Wege aus der Omnikrise

Sechs Denkanstöße für ein besseres Morgen

Wir stecken mitten in der Krise, sogar in der Omnikrise: das heißt, die verschiedenen Krisen unserer Zeit überlappen und verbinden sich zu einem komplexen, unübersichtlichen Geflecht. Anders gesagt: Das System krankt im Ganzen. Der Grund dafür ist ein Epochenwandel: Wir befinden uns als Gesellschaft in der unangenehmen Übergangsphase zwischen zwei Zeitaltern.

von Lena Papasabbas

23. April 2024

Wege aus der Omnikrise

Das alte Normal löst sich auf, und das neue Normal ist nur eine leise Vorahnung am Horizont. Zu viel Wandel auf einmal wirkt lähmend. Deshalb fühlen sich so viele Menschen gerade so unheimlich erschöpft. Wir befinden uns in einem kollektiven Veränderungs-Burnout. Rückzug und Nostalgie wirken attraktiv, als Ausweg, sich einfach von der anstrengenden Welt abzuwenden. Doch um den Wandel in unserem Sinne zu steuern und zu gestalten, brauchen wir eigentlich genau das Gegenteil: Menschen, die sich der Zukunft proaktiv zuwenden. 

Um der überbordenden Komplexität der Welt wieder etwas abgewinnen zu können, hilft es, die Krisen als Möglichkeiten zu begreifen: als ein Aufbrechen alter Strukturen, das uns die Chance gibt, neu zu denken und zu handeln. Ebenso wichtig ist der Glaube daran, dass die neue Realität eine bessere sein könnte, als wir es uns aktuell vorstellen können.

Dafür ist es essentiell, die Pfade in eine bessere Zukunft zu sehen, die es heute schon gibt und die sich zu beschreiten lohnen. In unserer Metastudie Die Omnikrise haben wir sechs dieser möglichen Pfade aus der Krise beschrieben. Hier fassen wir sie in sechs Denkanstößen zusammen, die helfen, unsere Köpfe zu öffnen – indem sie aufzeigen, welche konstruktiven Meta-Lösungen uns in eine bessere Gesellschaft führen könnten.

1. Wohlstand neu denken

Ein Riesenproblem unserer Wirtschaft, Arbeitswelt und Kultur ist das Wachstumsparadigma. Um das ständige Streben nach Mehr loszulassen, ist es eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, Wohlstand umzudeuten: Statt materielle Statussymbole anzuhäufen und vom nächsten Bali-Urlaub zu träumen, während man voll im Hamsterrad steckt, muss Wohlstand umdefiniert werden. Zeitwohlstand lautet das Zauberwort: Weniger Arbeit, weniger Konsum und dafür mehr Lebensqualität und Zeit für das, was wirklich zählt.

Progressive Konzepte wie das bedingungslose Grundeinkommen kündigen bereits einen Paradigmenwechsel an. Degrowth und Postgrowth-Unternehmen experimentieren schon mit Business-Modellen, die nicht (nur) Profitmaximierung zum Ziel haben. Manche Staaten lösen sich auch vom Bruttoinlandsprodukt als alleinigem Wohlstandsindikator – Bhutan rückt beispielsweise das Wachstum von Glück in der Bevölkerung in den Fokus. Auch im Alltag lassen sich immer mehr minimalistische Lebensstile und Entschleunigungstendenzen beobachten. Viele mutige Ideen sind bereits vorhanden. Es lohnt sich, sie ernst zu nehmen: Eine neue Definition von Wohlstand könnte mehr Lebensqualität für alle bedeuten.

2. Bürgertum statt Konsumismus

Die Krise der Demokratie kann nur überwunden werden, wenn wir die Erwartungs- und Forderungshaltung gegenüber der Politik loslassen und uns wieder als aktiven Teil des demokratischen Geschehens verstehen. 

Aktuell ähnelt die Haltung vieler Menschen gegenüber den Politiker:innen der von Konsumierenden: An die Politik werden Forderungen gestellt, sie muss liefern und man selbst ist Nutznießer:in – oder eben nicht. Konsumierende haben ein völlig anderes Mindset als Bürgerinnen und Bürger, die sich als Teilhabende der Gesellschaft verstehen, Verantwortung tragen für das Gemeinwesen und ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen wollen.

Um wieder mehr Menschen dazu zu bewegen, sich selbst als Teil einer lebendigen Demokratie zu verstehen, brauchen wir einen Bewusstseinswandel im politischen System: die Erkenntnis, dass soziale Kräfte nur dann freigesetzt werden können, wenn entsprechende Handlungsspielräume bestehen, innerhalb derer sich bürgerliches Engagement überhaupt entfalten kann. Zentral sind Räume der Teilhabe, die mehr Bürgerbeteiligung und Austausch ermöglichen. Volksbegehren oder Bürgerräte können hier ein Hebel sein, aber auch die Wiederentdeckung von Losdemokratie birgt viel Potenzial für eine Wiederbelebung der Bürger:innen-Demokratie.

3. Denken im Plussummenspiel

Die kollektive kognitive Leistung in Richtung einer besseren, einer wohlwollenden und toleranten Gesellschaft besteht darin, das Denken in Nullsummenspielen zu verlernen. Also das Denkmuster „Was ich bekomme, wird jemand anderem genommen” und umgekehrt. „Wenn ein Mensch reicher wird, muss ein anderer ärmer werden.“ „Wenn Geflüchtete gut versorgt werden, geht das auf Kosten der Einheimischen.“ „Wenn die Kollegin eine Gehaltserhöhung erhält, bleibt für mich weniger übrig.”…

Diese Denkmuster haben ihren Ursprung im Wettbewerbsprinzip des Kapitalismus und sind dementsprechend weit verbreitet – doch sie schaden dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn das Nullsummen-Denken erodiert eine europäische Kultur, in der eigentlich humanistische Werte dominieren (sollten) – und bildet den kognitiven Nährboden für Nationalismus, Populismus und rechte Gewalt.

Statt in Nullsummenspielen können wir aber trainieren, wieder in Plussummenspielen zu denken. Plussummenspiele erzeugen Fortschritt, indem dem bereits Vorhandenen ein „Bonus“, ein „reales Plus“ hinzugefügt wird. Wenn Nationen, Firmen oder Menschen miteinander handeln, kann – sofern ein fairer Markt existiert – eine wechselseitige Gewinnsituation entstehen. Wenn Menschen eine Familie bilden, entsteht ein reproduktiver Überschuss. Fortschritt entsteht durch gelungene Kooperationen.

4. Kulturelle Evolution statt Technologismus

Die schlechte Nachricht: Die Künstliche Intelligenz wird uns nicht alle retten. Die gute Nachricht: Wir haben bereits alle Technologien, die wir brauchen, um viele große Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. 

Ein Beispiel: Die Verkehrswende braucht keine weitere technologische Innovation, keine Flugtaxis, keine Smart Cities, keine autonomen Autos. Alles was wir brauchen, um die Städte wieder lebenswerter und nachhaltiger zu gestalten, sind soziale Innovationen. Weg vom Auto als Statussymbol, hin zum Prinzip „Nutzen statt Besitzen“. Weniger Produktion von Vehikeln, mehr Mobility as a Service. Mit Öffis, Fahrrädern, E-Bikes, ein paar Elektroautos und der digitalen Infrastruktur ist bereits alles vorhanden, was nötig ist, um urbane Räume umzugestalten. 

Zentral ist die Aufgabe, neue Kulturtechniken einzuüben, neue Wertesysteme zu etablieren und in der Stadtplanung konsequent an einer menschen- statt autogerechten Stadt zu arbeiten.

Wir haben uns als Gesellschaft einen regelrechten Innovationsfetisch angeeignet, der für jedes Problem eine Lösung in der Technologie sucht. Wir müssen weg von diesem blinden Innovationismus, der auf Technologie als Allheilmittel setzt und hin zu einem Fokus auf kultureller Evolution. Denn ein Großteil der Strukturen,Technologien und Rahmenbedingungen für soziale Innovationen, die uns in eine bessere Zukunft führen können, sind bereits vorhanden.

5. Glokalisierung

Glokalität statt Globalisierung: Dieses scheinbar triviale Prinzip des Re-Integrierens von lokalen Ressourcen, Expertisen, Strukturen in globalisierte Systeme kann uns eine Menge Probleme vom Hals schaffen, die die entartete Globalisierung hervorgebracht hat. Die Krise traditioneller Lieferketten hat uns die Verletzlichkeit  weltweit verzweigter Lieferkettensysteme vor Augen geführt, die wie Lebensadern globalisierter Gesellschaften fungieren. 

Das Prinzip der Glokalisierung beschreibt ein notwendiges Umdenken: Wertschöpfung und Profitmaximierung dürfen nicht mehr die alleinigen Richtwerte von internationalen Produktionsnetzwerken sein, die in erster Linie die Versorgung der Gesellschaft mit notwendigen Gütern sicherstellen sollen. Faktoren wie Resilienz, Qualität und Nachhaltigkeit müssen in Zukunft gleichberechtigte Ziele dieser Prozessen sein – indem sie das Lokale wieder aufwerten.

Das funktioniert, indem regionale Handelsbeziehungen wieder zu wichtigen Bestandteilen von Produktionsnetzwerken werden, die ebenso für Stabilität und Sicherheit sorgen wie vergrößerte Materialreserven. Lokale Rohstoffalternativen können den globalen Handel ergänzen und durch Diversifizierung starke Abhängigkeiten reduzieren. Egal, ob es um Strom, Lebensmittel oder Möbel geht: Das Prinzip der Glokalisierung bindet überall dort, wo es Sinn macht, wieder lokale Produzenten, Ressourcen und Netzwerke ein.

6. Positive Zukunftsbilder statt Weltuntergangsszenarien kultivieren

Die Aussicht auf die ökologische Katastrophe als neue bedrohliche Mega-Erzählung schwebt aktuell über allem menschlichen Tun. In diesem Narrativ ist der Mensch nur noch ein Schädling, der die Umwelt und damit die eigene Lebensgrundlage zerstört. Die Horrorszenarien von aussterbenden Arten, Kriegen um verbleibende Ressourcen, überschwemmten Städten, gigantischen Flüchtlingsströmen und Naturkatastrophen kennt inzwischen jedes Kind – positive Zukunftsbilder einer lebenswerten Zukunft dagegen sucht man vergebens. 

In der Omnikrise ist es schwerer geworden, an die gute Zukunft zu glauben. Medien versorgen uns im Sekundentakt mit neuen Negativschlagzeilen. Dabei birgt gerade die Zukunftserzählung eines besseren Verhältnisses von Mensch und Umwelt das Potenzial eines neuen Super-Narrativs. Erst eine überzeugende Vision einer positiv aufgeladenen ökologischen Zukunft, die sozial gerecht ist und hohe Lebensqualität für alle bedeutet, mobilisiert und motiviert, die vielen kleinen und großen Schritte anzugehen, die uns in diese Zukunft bringen könnten.

Diese Vision darf allerdings kein „Zurück“ in ein vermeintlich harmonisches Gestern bedeuten, in dem wir alle in Lehmhütten leben und unser eigenes Gemüse anbauen. Was wir brauchen ist eine kreative Rekombination von vorhandenen technologischen, sozialen und naturwissenschaftlichen Ressourcen zugunsten eines ganzheitlich-systemischen Wandels.

Die gute Zukunft

Eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Zukunft ist ein global geteiltes Anliegen, das uns als Gesellschaft einen neuen Richtungssinn, ein Zukunftsbild geben kann – und uns dadurch handlungsfähig macht.

Um die gute Zukunft wieder spürbarer und sichtbarer zu machen, ist es nützlich, bereits vorhandene Transformationen zu erkennen, die in eine nächste, bessere Gesellschaft führen können. Im Future:Project haben wir uns der transformativen Zukunftsforschung verschrieben, die genau diese konstruktive Entwicklung fördert – indem sie wünschenswerte Zukünfte systematisch beschreibt und greifbar macht.