Von der Great Resignation zur Great Motivation

Die Arbeitswelt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel: In der Conscious Economy werden Wert und Bedeutung von Arbeit grundsätzlich neu definiert. Veraltete Leitbilder der Arbeitsgesellschaft lösen sich auf und werden durch neue Ideale ersetzt. Sie ebnen den Weg in die Great Motivation.

von Judith Block

10. Oktober 2023

Proteste für bessere Arbeitsbedingungen begleiteten bereits die Geschichte der Industrialisierung und durchziehen die Entstehung moderner Arbeitsverhältnisse. Während Gewerkschaften und Arbeiter:innen im 19. und 20. Jahrhundert zumeist im lautstarken Streik die Grundlagen für die gegenwärtige Arbeitswelt erkämpften, vollzieht sich heute ein vergleichsweise stiller Umbruch – der aber mindestens ebenso einschneidend ist. 

Weltweit streiten Angestellte heute nicht mehr nur mit Vorgesetzten um mehr Gehalt, bessere Entwicklungschancen oder geringere Arbeitsbelastung. Sie nutzen ein rabiateres Mittel: die Kündigung, die laut oder leise vonstatten gehen kann. Die „Great Resignation“, das Phänomen des protestierenden Nichtstuns, beginnt mit der Ablehnung des gegenwärtigen Arbeitssystems. So wie das Phänomen des „Lying Flat“, das Niederlegen der Arbeit, basiert auch das „Quiet Quitting“ auf der Verweigerung, sich dem ungebremsten Produktivitätszwang der Leistungsgesellschaft anzuschließen: Der Job dient dem Erhalt des Lebensstandards, erledigt werden aber nur noch die Aufgaben, die im Arbeitsvertrag festgehalten sind und entsprechend entlohnt werden. 

Die Verwerfungen der Great Resignation umfassen allerdings mehr als nur die Krise der heutigen Arbeitswelt. Sie weisen auf neue Ansprüche hin – und stärken zugleich eine künftige Arbeitskultur der „Great Motivation“.

Arbeitszeit ist Lebenszeit

Die Rolle und der Stellenwert von Arbeit werden immer wieder neu verhandelt. Lange Zeit prägte die Erzählung der Work-Life-Balance im Sinne einer strikten Trennung von Arbeit und Freizeit unser Verständnis von einem ausgewogenen Lebensstil. Die rasante Vernetzung und Technologisierung vieler Arbeitsbereiche und zuletzt die Auswirkungen der Coronapandemie ließen diese Lebensbereiche jedoch verschmelzen: Das sogenannte Work-Life-Blending erzählt von einem parallelen Umgang mit Arbeit und Freizeit im Alltag. 

Das Phänomen der Great Resignation signalisiert nun eine weitere radikale Umwälzung unseres Verständnisses von Arbeit. Es reflektiert nicht nur die Abkehr von traditionellen Arbeitsstrukturen, sondern eine tiefgreifende Veränderung in den Werten und Prioritäten der Arbeitskräfte: Arbeit wird nun als etwas gesehen, was sich gut in das restliche Leben integrieren lassen muss. Diese Vorstellung von Arbeit als nur einem von vielen Aspekten des Lebens verbreitet sich zunehmend in unserer Arbeitskultur. Im Brennpunkt dieses Umbruchs stehen zwei zentrale Merkmale von Arbeit: Arbeitsort und Arbeitszeit.

Unterstützt durch digitale Technologien verlieren viele Berufe ihre Bindung an bestimmte Orte. Ob Hybrid Work, Remote Work oder Workation – das ortsunabhängige Arbeiten verändert die gesamte Organisation des Alltags und unser Verständnis von Räumen der Arbeit. Das Homeoffice erfordert einen ruhigen und gut ausgestatteten Arbeitsplatz in den eigenen vier Wänden. Zugleich ermöglicht es durch den wegfallenden Arbeitsweg eine flexiblere Integration der Arbeit in den Alltag. Büros erhalten dadurch langfristig neue Funktionen und müssen sich veränderten Ansprüchen stellen. Dabei geht es um viel mehr als Tischkicker, Obstkörbe oder schicke Sofalandschaften, sondern um grundlegende Fragen der Raumgestaltung: Wie können Austausch und Resonanzerfahrungen gefördert werden, damit Menschen gern ins Büro kommen?

Gleichzeitig äußert sich die veränderte Bedeutung von Arbeit auch in der Zeit, die wir dafür aufbringen wollen. Die Vier-Tage-Woche steht stellvertretend für viele aktuelle Phänomene, die eine Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen und den steigenden Wert von Freizeit aufzeigen. Doch nicht nur die Frage, wann wir arbeiten, beeinflusst die Arbeitskultur von morgen, sondern auch die Frage, wie wir unsere Zeit am Arbeitsplatz gestalten – und wie wir sie ganzheitlich in unser Leben integrieren. 

Streben nach Sinn

Arbeit ist künftig mehr als zeitintensiver Broterwerb. Sie richtet sich nach neuen Idealen aus, die neben finanzieller Sicherheit und fairen Gehältern auch soziale Werte umfassen. Immer stärker formulieren Arbeitnehmer:innen ihren Wunsch nach einer sinnvollen Tätigkeit, die Raum zur Selbstentfaltung bietet und die Gesundheit der Mitarbeitenden nicht vernachlässigt. Wertschätzung und Anerkennung sind zentrale Leitmotive dieser Forderungen. 

Dafür muss die traditionelle Gleichsetzung von Arbeit mit klassischer Lohnarbeit aufgelöst werden. Insbesondere freiwilliges Engagement erfüllt oft ein Sinnbedürfnis, das während der Lohnarbeit häufig vermisst wird. Gerade in diesem zivilen Engagement, das über die Erwerbsarbeit hinausreicht, erzeugt Arbeit im weiteren Sinne eine besondere Form des sozialen Kitts und der Resilienz. Gesellschaften leben davon, dass Menschen durch verschiedene freiwillige, ehrenamtliche Tätigkeiten mit ihrem sozialen Umfeld in Resonanz treten und gemeinschaftliche Strukturen aufbauen. 

Die aktuelle Sinnkrise der Arbeitswelt sorgt dafür, dass wir unterschiedlichste Formen von Arbeit künftig gleichwertig anerkennen und fördern.

In unserer gegenwärtigen Arbeitswelt werden ehrenamtliche Tätigkeiten durch die vergütete Arbeitszeit noch oft an die Randstunden des Tages verdrängt. Auch die gesellschaftliche Funktion von Care-Arbeit, etwa in Form von Kinderbetreuung, Krankenpflege oder häuslicher Arbeit, bleibt bislang meist unterbewertet und schlecht entlohnt – was nicht zuletzt geschlechtsspezifische Ungleichheiten schürt. Die aktuelle Sinnkrise der Arbeitswelt sorgt dafür, dass wir diese verschiedenen Formen von Arbeit künftig als gleichwertig anerkennen und fördern.

Alles ist Arbeit?

Die Vorteile eines breiter gefassten Arbeitsbegriffs liegen auf der Hand. Durch die Anerkennung von zivilgesellschaftlichem Engagement werden vor allem jene Tätigkeiten unterstützt, die gesellschaftlichen Mehrwert bieten. Sinnvolle Arbeit wirkt sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene positiv aus, indem sie das eigene Selbstbewusstsein und die soziale Eingebundenheit stärkt. Die Pflege von Angehörigen oder die Unterstützung lokaler Vereine könnten durch neue gesellschaftliche Lösungsansätze endlich eine angemessene Wertschätzung erhalten – zum Beispiel, indem ehrenamtliche Tätigkeiten auf die Lebensarbeitszeit angerechnet werden.  

Auch für Unternehmen eröffnen sich in diesem Prozess neue Chancen. Eine Reduzierung der Wochenstundenzahl zugunsten einer ehrenamtlichen Tätigkeit geht nicht unbedingt mit einem Produktionsverlust einher, sondern wirkt sich häufig positiv aus. So entwickeln Beschäftigte, die in unterschiedlichsten Kontexten tätig und aktiv sind, nützliche Kompetenzen zur Problemlösung und gemeinschaftlichen Arbeit. Erst recht, wenn nach der Arbeit genügend Zeit zur Regeneration bleibt. Arbeitgeber:innen stehen künftig vor der Herausforderung, Arbeitskulturen zu schaffen, die Raum für sinnvolle Aufgaben bieten und ein gesundes Arbeitsumfeld fördern. 

Wenn wir Arbeit als Teil eines umfassenden Strebens nach Lebensqualität betrachten, können wir den traditionellen Arbeitsbegriff aus seinem Korsett befreien.

Indem wir Arbeit als Teil eines umfassenden Strebens nach Lebensqualität begreifen und Gesundheit als ganzheitliches Konzept betrachten, bricht der traditionelle Arbeitsbegriff aus seinem gegenwärtigen Korsett aus. Vielfältige Formen der Arbeit und des Engagements fordern und treiben flexible Arbeitsmodelle und faire Entlohnungen gleichermaßen voran. Auf diese Weise ebnen die stillen Proteste der Great Resignation den Weg zur Great Motivation: zu einem neuen Verständnis von Arbeit, das durch den Sinngehalt der insgesamt geleisteten Arbeit angetrieben wird.


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