Neue Freundlichkeit

Der Gegentrend zur Bösartigkeit der Gegenwart

Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Neue Freundlichkeit

Was ist das größte Problem unserer heutigen Gesellschaft? Die Ungleichheit? Die Wirtschaftslage? Die Inflation? Die Erderwärmung? Mitnichten. Es ist die Unfreundlichkeit im Alltag. Die Hassbereitschaft und Bösartigkeit in den Kommunikationen. Die Unfähigkeit, der Unwille, sich miteinander „ins Einvernehmen“ zu setzen.

Die Meckerkultur: Alles schlechtmachen. Immer dagegen sein. Andere abwerten, um sich selbst zu bestätigen. Überall das Schlechte sehen. In Rudeln hassen und verachten. Hauptgefühl Häme.

Der unsichtbare Gegentrend

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy spricht von den „Händlern des Unglücks“, die sich in unseren digitalisierten Kommunikationsformen ständig vermehren (vgl. Lévy 2023). Der deutsche Soziologe Steffen Mau berichtet von „Triggerpunkten“, auf die Menschen stark emotional reagieren und von „Polarisierungsunternehmern“, die sich immer weiter ausbreiten (vgl. Mau et al. 2023). Wenn es stimmt, dass es zu jedem Trend auch einen Gegentrend gibt, dann auch gegen diesen. Was wäre der Gegentrend zur dumpfen Negativität, zu Online-Hass und Offline-Häme?

Die Freundlichkeit. 

Gegen die Rücksichtslosigkeit in der Gesellschaft hat sich eine unsichtbare Gegenbewegung entwickelt. Sie lässt sich nicht messen oder quantifizieren. Aber immer mehr Menschen entschließen sich in einer inneren Wende, freundlich zu sein. Freundlichkeit beginnt im Verzicht auf unnützen Streit und narzisstische Meinungskriege. Sie setzt voraus, dass wir uns von einer „Front“ zurückziehen, die uns ständig in Erregungen, Vorwürfe, Negationen hineinziehen will. Meinungen loslassen. 

Und dass wir uns auf neue Weise mit anderen Menschen verbinden – und mit uns selbst.

Grundkenntnisse in Empathie

Wer freundlich sein will, muss bei sich selbst anfangen. Empathisch mit sich selbst sein. Sich selbst anerkennen und akzeptieren lernen – das ist möglicherweise die schwerste Übung. Denn der eigentliche Ursprung für die grassierende Bösartigkeit ist die Selbstablehnung. 

Der Gegentrend der neuen Freundlichkeit wird angetrieben von der Welle östlicher Philosophien und Geistestechniken, die Gelassenheit und Akzeptanz lehren. Aber er hat auch eine konservative Seite, die den menschlichen Umgang in einer Art Grund-Höflichkeit bewahren will. 

In irischen Schulen werden neuerdings Empathie und Freundlichkeit gelehrt. Der Empathie-Spezialist Pat Dolan, der das Empathie-Programm in über hundert Vorschulklassen in Irland ins Leben rief, sagte in einem Interview mit der Irish Times: „Es ist genauso wichtig, wie Mathematik oder Englisch zu lernen. Ich würde sogar noch weiter gehen: Der Weg, den die Gesellschaft heute geht – nicht nur in Irland, sondern global –, ist davon abhängig, wie wir Empathie lernen und leben“ (vgl. O’Brien 2020).

Austausch mit Ungleichgesinnten

Im deutschsprachigen Raum versuchen immer mehr konstruktive Medien, etwa Krautreporter oder Perspective Daily, polarisierende Diskurse in lösungsorientierte Debatten zu verwandeln. DIE ZEIT organisiert seit vielen Jahren „freundliche Begegnungen“ zwischen Fremden aus verschiedenen politischen Lagern und unterschiedlichen Kulturen: Bei der Initiative „Deutschland spricht“ treffen sich jährlich Tausende Menschen zum freundlichen Streitgespräch. Mithilfe einer Matching-Software werden sie in einen Austausch mit einer Person vermittelt, die völlig gegensätzlich denkt.

Freundlichkeit ist mehr als Höflichkeit. Der englische Begriff kindness trifft besser, worum es eigentlich geht. To be kind bedeutet eine bestimmte Form von Güte. Sie besteht in einer Zugeneigtheit zum anderen, zur Welt, zu den Ideen, den Lebenslagen, den Wirklichkeiten, die uns umgeben. Und vor allem zu sich selbst.

Literatur

Lévy, Bernard-Henri (2023): Mein Frankreich, mein Albtraum. Gastbeitrag – Krawalle in Frankreich. In: tagesanzeiger.ch, 5.7.2023

Mau, Steffen / Lux, Thomas und Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin

O’Brien, Carl (2020): Empathy in Education: ‚It’s just as important as learning maths‘. In: irishtimes.com, 23.1.2020