Text von Lena Papasabbas | Illustration von Julian Horx
29. Februar 2024
Einzigartigkeit hat das Normale oder gar Gewöhnliche als erstrebenswerte Ideale abgelöst. Die Verbreitung des Internets, die rasante Globalisierung und vielseitige kulturelle Gegenbewegungen haben uns in eine Ära geführt, in der Standards und Normalität an Attraktivität verloren haben. Man orientiert sich nicht mehr am Allgemeinen, sondern am Besonderen.
Selbstentfaltung ist zur Lebensaufgabe des modernen Individuums geworden. Wer sein ganz eigenes, besonderes Potenzial nicht ausschöpft, ist selbst schuld. Auch Konsumgüter, Umgebungen und Erlebnisse dürfen nicht mehr gleichförmig sein. Nichts ist unattraktiver als Industrieware von der Stange, Einrichtung wie aus dem Katalog oder Pauschalurlaub am Mittelmeer. Das Comeback des handgefertigten, authentischen Unikats oder der massenhaften „Individualreisenden“ erklärt sich durch dieses Streben nach dem Besonderen.
Prestige ist nur noch in der Individualität zu erreichen – sei es die individuelle Spitzenleistung, eine einzigartige Kreativität, außergewöhnliche Ideen oder ein ganz eigener Stil.
Für dieses mitunter anstrengende Unterfangen stehen dem Individuum heute eine schier endlose Reihe von Produkten, Dienstleistungen, Ratgebern und eine Armee von Beratungsangeboten, Optimierungs-Apps und Coaches zur Verfügung. Die Anzahl der Branchen, die ausschließlich daran verdienen, Menschen in ihrer Selbstentfaltung und -optimierung zu unterstützen, ist immens.
Dieses Streben nach dem Besonderen ist jedoch vor allem eines: anstrengend. Die verzweifelte Suche nach der eigenen Authentizität endet nicht selten in der ernüchternden Erkenntnis, dass viele andere die gleichen Urlaubsorte besucht, die gleichen Namen für ihre Kinder ausgewählt und die gleichen Songs in ihren Playlists gespeichert haben. Die ständige Abgrenzung und Inszenierung der eigenen Einzigartigkeit verschlingt viel Energie und birgt ein hohes Frustrationspotenzial.
Zum Glück steht der Gegentrend bereits in den Startlöchern: Das Comeback des Gewöhnlichen entsteht aus einer Weigerungshaltung, manchmal auch aus Resignation. Es zeigt sich in vielen Facetten: Immer mehr Menschen wenden sich von den Selbstinszenierungsmaschinen Facebook und Instagram ab, tragen absolut nicht-aussagekräftige Normcore-Kleidung, feiern ungehemmt die größten Mainstream-Produkte der Medienwelt wie Harry Potter oder Game of Thrones. Statt sich auf der Suche nach dem neuen Underground-Label zu verlieren, trägt man heute Lidl-Klamotten; statt sich mit garantiert unbekannten Newcomer-Bands zu brüsten, hört man Taylor Swift und Justin Bieber; statt ausgefallenen Foodtrends serviert man den Gästen Bananenbrot zum Filterkaffee…. statt ständig das ureigene Potenzial zu entfalten, feiert man die eigene Durchschnittlichkeit.
Diese neue Bodenständigkeit hat keine Lobby und keinen Namen, sie entsteht als natürliche Gegenreaktion auf die überhöhten Ansprüche an das eigene Leben. Die neuen Normalos haben keine Lust mehr auf die ewige Abgrenzung von der Masse. Sie zelebrieren ihre Gewöhnlichkeit – und befreien damit auch alle anderen ein kleines bisschen.