Individuelle Zukunfts-Skills bringen uns nicht weiter: Es ist an der Zeit, ein neues gesellschaftliches Verständnis von Aufmerksamkeit zu entwickeln.
von Nina Pfuderer
Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Beyond 2024 – Das Jahrbuch für Zukunft“
5. Dezember 2023
Die hyperindividualisierte, digitalisierte Wissensgesellschaft ist von einem mächtigen Imperativ geprägt: Entfalte dein Potenzial! Potenzialentfaltung und Selbstoptimierung sind die scheinbar logische Konsequenz einer immer individualisierteren Gesellschaft und einer Wirtschaft, die sich dem Wachstum verschrieben hat.
Wissen ist heute zugleich zugänglicher und vergänglicher denn je. Und je weniger sich die Zukunft durch das Wissen über die Vergangenheit bewältigen lässt, umso mehr verliert die pure Aneignung von Wissen und Fachkompetenzen an Bedeutung. Als Antwort auf die maschinelle Automatisierung durch Künstliche Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die menschliche Intelligenz und auf genuin humane Fähigkeiten. Diese werden unter einem neuen Namen verhandelt: Future Skills.
Je vielfältiger, komplexer und abstrakter die Palette der Future Skills wird, umso mehr klingen sie mitunter wie Plastikwörter. Und alle zielen letztlich darauf ab, sich bestmöglich anzupassen an eine unsichere, sich rasend schnell verändernde Welt. Frei nach dem Motto: Sei wie ein Grashalm, dann kann dir nichts passieren, dann tut dir auch die schlimmste Krise nichts! Zugegeben, Grashalme sind sehr gut gerüstet für Sturmböen und starke Winde. Aber in einer Dürre sind sie schnell vertrocknet, ihre Wurzeln sind nicht so tief, dass sie auch nur in die Nähe von Grundwasser gelangen. In einer Flut werden sie weggespült und mitgerissen.
Vielleicht wäre deshalb das Bild des Baumes eine Alternative, um über Future Skills nachzudenken. Bäume haben ein dichtes, tiefreichendes Wurzelgeflecht, das als Anker dienen kann. Mit Blättern, die Photosynthese praktizieren und sich ziemlich gut selbst versorgen. Natürlich gibt es auch Krisen, die dem Baum etwas anhaben können – Brände, Blitzschläge, Borkenkäfer, Menschen. Doch der Baum ist nicht darauf ausgelegt, sich schnellstmöglich anzupassen, sondern auf ein langfristiges Überleben in sich wandelnden Umgebungen.
Baum und Grashalm haben also vor allem in zeitlicher Hinsicht ganz andere Skill-Sets. Während der Grashalm Fähigkeiten wie agiles Arbeiten, Adaptivität und Flexibilität symbolisiert, steht der Baum, der mehrere Hundert Jahre alt werden kann, für ein langfristig ausgerichtetes Denken und Handeln. Die Future Skills des Baumes verweisen auf die Konzentrations- und Empathiefähigkeit, auf das Schenken von Aufmerksamkeit, auf das Zuhörenkönnen. Auf die Fähigkeit des Zweifelns und Entscheidens. Auf die abwägende Risikokalkulation.
In Zeiten der fortgeschrittenen Aufmerksamkeitsökonomie, in der Unternehmen für Millisekunden Watchtime bezahlen, wo von überallher Push-Notifications, Blings und Pings aufpoppen und mit der Stitch-Funktion auf TikTok sogar zwei Videos gleichzeitig abgespielt werden, um die Aufmerksamkeit der Zuschauenden so lang wie möglich zu halten – in diesen Zeiten ist es kein Wunder, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird. Und dass wir verlernt haben, anderen Menschen Geduld, Zugewandtheit und Empathie zu schenken. Was wir deshalb brauchen, ist die Kompetenz einer grundlegenden Freundlichkeit.
Was wäre also, wenn wir uns wieder stärker auf jene grundlegenden Kompetenzen konzentrieren, die wirklich zukunftsfähig sind, weil sie uns in Krisen tatsächlich weiterbringen? Die uns einzuschätzen helfen, ob eine Krise wirklich eine Krise oder gar eine Katastrophe ist – oder vielleicht sogar eine Chance für Veränderung?
Das Problem der fehlenden Aufmerksamkeit für andere wurzelt in Wirtschaftslogiken, die auf Analytik und Effizienz getrimmt und nicht empathiefähig sind. Geboren und groß gemacht hat es eine Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass in der Schublade hat verstauben lassen. Im übermächtigen Streben nach Potenzialentfaltung und Selbstoptimierung, bei all dem Upskilling und Reskilling, vergessen wir oft, dass Kompetenzen sich erst im Miteinander richtig entfalten.
Was wir in Zukunft brauchen, um als Zivilisation zu bestehen, ist eine gesellschaftliche Charakterbildung: weg von egozentrierten, impulsiven Entscheidungen, hin zum aktiven Zuhören, Nachfragen, dem wirklichen Interesse für andere. Wenn wir uns darauf konzentrieren, diese Fähigkeiten (wieder) zu erlernen, zu kultivieren und weiterzuentwickeln – im „Kleinen“, als einzelne Individuen, wie im Großen, im Bildungs- und Wirtschaftssystem –, dann werden wir auch in unsicheren und volatilen Zeiten fest verankert sein. Denn dann haben wir Wurzeln, die uns auch in Krisenphasen erden.