Slownovation

Der Gegentrend zum digitalen Hyper-Innovationismus

Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Slownovation

„Wir leben in einem Zeitalter der rasenden disruptiven technischen Innovation!“ – So könnte jedes beliebige Beratungsgespräch, jede Rede auf jeder Business-Konferenz beginnen. Was aber, wenn das nichts als Business-Bullshit wäre?

Nehmen wir einmal an, der jüngste Super-Coup des Digitalen wäre einfach nur ein Hype. Klar, Künstliche Intelligenz kann in der Forschung, in der Prozesssteuerung, in bestimmten datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber stellen Sie sich vor, die generative KI, die derzeit überall als das große Zukunfts-Ding gefeiert wird, wäre nichts als eine Angstblüte der IT-Industrie, die verzweifelt eben jenes nächste „große Ding“ sucht. Nehmen wir an, die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – Fusionsenergie, Quantencomputer und eben die superintelligente KI –, wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme. 

Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.  

Der Hype-Innovation-Speak

Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Bestseller The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation, weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit. Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Dieser „Hype-Innovation-Speak“ kann nur zu Enttäuschungen führen, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen. Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie muss nicht herbeigeredet werden, weil sie, wenn auch leise, meist klar messbar ist. Und: Sie entwickelt sich graduell und nicht mit einem großen Knall. 

Vinsel und Russell betonen, dass die Welt, in der wir leben, nicht durch dauernd neue Dinge funktioniert. Sondern zu einem sehr großen Teil durch Erhaltung, Wartung, Pflege, Integration und langsame Verbesserung.

Realismus statt Innovationismus

Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere. Einer wahren Anbetung des Disruptiven. 

Ein wilder Traum, aus dem wir nun langsam erwachen. Zumindest reiben wir uns häufiger die Augen und fragen uns, ob wirklich jede Innovation unser Leben verbessert. Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, das WLAN funktioniert nicht. Fluggesellschaften sind unerreichbar, und die digitale ID ist unheimlich kompliziert. Der Server im Büro stürzt ständig ab und die smarte Kaffeemaschine hat schon wieder einen Defekt. Und wenn die Stereoanlage den Geist aufgibt, muss man sie wegschmeißen. Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus verlorenen Passwörtern und umständlichen Eingaben verwandelt. Statt schneller wird vieles langsamer.

Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz werden. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in  „Techno-Solutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“.

Jenseits der Disruption

Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit technischem Systemwissen, Care-Arbeiter:innen, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter ständigem Statusverlust. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten, gelten sie als Problem. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.

Menschen, die die alltäglichen Zusammenhänge verstehen, die mit ihren Händen konkrete Arbeit verrichten und dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Dieser Erwartungsüberschuss belohnt unentwegt diejenigen, die mit Illusionen handeln. Und erniedrigt jene, die mit Realitäten umgehen und unsere Welt am Laufen halten.