Die multiplen Krisen des frühen 21. Jahrhunderts haben das Vertrauen in die just-in-time Logik weltweiter Lieferketten geschwächt und das Ende der Hyperglobalisierung eingeleitet. Produktionsnetzwerke richten sich künftig nach neuen Zielparametern aus und überkommen das Effizienz-Paradigma vergangener Tage. Die Versorgungssysteme der Zukunft werden glokal verhandelt und gestaltet.
von Jonas Höhn
10. Oktober 2023
Lieferketten sind die Lebensadern globalisierter Gesellschaften. Sie verknüpfen transnationale Industrien und überziehen den Planeten zu Luft, Wasser und Land. Verkörpert durch riesige Containerschiffe oder niemals ruhende Häfen sind Lieferketten zu einem zentralen Symbol der Globalisierung aufgestiegen. Bilder von beladenen Kränen an vollbesetzten Terminals begleiten Berichte über wirtschaftliches Wachstum oder ökonomische Prognosen.
Immer häufiger jedoch zeigen die Auswirkungen verschiedener Krisen des 21. Jahrhunderts eine andere Seite dieser Systeme auf. Nicht zuletzt die Coronapandemie, die unfreiwillige Blockade des Suezkanals oder der Krieg in der Ukraine produzierten Bilder von leeren Supermarktregalen, stillstehenden Produktionshallen oder zahllosen Schiffen wartend vor den wichtigsten Häfen der Welt.
Diese Disruptionen haben das öffentliche Vertrauen in die uneingeschränkte Funktionsfähigkeit traditioneller Wertschöpfungsketten stark beeinträchtigt und uns für die Störanfälligkeit dieser multiskalaren und hochkomplexen Systeme sensibilisiert. Der plötzliche Mangel an wichtigen Rohstoffen und Waren hat Abhängigkeiten aufgezeigt und sichtbar gemacht, dass Lieferketten eine essenzielle Funktion haben, die über die reine Wertschöpfungslogik hinausgeht: die Versorgung der Gesellschaft und Industrie mit notwendigen Gütern.
2007/08 | 2010 | 2014/15 | 2019 | 2021 | 2022 |
Globale Finanzkrise | Ausbruch des Eyjafjallajökull in Island | Streiks der Hafenarbeiter:innen in den USA | Coronapandemie | Suezkanal-Blockade | Ukraine-Krieg |
Der Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes führt zu einer weltweiten Rezession. Viele Unternehmen müssen ihre Produktion reduzieren, gleichzeitig sorgt die fallende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu Überkapazitäten und finanziellen Engpässen. | Der Ausbruch des isländischen Vulkans führt zur Schließung des europäischen Luftraums. Der behinderte Luftverkehr beeinträchtigt den internationalen Warentransport, insbesondere für hochwertige und verderbliche Güter. | Ein langwieriger Arbeitskampf an den Häfen der Westküste der USA führt zu massiven Verzögerungen und Staus. Die Blockade der Häfen beeinträchtigt den Warenfluss weltweit. | Die globalen Auswirkungen der Coronapandemie treffen Lieferketten hart. Ein durch Lockdowns und Kontaktbeschränkungen verändertes Konsumverhalten trifft auf Produktionsstörungen, Transportverzögerungen und ein Mangel an Rohstoffen, Gütern und Arbeitskräften. | Das Containerschiff „Ever Given“ läuft im Suezkanal auf Grund und blockiert die wichtige Wasserstraße fast eine Woche lang. Durch den Stau von hunderten Schiffen verzögern sich Warenlieferungen zwischen Europa und Asien enorm. | Die Invasion Russlands in die Ukraine sorgt für ausbleibende Rohstofflieferungen aus der Region. Wichtige Handelsrouten werden unterbrochen oder zerstört. Neben Sanktionen und Handelsbeschränkungen wirken sich vor allem steigende Energiepreise negativ auf Lieferketten aus. |
Lieferengpässe in der Containerlogistik, die als treibende Kraft der Weltwirtschaft fungiert, sowie steigende Preise deuten immer häufiger darauf hin, dass die Just-in-time-Logik globaler Versorgungssysteme an ihre Grenzen stößt. Das traditionelle System globaler Lieferketten ist programmiert auf Effizienz und Beschleunigung. Viele Jahrzehnte lang bestand eine zentrale Strategie transnationaler Unternehmen zur kurzfristigen Gewinnmaximierung im Offshoring und Outsourcing: in der Auslagerung kostenintensiver Produktionsschritte in Länder mit niedrigeren Lohnniveaus sowie Sozial- und Umweltstandards.
Der Imperativ der Effizienz und die globale Vernetzung der Lieferketten erzeugen jedoch eine besondere Vulnerabilität der Systeme. Aufgrund der engen Verflechtung traditioneller Wertschöpfungsketten können bereits lokale Disruptionen weltweite Lieferengpässe auslösen und andere Versorgungskrisen zusätzlich verschärfen. Der daraus resultierende Druck auf die logistischen Versorgungssysteme der Weltwirtschaft drückt sich wiederum in lokalen Herausforderungen aus – etwa in steigenden Lebensmittelpreisen im Supermarkt oder fehlenden Gütern in wichtigen Produktionsschritten vor Ort.
Gleichzeitig führen globale Güterketten zu massiven Umweltveränderungen. Der Verbrauch von Wasser und Land ist ebenso problematisch wie die massiven Emissionen von Treibhausgasen oder der Ausstoß von toxischen Stoffen (zum Beispiel Schwermetalle oder Nitrate). Der tatsächliche Einfluss logistischer Systeme auf den Klimawandel wird häufig vernachlässigt und lässt sich bis heute nur abschätzen. Auf paradoxe Weise verdeutlichen aber sogenannte empty runs von Frachtern oder der ständige Transport von tausenden leeren Containern, dass der Schutz unserer Umwelt im Verständnis logistischer Effizienz noch keinen angemessenen Platz hat. Der Höhepunkt der Hyperglobalisierung ist erreicht.
Doch wie lassen sich Lieferketten und Produktionsnetzwerke in Anbetracht zukünftiger Herausforderungen neu ausrichten? Welche Maßnahmen können dabei helfen, eine langfristig krisenresiliente und nachhaltige Versorgungssicherheit zu gewährleisten?
Um den immensen Herausforderungen begegnen und neue Chancen ergreifen zu können, gilt es, Versorgungssysteme zu rekonfigurieren und nach neuen Zielparametern auszurichten. Aus den blinden Flecken der bisherigen Hyperglobalisierung treten neue Grundsätze der Versorgungssicherheit hervor, die im Resilient Supply schon heute eine große Relevanz haben – und künftig noch sehr viel wichtiger werden. Maßstäbe wie Resilienz, Qualität, Sicherheit oder Nachhaltigkeit verdeutlichen ein wachsendes Bewusstsein für das Zusammenspiel globaler und lokaler Dynamiken, das der Transformation der Glocalisation zugrunde liegt.
Der Begriff der Glokalisierung betont hier einen fundamentalen Perspektivwechsel. Während der globale Determinismus zu bröckeln beginnt, erfahren lokale Phänomene immer häufiger einen Bedeutungszuwachs. In dieser Phase ist es notwendig zu differenzieren, da Glokalisierung keineswegs eine vollständige Umkehr bisheriger Globalisierungsprozesse (De-Globalisierung) oder gar eine Rückkehr zu ausschließlich lokalen Strukturen bedeutet. Vielmehr beschreibt sie einen tiefgreifenden Evolutionssprung in der bisherigen Globalisierung.
Ein zunehmendes Bewusstsein für glokale Zusammenhänge in Lieferkettensystemen bedeutet nicht zwangsläufig, dass Menschen künftig ausschließlich lokal produzieren und konsumieren. Zum einen, weil Rohstoffe und Güter nach wie vor ungleich verteilt bleiben. Zum anderen sind heute in jenen Ländern, in denen über Jahrzehnte Industrien ausgelagert wurden, bedeutende Absatzmärkte entstanden, insbesondere in Asien.
Vielmehr entstehen an den Schnittstellen globaler und lokaler Einflüsse in Versorgungsnetzwerken Möglichkeitsräume für neue Lösungsansätze, die bessere Antworten auf die Herausforderungen multipler Krisen versprechen. Diese Möglichkeitsräume zu finden, gehört zu den wichtigsten Aufgaben, um Lieferketten zukunftssicher gestalten zu können.
Die zunehmende Verschiebung von globalen zu glokalen Prozessen erfordert zunächst die Identifizierung der sich eröffnenden Potenziale. Unternehmen müssen bestehende Risiken abschätzen und ihre gegenwärtigen Bezugsquellen sowie Lieferantenstrukturen kontinuierlich reflektieren und diversifizieren.
In Bereichen, in denen globale Verflechtungen besonders anfällig sind, können lokale Handelsbeziehungen künftig zu einem wichtigen Bestandteil des Versorgungsnetzwerkes werden. Solche regionalen Wirtschaftskreisläufe bieten oft neue Anreize und können in Zeiten globaler Engpässe mindestens als Backup-System dienen. Darüber hinaus eröffnet eine glokale Perspektive auf Rohstoffe vielfältige Optionen, wenn lokale Alternativrohstoffe den globalen Handel sinnvoll ergänzen und dadurch Abhängigkeiten reduzieren. Auch größere Materialreserven werden eine bedeutende Sicherheitsfunktion in den Produktionsnetzwerken von morgen einnehmen.
Neben einem erweiterten Verständnis von Sicherheit streben glokale Ansätze eine nachhaltige Entwicklung an, die sich stärker an den Prinzipien der Circular Economy ausrichtet. Um Emissionen und Abfälle zu reduzieren, müssen die Lebenszyklen von Produkten verlängert, Ressourcen effizient eingesetzt, wiederverwendet und Transportwege kürzer werden. Investitionen in digitale Lösungen zur Automatisierung und Robotisierung von Produktionsprozessen treiben diesen Wandel schon heute voran. Gleichzeitig bedeutet Nachhaltigkeit in diesem Kontext auch, dass Menschenrechte und internationales Recht in Produktions- und Lieferketten zukünftig besser geschützt werden müssen. Deutschland und die EU haben diesen Prozess bereits mit entsprechenden Lieferkettengesetzen in Gang gesetzt.
Gegenwärtige Vielfachkrisen weisen bereits darauf hin, dass die Transformation zur Glokalisierung als Weiterentwicklung traditioneller Globalisierungsprozesse schon heute von enormer Bedeutung ist. Im Angesicht zukünftiger Herausforderungen gilt es, die Produktion und den Transport von Waren nach neuen Maßstäben wie Resilienz, Nachhaltigkeit und Qualität auszurichten.
Für ein glokales Versorgungssystem der Zukunft sind folgende Ansätze ausschlaggebend: