Ob Infrastrukturen oder Lieferketten, digitale Kommunikation oder das Schulsystem: Überall stockt, hakt und stottert es. Der Fokus auf „Innovation“ hat uns die Pflege dessen, was schon da ist, vergessen lassen – die Maintenance. Doch das nahende Ende des Innovationismus zeigt den Beginn eines neuen Age of Maintenance an, das unsere Wirtschaft und unsere sozialen Beziehungen verändern wird: Wir lernen wieder, uns zu kümmern.
Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Nina Pfuderer
7. November 2024
Alles, was nicht gepflegt wird, geht irgendwann kaputt oder funktioniert nicht mehr. Verschleiß und Verfall sind in der Natur der Dinge angelegt. Diese Tatsache rückt heute allerdings immer häufiger in den Hintergrund, weil fast immer die „Innovation“ im Fokus steht. Neu ist besser als alt: Dieser Glaubenssatz ist mittlerweile so tief in uns verankert, dass es schwer ist, daran vorbeizusehen. Innovation war immer schon Treiber des Fortschritts, doch inzwischen prägt sie unsere Gegenwart auch durch ihre Kehrseite.
Wir sehen heute in praktisch jedem Bereich der Gesellschaft, wie mangelnde Investitionen in die Instandhaltung von grundlegenden gesellschaftlichen Systemen zu katastrophalen Problemen führen, von bröckelnden Brücken und schmutzigen Krankenhäusern bis zu heruntergekommenen Schulen und überforderten Behörden. Trotzdem lautet die Standardantwort von Politiker:innen, Expert:innen und Führungskräften auf die Krisen unserer Zeit noch immer: mehr Innovation! Dieser Instinkt, alle Hoffnungen auf das Neue zu setzen, ist genau das Problem, das sich als „Innovationswahn“ bezeichnen lässt.
Mittlerweile hat der Fokus auf Innovation absurde Ausmaße angenommen. So ist es oft günstiger, ein technisches Gerät neu zu kaufen anstatt das alte zu reparieren. Der Neubau von Straßen wird staatlich subventioniert, für die Ausbesserung von Schlaglöchern müssen Kommunen dagegen selbst aufkommen. Eigentlich nur logisch, dass Politiker:innen lieber auf Neues setzen: Man macht sich nicht beliebt, wenn man Straßen oder Brücken sperrt, um sie zu restaurieren. Besser kommt es an, die rote Schleife bei der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums durchzuschneiden. Maintenance lohnt sich da oft nicht, zumindest kurzfristig gesehen. Diese Vernachlässigung von Instandhaltung und Pflege zugunsten von Innovation ist auch ein geistiges Problem: Es zeugt von der „wachsenden Geringschätzung für das, was eine moderne Gesellschaft erst möglich macht“. Inzwischen hat sich die Bevorzugung von Innovation vor Maintenance auch strukturell manifestiert – und konfrontiert die deutsche Wirtschaftspolitik nun mit riesigen Investitionssummen.
Was passiert, wenn Maintenance vernachlässigt wird, zeigt auch die Broken-Window-Theorie, die einen Zusammenhang zwischen dem Verfall von Stadtgebieten und Kriminalität herstellt: Auf eine zerbrochene Fensterscheibe folgt schnell die nächste. Ähnlich verhält es sich mit dem Verfall von Brückeninfrastrukturen: Sobald eine Brücke ausfällt, werden die Brücken auf anderen Strecken stärker belastet und verfallen ebenfalls schneller. Kaputte Brücken sind wie eine „ansteckende Krankheit“.
Es ist an der Zeit, den Fokus wieder auf Maintenance zu richten. Aber das ist gar nicht so einfach, denn Maintenance-Tätigkeiten sind oft unsichtbar. Eine Reparatur ist dann gelungen, wenn man es ihr nicht ansieht. Es geht auch darum, „den Anteil der eigenen Arbeit unsichtbar werden zu lassen, keine Spuren zu hinterlassen“. Auch Infrastrukturen sind für die Öffentlichkeit meist so lange unsichtbar, bis sie nicht mehr tun, was sie eigentlich tun sollen – bis sie nicht mehr funktionieren.
Auch wenn es nicht so scheint: Kulturhistorisch haben wir die meiste Zeit damit verbracht, Strukturen, auf die wir uns seit Jahrtausenden verlassen, instand zu halten. So blieben unsere Straßen sicher, unsere Gebäude stabil und sauber, unsere Unternehmen produktiv, unsere Leben beschützt. Dass genau diejenigen Berufsgruppen, die das System gesund und am Laufen halten, häufig gesellschaftlich am wenigsten geschätzt und dazu oft auch am schlechtesten bezahlt werden, wissen wir spätestens seit der Coronapandemie.
Und obwohl unsere Gesellschaft digitale Technologien als Innovationen und Disruptionen feiert, besteht auch in diesem Bereich die meiste Arbeit aus Maintenance-Tätigkeiten: Es geht darum, sicherzustellen, dass alles läuft, den Bug im Code zu finden oder Sicherheitslücken zu stopfen.
Ein großer Teil der unbezahlt verrichteten Arbeit sind Maintenance-Tätigkeiten. Die deutliche Mehrheit der Care-Arbeit in Familien und im Haushalt – sowie des Mental Loads – liegt heute noch bei Frauen. Vielleicht konnte der wirtschaftliche und gesellschaftliche Fokus auf Innovation nur auf dem Rücken der unbezahlt verrichteten Care-Arbeit so lange erfolgreich sein.
Ein Gedankenexperiment: Wäre die Welt weniger kaputt, wenn wir uns nicht im Patriarchat befinden würden? Männer verursachen mehr Unfälle, sind öfter im Gefängnis, sie kosten mehr – ganze 63 Milliarden pro Jahr. Studien legen nahe, dass weibliche Führungskräfte in Unternehmen eher langfristige und strategische Investitionen tätigen und weniger risikofreudig sind als männliche Führungskräfte, die eher auf schnelle Gewinne und Innovation setzen. Damit bliebe theoretisch mehr Geld für die Sanierung und Instandhaltung des Bestehenden. Eine weibliche Perspektive würde unserer auseinanderfallenden Welt wahrscheinlich guttun.
In der heutigen Wegwerfgesellschaft ist der Gedanke, sich um etwas zu kümmern, etwas zu hegen und zu pflegen, zu reparieren, immer unwichtiger geworden. Doch wir merken: Es wird nicht ohne gehen. Komplexität braucht Zuwendung. Eine Maintenance Society nimmt deshalb sowohl die Erhaltung von Infrastrukturen als auch die Erhaltung sozialer Beziehungen in den Blick: Wir müssen uns auch als Gesellschaft umeinander kümmern.
Bei der gesellschaftlichen Dimension der Maintenance geht es gar nicht unbedingt um die Bildung enger Communitys oder die Renaissance traditioneller familiärer oder religiöser Strukturen. Sondern um eine grundlegende Rücksicht anderen gegenüber, eine gesellschaftliche Instandhaltung. Wichtig ist es, sich darauf verlassen zu können, dass die Fürsorge, die wir einander geben, erwidert wird. Dann können sich auch moralische Tugenden entfalten und das Vertrauen wachsen – sowohl untereinander als auch in soziale und politische Institutionen.
Nach langen Zeiten der Innovation, in denen nur die besten Ideen und die schönsten Dinge gefördert und gefeiert wurden und als die Welt grenzenlos erschien, sind wir nun im Age of Maintenance angekommen. Wir müssen Pflanzen und Tiere vor dem Aussterben retten, wir versuchen, bei den Klimazielen gerade noch die Kurve zu kriegen. Alles ist geprägt von dem Gefühl: Wir müssen uns zusammenreißen, damit wir nicht noch mehr kaputtmachen. Damit wir unsere Welt erhalten können.
Das ist kein rückwärtsgewandter Gedanke, sondern eigentlich ein zukunftsweisender – und vor allem ein zukunftsverantwortungsvoller. Während es bei Innovationen um die eigene Vormachtstellung im Wettbewerb der Zukunft geht, hat das Prinzip der Erhaltung die Zukunft der nächsten Generationen, der gesamten Gesellschaft, der ganzen Welt, im Blick. Damit entwickeln wir ein anderes Zeit- und Welt-Denken. Die Erhaltung unseres Planeten ist die ultimative Maintenance-Aufgabe.