Eine Zukunft, die auf uns zukommt wie eine rasende Lokomotive in einem Tunnel, macht ohnmächtig und passiv. Dabei bleibt Zukunft immer offen – weil Menschen durch ihre Entscheidungen, Handlungen, Zukunft erst produzieren. Es ist an der Zeit, Zukunftsforschung wieder auf ihre universalistischen, humanistischen Elemente zurückzuführen.
von Matthias Horx
19. Oktober 2023
Ich meine: Die richtige Zukunft. Nicht nur Waldbrand, Artensterben, Krieg, Kulturkampf oder eine digitale Superintelligenz, die uns entweder umbringt oder von allen Übeln erlöst. Sondern eine Zukunft, die als Vorstellung eines Besseren dienen kann. Als Orientierung im Wandel der Zeit.
Es sieht so aus, als ob uns diese Zukunft in dem rasenden Jetzt, in dem wir heute leben, verloren gegangen ist. Ähnlich wie die Politik, hat sich die Zukunft in zwei diametrale Lager aufgespalten, die einen Trichter der Unsicherheit hinterlassen:
Während die Zukunft sich in zwei Unmöglichkeiten aufspaltet, wird sie gleichzeitig zu einem entleerten Klischee. Überall ist ZUKUNFT, immer groß geschrieben. Sie springt einem entgegen aus den Katalogen von Gebietskrankenkassen („Zukunft für Profis!“), aus den Image-Broschüren von Versicherungsunternehmen („Zukunft zählt“), sie prangt auf den Werbeplakaten in Tankstellen („Tanken Sie Zukunft!“) und auf Lastwagenplanen („Wir transportieren Zukunft!“). Illustriert wird das meistens mit Frauenköpfen, die sich in Pixel auflösen, oder blauen Bildschirmwelten – „irgendwas mit digital“. Menschen kommen in dieser Klischee-Zukunft allenfalls als lächelnde Datenträger vor.
„Future is an Attitude“, lautet der Image-Claim einer großen deutschen Automarke. Eine doppelseitige Anzeige dazu zeigt einen metallisch glänzenden Boliden, ein phallisches, elektrogetriebenes Männergeschoss, in dem niemand zu sehen ist, vor einer einsamen Wüstenlandschaft.
„Servus Zukunft“ dichtete eine Partei im bayerischen Wahlkampf. Servus heißt auf bayrisch auch „Auf Wiedersehen“.
Neben Greenwashing, Socialwashing und Purposewashing gibt es nun auch ein monströses Futurewashing.
Zukunft ist immer eine Narration. Eine Erzählung, eine „Story“, die sich Menschen, Gesellschaften, Zivilisationen erzählen, und mit der sie sich „nach vorn ausrichten“. Zukunft ist eine Art Super-Mem, das in unseren Köpfen Sinn erzeugt. In der Epoche, die nun zu Ende geht, war die Narration des (linearen) Wohlstands oder Fortschritts ein verlässlicher Rahmen, der unsere Handlungen und Deutungen trotz aller Unterschiede und Konflikte synchronisierte. Doch die Zukünfte von gestern müssen nicht die Zukünfte von morgen sein.
Wenn Gesellschaften – oder auch Individuen – ihre Zukunfts-Narrative verlieren, kommt es zu Regressionen, Aggressionen, Sinnkrisen und Kulturkämpfen. Genau das erleben wir heute, vor allem in den USA. Der größte Sehnsuchts-Trend unserer Zeit ist wahrscheinlich die Retrotopie: Alles soll wieder so werden wie „damals“. Viele Menschen sehnen sich nach einer Vergangenheit, in der zwar manches viel schlechter war, aber man davon keine Ahnung hatte.
Kann die Zukunftsforschung solche erzählerischen Verankerungen bieten? Ja, aber sie müsste sich selbst verändern. Sie müsste aufhören, Zukunft primär aus den Perspektiven von Ökonomie und Technologie zu konstruieren – als großes Muss und Soll, als das, „an was wir uns anpassen müssen“. Sie müsste sich überhaupt von normativen Zukünften verabschieden, von belehrenden Prophezeiungen eines imaginären Endzustandes, nach dem Motto „Das kommt auf uns zu!“.
Eine Zukunft, die auf uns zukommt wie eine rasende Lokomotive in einem Tunnel, macht ohnmächtig und passiv. Sie handelt von Vorbestimmtheiten. Vom Unvermeidlichen, dem wir ausgeliefert sind. Damit ist die Zukunft schon verloren. Das Wesen der Zukunft ist aber, dass sie immer offen bleibt. Weil wir an ihr beteiligt sind. Weil Menschen durch ihre Entscheidungen, Handlungen, Zukunft erst produzieren.
Zukunft ist kein Trend. Sie ist auch keine fixierte Tatsache, oder „Prognose“. Sie ist eine Beziehung. Darum geht es in der neuen Zukunftsforschung: Unser Verhältnis zum Kommenden, im Sinne einer gestaltbaren Verbindung.
Es ist an der Zeit, Zukunftsforschung wieder auf ihre unversalistischen, humanistischen Elemente zurückzuführen. Und sich wieder mehr dem Menschen und dem Menschlichen zuzuwenden, den Wünschen, Träumen und Hoffnungen, in denen sich die „Zukunft in uns“ spiegelt. Deshalb haben wir uns beim Future:Project dem humanistischen Futurismus verschrieben.
Humanistischer Futurismus…