode an. In Asien haben sich digitale Plattformen etabliert, die binnen 24 Stunden individuelle Kleidung fertigen – ein Konzept, das mithilfe von Robotic auch in Europa Fuß fassen könnte.

Theresa Schleicher gilt als führende Handels-Zukunftsforscherin Deutschlands. Sie ist Zukunfts-Sparringspartnerin für Handels- und Wirtschaftsunternehmen, wie dem Bundeswirtschaftsministerium und The Future:Project. Die renommierte Zukunftsforscherin und Data Scientist ist Autorin mehrerer bekannter Trendstudien im Handel und gibt ihre Ausblicke in Vorträgen.

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KI als kreative Power für den Handel der Zukunft

Es wird viel über neue Anwendungen von Künstlicher Intelligenz (KI) gesprochen, doch häufig stehen Handelsunternehmen in Deutschland und Österreich noch relativ am Anfang des Einsatzes. Wagen wir einen Ausblick zum Einsatz von KI im Handel, der besonders ein zentrales Thema lösen soll: die Konsumflaute.

von Theresa Schleicher

8. April 2025

„Die kommenden KI-Strategien für den Einzelhandel sind einfacher umzusetzen, als gedacht.“

– Handels-Zukunftsforscherin Theresa Schleicher

Es verändert sich 2025 etwas in der digitalen Diskussion. Laut dem Gartner Hype Cycle hat Künstliche Intelligenz (KI) die Hauptstufe der KI-Angst und Desillusionen erreicht. Die Euphorie weicht unternehmerischer Sichtweise. Das ist sinnvoll, denn es zeigt sich, dass die Gesellschaft längst weiter ist als viele Unternehmen.

Eine neue Generation wächst heran, für 42 Prozent der AI-Natives (12-19 Jahre) ist das irrelevant, ob sie mit einem Bot oder einem Kundenberater online sprechen, solange der Service stimmt. Auch ein Drittel der 12- bis 28-Jährigen in Österreich verwendet ChatGPT bereits regelmäßig. Sie erwarten von Unternehmen nicht nur Lösungen, die funktionieren, sondern inspirieren und begeistern. Das wird genau jetzt, in Zeiten bewussten Konsums, vollen Lagern und Billigaktionswahn, für den Handel in Österreich so wichtig.

Was viele abhält, ist oft ein festgesetzter Irrglaube: Händler im Mittelstand schrecken vor KI-Lösungen zurück, weil ihnen eingebläut wird, dass sie teuer, aufwändig oder kompliziert seien. Konzerne tun sich hingegen oft schwer, KI mit Kreativität und Leichtigkeit zu verbinden. Doch damit verpasst der Handel viele einfache Chancen, neue Kunden zu erreichen und zu begeistern.

Strategien für KI im europäischen Einzelhandel

1. Von vollen Lagern zu neuen Produkthighlights

KI-Tools analysieren das Kundenverhalten, Nachfragetrends, Präferenzen und Kaufhistorien, um maßgeschneiderte Produktempfehlungen zu erstellen. Dabei geht es nicht nur darum, Kund:innen an häufig gekaufte Produkte zu erinnern oder ergänzende Empfehlungen zu geben, um den Warenkorb kreativer zu gestalten. Vielmehr liegt der Fokus zunehmend auf der Entwicklung neuer Produkte und Eigenmarken, basierend auf den stetig wachsenden Datenmengen aus bestehenden Käufen, Suchanfragen, Bewertungen, lokalen und saisonalen Präferenzen, oder Social-Media-Trends. 

Ein Beispiel dafür liefert der asiatische Supermarkt Hema von Alibaba, der neben vorhandenen Daten gezielt Kundenfeedback aus Wettbewerben und Umfragen nutzt, um neue Produkte zu entwickeln. 

Wer im Mittelstand mit den eigenen vollen Lagern und bestehenden Produkten beschäftigt ist, kann mit KI und intelligenten Warenwirtschaftssystemen schnell erkennen, zu welchem Preis, an welchem Ort und welcher Filiale seine Produkte besser funktionieren. Aber auch mit einem Klick Lagerbestände an digitale Plattformen wie Ebay, Kaufland, Amazon etc. verkaufen.

2. KI-Kunden-Tools als Konsumtreiber und echte Services

KI-gestützte Assistenten und intuitive Chatbots, die Sinne wie Tasten, Hören und Sehen simulieren, ermöglichen Interaktionen mit Onlineshops oder Kunden-Apps, die sich zunehmend wie ein Gespräch mit einem menschlichen Verkäufer anfühlen. 

Ein Beispiel ist das deutsche Start-up FrontNow, dessen Bot Fragen wie „Was brauche ich für Gericht XY?“, „Was soll ich essen, wenn ich eine bestimmte Ernährungsweise verfolge?“ oder „Was brauche ich, um meinen Gartenzaun zu reparieren?“ beantworten kann. Konsument:innen gewöhnen sich zunehmend an sinnlich intuitive Tools, die sehen, fühlen und sprechen. Von sprachbasierten und intuitiven Rezeptdatenbanken bis zu Avatar-Küchenhelfern, die Kund:innen neue Impulse im Lebensmittelbereich geben, liegt hier noch viel Potenzial. In anderen Branchen haben KI-Tools eine besonders umsatzsteigernde Wirkung. 

Start-ups wie Arch AI deuten nur an, dass es heute möglich ist, die eigene Wohnung abzufotografieren und in Sekunden wird sie virtuell neu renoviert und umgestaltet. Für Interieur und die Garten- und Baumarktbranche bieten KI-basierte Technologien ganz neue Chancen, Menschen zu inspirieren, die sonst vor weißen Wänden oder grünen Rasen stehen und dann aus Vorsicht oder fehlender Kreativität die wenigen „Standards“ im Markt kaufen. Eine Baumarktkette fragte letztens nach einem passenden Start-up – wir haben es kurzerhand gemeinsam in ein paar Wochen selbst gebaut. Es ist heute so einfach.

3. Von Fachkräftemangel zu digital souveränen Führungskräften

Lange Zeit dominierte die Sorge um den demografischen Wandel das Narrativ der Arbeitswelt: Der Mangel an jungen Fachkräften werde Unternehmen vor immense Herausforderungen stellen. Doch während viele noch über das Problem diskutieren, zeichnet sich in den kreativen Branchen der DACH-Region bereits ein bemerkenswerter Shift ab. Gerade die oberen Altersklassen, die sich aktiv mit generativer KI auseinandersetzen, erleben derzeit eine vielversprechende Zukunft. Sie kombinieren ihre Jahrzehnte an Erfahrung, Fachwissen und Arbeitskompetenz mit KI-gestützten Tools – und sind damit in der Lage, schneller, effizienter und präziser zu produzieren, zu analysieren und innovative Lösungen zu entwickeln. 

In vielen Bereichen entsteht dadurch ein Ausgleich: Während junge Fachkräfte zunehmend von KI-Tools unterstützt oder in manchen Fällen sogar ersetzt werden, entwickeln sich erfahrene Mitarbeiter:innen zu digital souveränen Führungskräften, die nicht nur Technologie verstehen, sondern vor allem wissen, welche Informationen, Impulse und kreativen Ideen sie in KI-Systeme einspeisen müssen, um Kaufimpulse, Innovationen und neue Beziehungen zu gestalten.

Weitere KI-Trends, Beispiele und Strategien der Zukunftsforscherin Theresa Schleicher gibt es auf der Bühne und in der von ihr herausgegebenen Zukunftsstudie Handel.

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Dieser Gastbeitrag erschien zuerst hier.

Infrastrukturen der Transformation

Infrastrukturen bilden das unsichtbare Gewebe, das die Gesellschaft zusammenhält. Sie sind das stille Fundament, auf dem unsere Lebensweisen, unsere Ökonomien und auch unsere Zukunftsvorstellungen ruhen. In einer Zeit, die von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt ist, treten sie aus ihren Schatten – und offenbaren sich als zentrale politische Frage der nächsten Gesellschaft.

Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Jonas Höhn

7. November 2024

Symbolbild Infrastruktur

Blickt man auf die maroden Brücken, Straßen und Schienen, die sich durch unsere Landschaften ziehen, auf veraltete Schulgebäude, überlastete Krankenhäuser, lästige Funklöcher und stockende Internetverbindungen, dann offenbart sich eine unangenehme Wahrheit: Die Infrastruktur, die einst die Grundlage für unseren Wohlstand und den Fortschritt bildete, ist brüchig geworden.

Die Defizite unserer Infrastrukturen spiegeln eine Gesellschaft wider, die sich noch immer schwertut, den tiefgreifenden Wandel, den unsere Zeit erfordert, aktiv anzugehen. Klimawandel, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Ungleichheit im Zugang zur Gesundheitsvorsorge, Herausforderungen im Bildungswesen oder in der Mobilität: All dies sind Symptome einer systemischen Krise. Und: einer Weigerungshaltung, Infrastrukturen neu zu denken und zu gestalten – als Schlüsselfaktor einer lebenswerten Zukunft.

Kollektive Praktiken, zum Beispiel im Konsum- oder Mobilitätsverhalten, lassen sich über Infrastrukturen erheblich wirksamer verändern, als individuelle Anstrengungen es je erlauben würden. Infrastrukturen sind daher ein mächtiges Werkzeug für gesellschaftliche Transformation: Als „vorausschauende Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“ (Maja Göpel) haben sie das Potenzial, den Wandel der Gesellschaft auf einen konstruktiven Pfad zu leiten. 

Das Erbe der Infrastrukturen

Infrastrukturen sind weit mehr als nur physische Konstruktionen aus Beton oder Stahl. Sie sind Manifestationen der gesellschaftlichen Paradigmen und Lebensweisen ihrer Zeit: Ausdruck der Art und Weise, wie wir wirtschaften, uns fortbewegen oder auch mit der Natur interagieren. Doch was vor 50 Jahren noch als Fortschritt galt, kann heute zum Hindernis werden. Die Infrastrukturen, auf die wir uns gegenwärtig verlassen, stammen oft aus Zeiten, die von anderen wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Realitäten geprägt waren. Diese gebauten Umwelten tragen die strukturellen Fundamente vergangener Gesellschaften in unsere Gegenwart hinein.

So wirken die Kupferkabel, die einst die Internetrevolution ermöglichten, plötzlich wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit – und sorgen nicht selten für Frust. Öl- und Gaspipelines erinnern uns schmerzhaft daran, wie abhängig wir uns von autokratischen Regimen gemacht haben. Und abgeschaltete Kohlekraftwerke zeugen von den hohen Kosten der Aufrechterhaltung eigentlich überholter Systeme. Was einst als unverzichtbar galt, wird nun immer häufiger störanfällig, ineffizient oder gar obsolet. Doch die tiefen Pfadabhängigkeiten, die diese Infrastrukturen erzeugen, machen es schwer, neue Wege zu beschreiten.

Den Weg für die Zukunft ebnen

Symbolbild Infrastruktur Brücken

Angesichts der Defizite in der Zukunftsfähigkeit unserer Infrastruktursysteme deutet sich die Notwendigkeit für ein neues infrastrukturelles Paradigma an. Die Infrastrukturen der Transformation gehen über die bloße Reaktion auf Krisen hinaus und richten sich auf eine transformative, zukunftsgewandte Gestaltung unserer Lebenswelt. Um den Modus des Reagierens zu verlassen, in dem wir der Zukunft immer einen Schritt hinterherhinken, müssen wir Antworten auf eine fundamentale Frage finden: Wie soll die „nächste Gesellschaft“ aussehen – und welche Infrastrukturen brauchen wir, um den Weg dahin zu ebnen?

Ausgehend von konstruktiven Zukunftsimaginationen können wir entscheiden, welche bestehenden Infrastrukturen so elementar sind, dass sie erhalten und gepflegt werden müssen – und welche neuen Infrastrukturen wir für unsere zukünftigen Bedürfnisse schon heute errichten müssen. Infrastrukturen der Transformation erfordern daher im Kern eine mutige und antizipative Vorgehensweise, die aktiv auf erwünschte Zukünfte zugeht. Sie entfalten ihre Wirkung in allen sechs großen Transformationen unserer Zeit:

Human Digitality

Conscious Economy

Co-Society

Mindshift Revolution

Glocalisation

Eco Transition

Infrastrukturen für die nächste Gesellschaft

Infrastrukturen der Transformation sind keine universelle Schablone, die wir einfach auf jede Stadt oder Region anwenden können, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Sie repräsentieren einen notwendigen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Gesellschaft und Zukunft – als lebendige Entwürfe, die sich flexibel an die spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort anpassen und die bereits bestehenden Strukturen mitdenken. Schließlich findet die Transformation unserer Gesellschaft nicht auf einem weißen Blatt Papier statt, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess.

Reallabore oder ähnliche Projektformen können dabei als lokale Katalysatoren für Transformation dienen und durch die Vermittlung konkreter Zukunftsbilder helfen, die Angst vor Wandel abzubauen. Zugleich dürfen diese lokalen Initiativen nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets im Kontext einer größeren, übergeordneten Transformation. Hierbei kommt vor allem Politik und Staat wieder eine wichtigere Rolle als Initiator und Vermittler zu: Zuständigkeiten müssen klar definiert, neue Finanzierungsmodelle entwickelt und pragmatische Ansätze zur Weiterentwicklung von Infrastrukturen konsequent gefördert werden.

Transformative Infrastrukturen erfordern unseren Mut, endlich in zukunftsfähige Versorgungsnetze für die nächste Gesellschaft zu investieren. Damit spielen sie eine entscheidende Rolle für unser generelles Verhältnis von der Zukunft: Sie stellen sicher, dass wir auf künftige Herausforderungen nicht nur passiv reagieren, sondern eine lebenswerte Zukunft aktiv gestalten können – indem wir heute die richtigen Weichen stellen.

Symbolbild Infrastruktur Windkraft

The Age of Maintenance

Ob Infrastrukturen oder Lieferketten, digitale Kommunikation oder das Schulsystem: Überall stockt, hakt und stottert es. Der Fokus auf „Innovation“ hat uns die Pflege dessen, was schon da ist, vergessen lassen – die Maintenance. Doch das nahende Ende des Innovationismus zeigt den Beginn eines neuen Age of Maintenance an, das unsere Wirtschaft und unsere sozialen Beziehungen verändern wird: Wir lernen wieder, uns zu kümmern.

Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Nina Pfuderer

7. November 2024

Alles, was nicht gepflegt wird, geht irgendwann kaputt oder funktioniert nicht mehr. Verschleiß und Verfall sind in der Natur der Dinge angelegt. Diese Tatsache rückt heute allerdings immer häufiger in den Hintergrund, weil fast immer die „Innovation“ im Fokus steht. Neu ist besser als alt: Dieser Glaubenssatz ist mittlerweile so tief in uns verankert, dass es schwer ist, daran vorbeizusehen. Innovation war immer schon Treiber des Fortschritts, doch inzwischen prägt sie unsere Gegenwart auch durch ihre Kehrseite. 

Wir sehen heute in praktisch jedem Bereich der Gesellschaft, wie mangelnde Investitionen in die Instandhaltung von grundlegenden gesellschaftlichen Systemen zu katastrophalen Problemen führen, von bröckelnden Brücken und schmutzigen Krankenhäusern bis zu heruntergekommenen Schulen und überforderten Behörden. Trotzdem lautet die Standardantwort von Politiker:innen, Expert:innen und Führungskräften auf die Krisen unserer Zeit noch immer: mehr Innovation! Dieser Instinkt, alle Hoffnungen auf das Neue zu setzen, ist genau das Problem, das sich als „Innovationswahn“ bezeichnen lässt. 

Mittlerweile hat der Fokus auf Innovation absurde Ausmaße angenommen. So ist es oft günstiger, ein technisches Gerät neu zu kaufen anstatt das alte zu reparieren. Der Neubau von Straßen wird staatlich subventioniert, für die Ausbesserung von Schlaglöchern müssen Kommunen dagegen selbst aufkommen. Eigentlich nur logisch, dass Politiker:innen lieber auf Neues setzen: Man macht sich nicht beliebt, wenn man Straßen oder Brücken sperrt, um sie zu restaurieren. Besser kommt es an, die rote Schleife bei der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums durchzuschneiden. Maintenance lohnt sich da oft nicht, zumindest kurzfristig gesehen. Diese Vernachlässigung von Instandhaltung und Pflege zugunsten von Innovation ist auch ein geistiges Problem: Es zeugt von der „wachsenden Geringschätzung für das, was eine moderne Gesellschaft erst möglich macht“. Inzwischen hat sich die Bevorzugung von Innovation vor Maintenance auch strukturell manifestiert – und konfrontiert die deutsche Wirtschaftspolitik nun mit riesigen Investitionssummen. 

Was passiert, wenn Maintenance vernachlässigt wird, zeigt auch die Broken-Window-Theorie, die einen Zusammenhang zwischen dem Verfall von Stadtgebieten und Kriminalität herstellt: Auf eine zerbrochene Fensterscheibe folgt schnell die nächste. Ähnlich verhält es sich mit dem Verfall von Brückeninfrastrukturen: Sobald eine Brücke ausfällt, werden die Brücken auf anderen Strecken stärker belastet und verfallen ebenfalls schneller. Kaputte Brücken sind wie eine „ansteckende Krankheit“.

Die unsichtbare Instandhaltung

Es ist an der Zeit, den Fokus wieder auf Maintenance zu richten. Aber das ist gar nicht so einfach, denn Maintenance-Tätigkeiten sind oft unsichtbar. Eine Reparatur ist dann gelungen, wenn man es ihr nicht ansieht. Es geht auch darum, „den Anteil der eigenen Arbeit unsichtbar werden zu lassen, keine Spuren zu hinterlassen“. Auch Infrastrukturen sind für die Öffentlichkeit meist so lange unsichtbar, bis sie nicht mehr tun, was sie eigentlich tun sollen – bis sie nicht mehr funktionieren.

Auch wenn es nicht so scheint: Kulturhistorisch haben wir die meiste Zeit damit verbracht, Strukturen, auf die wir uns seit Jahrtausenden verlassen, instand zu halten. So blieben unsere Straßen sicher, unsere Gebäude stabil und sauber, unsere Unternehmen produktiv, unsere Leben beschützt. Dass genau diejenigen Berufsgruppen, die das System gesund und am Laufen halten, häufig gesellschaftlich am wenigsten geschätzt und dazu oft auch am schlechtesten bezahlt werden, wissen wir spätestens seit der Coronapandemie. 

Und obwohl unsere Gesellschaft digitale Technologien als Innovationen und Disruptionen feiert, besteht auch in diesem Bereich die meiste Arbeit aus Maintenance-Tätigkeiten: Es geht darum, sicherzustellen, dass alles läuft, den Bug im Code zu finden oder Sicherheitslücken zu stopfen.

Die Kosten des Patriachats

Ein großer Teil der unbezahlt verrichteten Arbeit sind Maintenance-Tätigkeiten. Die deutliche Mehrheit der Care-Arbeit in Familien und im Haushalt – sowie des Mental Loads – liegt heute noch bei Frauen. Vielleicht konnte der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fokus auf Innovation nur auf dem Rücken der unbezahlt verrichteten Care-Arbeit so lange erfolgreich sein. 

Ein Gedankenexperiment: Wäre die Welt weniger kaputt, wenn wir uns nicht im Patriarchat befinden würden? Männer verursachen mehr Unfälle, sind öfter im Gefängnis, sie kosten mehr – ganze 63 Milliarden pro Jahr. Studien legen nahe, dass weibliche Führungskräfte in Unternehmen eher langfristige und strategische Investitionen tätigen und weniger risikofreudig sind als männliche Führungskräfte, die eher auf schnelle Gewinne und Innovation setzen. Damit bliebe theoretisch mehr Geld für die Sanierung und Instandhaltung des Bestehenden. Eine weibliche Perspektive würde unserer auseinanderfallenden Welt wahrscheinlich guttun.

Maintenance als gesellschaftliche Haltung

In der heutigen Wegwerfgesellschaft ist der Gedanke, sich um etwas zu kümmern, etwas zu hegen und zu pflegen, zu reparieren, immer unwichtiger geworden. Doch wir merken: Es wird nicht ohne gehen. Komplexität braucht Zuwendung. Eine Maintenance Society nimmt deshalb sowohl die Erhaltung von Infrastrukturen als auch die Erhaltung sozialer Beziehungen in den Blick: Wir müssen uns auch als Gesellschaft umeinander kümmern. 

Bei der gesellschaftlichen Dimension der Maintenance geht es gar nicht unbedingt um die Bildung enger Communitys oder die Renaissance traditioneller familiärer oder religiöser Strukturen. Sondern um eine grundlegende Rücksicht anderen gegenüber, eine gesellschaftliche Instandhaltung. Wichtig ist es, sich darauf verlassen zu können, dass die Fürsorge, die wir einander geben, erwidert wird. Dann können sich auch moralische Tugenden entfalten und das Vertrauen wachsen – sowohl untereinander als auch in soziale und politische Institutionen. 

Nach langen Zeiten der Innovation, in denen nur die besten Ideen und die schönsten Dinge gefördert und gefeiert wurden und als die Welt grenzenlos erschien, sind wir nun im Age of Maintenance angekommen. Wir müssen Pflanzen und Tiere vor dem Aussterben retten, wir versuchen, bei den Klimazielen gerade noch die Kurve zu kriegen. Alles ist geprägt von dem Gefühl: Wir müssen uns zusammenreißen, damit wir nicht noch mehr kaputtmachen. Damit wir unsere Welt erhalten können. 

Das ist kein rückwärtsgewandter Gedanke, sondern eigentlich ein zukunftsweisender – und vor allem ein zukunftsverantwortungsvoller. Während es bei Innovationen um die eigene Vormachtstellung im Wettbewerb der Zukunft geht, hat das Prinzip der Erhaltung die Zukunft der nächsten Generationen, der gesamten Gesellschaft, der ganzen Welt, im Blick. Damit entwickeln wir ein anderes Zeit- und Welt-Denken. Die Erhaltung unseres Planeten ist die ultimative Maintenance-Aufgabe.