Gratuliere, lieber Journalismus. Du hast Dich wacker geschlagen, all die Jahre und Jahrhunderte. Seit dem Kirchenbann, dem Fürstenrecht, dem Verdikt der Könige und dem Diktatoren-Wahn hast Du nicht still gehalten. All den Zensoren-Scheren bist du entkommen, früher oder später. Der Glanz des freien Wortes hat Despoten beseitigt, Revolutionen begleitet, dringende gesellschaftliche Debatten aufgeworfen, das Verborgene ans Licht gebracht. Du hast geholfen, Gesetze zu verändern – nicht zuletzt Gesetze über das, was man sagen durfte und was nicht. Du leistest Widerstand gegen die Lügengebilde der Autokraten. Das kann, das muss man feiern, preisen und immerzu verteidigen.
In meiner Jugend in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts war der Beruf des Journalisten hoch angesehen und begehrt. Man wollte als junger Mensch nicht nur „was mit Medien” machen, sondern mit dem Journalismus die Welt verbessern. Was Rudolf Augstein für seinen Spiegel reklamierte – das „Sturmgeschütz der Demokratie“ zu sein –, ging noch viel weiter: Man wollte mit dem Schreiben, Erzählen, Kommentieren die Dinge in Bewegung bringen. Wandel erzwingen. Das Neue, das Bessere in die Welt bringen.
Heute hat sich dieser Anspruch nicht unbedingt verändert, er ist vielmehr dringender geworden. Wohl aber gewandelt haben sich die Umstände, die „Umwelten” des Journalistischen. Und das sollten wir bedenken, wenn wir nach den Pressefreiheiten in den nächsten 50 Jahren fragen.
Der mediale Raum hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in einer Weise verändert, wie wir es uns kaum hätten träumen lassen. Er hat sich einerseits erweitert in unendlich viele Kanäle und Äußerungsmöglichkeiten. Er hat sich andererseits verengt auf eine ganz bestimmte Art von Wirkungsformen, die sich immer weniger an Wahrheiten oder Wirklichkeiten, sondern an Klicks orientieren. Während die alte klassische Zeitung noch von echten Leser:innen, Abonnent:innen, Haltungen lebte, hat sich in der heutigen Medienwelt ein völlig anderes Geschäftsmodell durchgesetzt: Klick gegen Werbeeinnahmen.
Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie, in der es ständig um Reizsteigerungen geht. Das sogenannte Clickbaiting führt zu einer permanenten Profanisierung, Skandalisierung, Überspitzung von Botschaften, die das Fundament des Seriösen von unten her zerstört. Selbst in den traditionellen Medienmarken ist die Tendenz zum „Doomclicking” unübersehbar: Aus jeder kleinen Studie wird eine Weltgefahr, aus jeder Abweichung ein monströser Skandal, aus jedem Unfall ein Weltuntergang. Dazwischen sind möglichst skurrile Geschichten gestreut (Schauen Sie, was passiert, wenn ein Mops aus dem Fenster fällt! Klicken Sie hier!). Hintendran folgen bizarre Werbungen mit chinesischen Billigprodukten oder Treppenliften, die kaum von editorialen Formaten zu unterscheiden sind.
Ein heutiges politisches Interview, sehr professionell geführt und multimedial vermarktet, ähnelt eher einem Verhör. Es geht darum, den oder die Politiker:in möglichst in die Enge zu drängen. Das grenzt an Lächerlichkeit bis zur nackten Unverschämtheit, wenn Politiker:innen vorgegebene Sätze in Millisekunden beantworten müssen. „Ihren politischen Gegner vergleichen Sie am liebsten mit einem Tier namens…” Die Würde von Politiker:innen ist antastbar geworden, und am Ende geht es auch hier unter dem Mantel des kritischen Journalismus nur um die Beute der Aufmerksamkeit, den berühmten „Sager”, den man schon nach fünf Minuten in Shitstorm und Werbung (Klicks = Werbeeinnahmen) umsetzen kann.
Der legendäre Rudolf Augstein sagte einmal vor langer Zeit in einer Diskussion über Medienfreiheit: Es liegt „wohl im Wesen der politischen Kritik, die Krisen, die aufgezeigt werden, immer noch zu verschärfen”. Wie man das ins Positive wenden kann, dazu habe er nichts zu bieten. Womöglich ahnte er etwas über die Grenzen des Missstände-Journalismus. Manchmal wird man den Eindruck nicht los, dass der kritische Journalismus nicht ganz unschuldig ist an jenem Wut-Populismus, der „die Politik” in Bausch und Bogen verdammt. Ganz zu schweigen von dem dadurch entstehenden Personalproblem der Politik: Wer will sich das mediale Verhör in Zukunft als Politiker noch antun?
Wenn man heute eine x-beliebige News-Seite liest, hat man nicht selten ein Gefühl der Unentrinnbarkeit. Es ist nicht mehr kurz vor Zwölf, sondern immer schon Jahre danach. Die häufigsten Worte in den Schlagzeilen und Unterzeilen der Deutungsmedien lauten:
Nein, das ist natürlich nicht repräsentativ – es gibt allerdings eine seriöse Untersuchung über die Wortanteile der US-Medien, die am meisten verwendeten Worte in US-Schlagzeilen sind demnach Wrong, Bad, Awful, Hate, War, Worst, Sick, Fight, Scary, Hell, F*. Aber die Tatsache, dass das menschliche Hirn negative und bedrohliche Mitteilungen etwa um den Faktor Zehn stärker wahrnimmt als positive Meldungen – unsere Vorfahren waren gut daran gehalten, Gefahren überdeutlich wahrzunehmen –, führt, algorithmusverstärkt, in eine ständige Abwärtsspirale. Gerade in einer Zeit komplexer Krisen ist diese Verstärkung von Zukunftsängsten und Weltpessimismus hochgefährlich.
Da jeder Trend auch einen Gegentrend hat, entwickelt sich derzeit ein starker Trend zur „News Avoidance”: Eine immer größere Zahl von Menschen gibt an, journalistische Formate völlig zu ignorieren. Das ist für den Journalismus womöglich eine noch größere Gefahr als der Mangel an Pressefreiheit. Eine Antwort wäre ein Konstruktiver Journalismus, der nicht einseitig sein muss. Das Konstruktive heißt nicht, das Schlechte zu ignorieren. Es heißt aber, auch das Gelungene, Werdende, Hoffende darzustellen – die Dinge zu Lösungen hin einzuordnen. Wenn nicht alles täuscht, findet hier gerade ein Wende statt. Neuerdings kann man in den Deutungsmedien Bemühungen sehen, die Welt nicht immer ins Licht der letzten Düsternis zu tauchen.
Immer mehr Verlage und Redaktionen realisieren, dass das ständige Doomsaying in einer Zeit der Krisen nicht zum Erfolg führt. „Medium” heißt eben auch „Vermittlung”. Medien können Debatten vernünftiger organisieren, Meinungen einordnen statt aufblasen. Journalisten können die Demokratie stärken, indem sie für Konsens, Vernunft und Mässigungen eintreten und auch das Hoffnungsvolle betonen. Wenn nicht alles täuscht, ist jetzt eine Wende in diese Richtung in Gang gekommen. Das wäre eine neue Pressefreiheit. Eine Freiheit, die die Verantwortung für eine bessere Zukunft wieder in den Mittelpunkt des Berufes stellt. Nehmen wir sie uns!
Matthias Horx, Jahrgang 1955, war Journalist bei ZEIT, Tempo und Merian, bevor er Publizist und Zukunftsforscher wurde. Er trauert manchmal den guten alten Zeiten nach, als es gelang, mit einem guten „Stück” nicht nur Klicks und selbstverliebte Kommentare zu erzeugen, sondern auch einen wahrhaft neuen Klang in die Welt zu bringen.