Beyond Tourism

Wie Tourismus zum Pionier der Transformationen werden kann

Ein Gastbeitrag von Anja Kirig

04. März 2024

Beyond Tourism

Anfang März versammeln sich erneut die führenden Köpfe der Tourismusbranche in Berlin auf der Internationalen Tourismus-Börse (ITB), um gemeinsam die Zukunft des Reisens zu gestalten. Der diesjährige Leitsatz „Define the world of travel. Together.“ („Gemeinsam die Welt des Reisens definieren.“) ist nicht der einzige Aufruf zur Mitgestaltung. Der ITB Kongress fordert unter dem Motto „Pioneer the transition in Travel & Tourism. Together“ („Gemeinsam den Wandel im Reise- und Tourismussektor vorantreiben.“) die Teilnehmenden dazu auf, Vorreiter für den Wandel der Reisemärkte zu werden.

Doch was bedeutet es tatsächlich, Veränderungen mitzugestalten? Welche Transformationen müssen erkannt und vorangetrieben werden? Für die Reiseindustrie ist ein systemischer Wandel in jedem Fall entscheidend für ihr Überleben und ihre Weiterentwicklung.

Die sechs Transformationen des Future:System können hier Unterstützung bieten. Sie skizzieren essenzielle gesellschaftliche Entwicklungen, die für eine lebenswerte Zukunft maßgeblich sind und zeigen damit jene Handlungsräume auf, in denen eine gemeinschaftliche Neugestaltung der Tourismusbranche dringend erforderlich ist.

Human Digitality: Digitale Kultur statt Digitalisierungsrausch 

Die Integration digitaler Technologien kann die Effizienz und den Zugang im Tourismus verbessern. Ein kritischer Blick ist jedoch erforderlich, um sicherzustellen, dass digitale Lösungen die lokale Kultur und Gemeinschaft unterstützen, statt sie zu untergraben. Die Herausforderung besteht darin, Technologien zukünftig so einzusetzen, dass sie einen echten Mehrwert für alle Stakeholder bieten und nicht nur eine weitere Form der Kommerzialisierung oder Verkomplizierung von Abläufen darstellen. 

Smart Tourism Destinations bieten hierbei das Potenzial, durch den Einsatz von Technologie wie Big Data, KI und IoT, die Erfahrungen der Reisenden durch personalisierte Angebote und Dienstleistungen zu verbessern und gleichzeitig die nachhaltige Entwicklung der Destinationen zu fördern, indem sie Ressourcen schonen, die lokale Wirtschaft stärken und ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Touristen und der lokalen Bevölkerung herstellen.

Conscious Economy: Sinnökonomie und die Grenzen des Marktes

Die Herausforderung für die Tourismusbranche, sich von traditionellen Marktmechanismen zu lösen und Wege zu finden, wie wirtschaftlicher Erfolg mit sozialem und ökologischem Nutzen vereint werden kann, steht im Einklang mit dem Gedanken der Sinnökonomie. Diese Verschiebung fordert eine Abkehr von kurzfristigen Gewinnabsichten zugunsten von Investitionen in einen positiven Langzeiteffekt (Legacy). Dafür ist eine tiefgreifende Transformation bestehender Geschäftsmodelle erforderlich, die neue Bewertungskriterien für Erfolg einbezieht und eine breitere Perspektive auf den Wert und die Bedeutung von Arbeit fördert.

Die Conscious Economy ist eng verbunden mit dem aktuell überall spürbaren, tiefen Strukturwandel von Arbeit. Der Wunsch nach sinnstiftender Arbeit und zielorientiertem Handeln rückt dabei immer stärker in den Vordergrund. In einer Sinnökonomie wird Arbeit als wertvolle Lebenszeit verstanden und eine menschenzentrierte Arbeitskultur angestrebt. Diese Neuausrichtung ist besonders relevant für die Tourismusbranche, die nicht nur mit saisonalen Arbeitsstrukturen und einem ausgeprägten Fachkräftemangel konfrontiert ist, sondern auch mit dem Niedriglohnsektor.

Co-Society: heterogene Wir-Gesellschaft statt Ausdifferenzierung

Bedingt durch die Auswirkungen der Individualisierung, die eine verstärkte Suche nach neuen Formen der Verbindung und Gemeinschaft auslösen, erweist sich der Tourismus als eine ideale Plattform, um diesen Bedürfnissen zu begegnen. Die wachsende Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Austausch in einer vielfältigen Welt positioniert den Tourismus als ein Instrument, das Menschen zusammenführt und die Basis für eine inklusive Gesellschaft legt. Diese Gesellschaft, die Inklusion und Vielfalt als Kernwerte versteht, ist der Nährboden einer Wir-Kultur, in der beides existieren darf: Individuum und Gemeinschaft. Der Resonanztourismus dockt hier an, indem er Erfahrungen beschreibt, die über das aktuelle Tourismus-Verständnis hinausgehen. Er fördert eine individuelle Legacy, indem er Beziehungen ermöglicht und Erfahrungen generiert, die Menschen nachhaltig und langfristig verändern.

In diesem Zusammenhang dient der Tourismus nicht allein der Erholung oder dem Erleben, sondern avanciert zum Mittel für soziale Innovation und Wandel. Indem er Räume schafft, in denen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zusammenkommen und sich austauschen können, leistet er einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Kohäsion und fördert die Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen. Die durch den Tourismus entstehenden neuen Verbindungen und Gemeinschaftsformen ermöglichen es, Vorurteile abzubauen und ein tieferes Verständnis für die Vielfalt menschlicher Lebensweisen zu entwickeln.

Mindshift Revolution: Empowerment und Diversität statt Stereotypisierungen

Die Einsicht, dass „Normalität“ eine Illusion ist und gesellschaftliche Normen kulturell geprägt sowie veränderlich sind, zwingt den Tourismussektor zur Neuorientierung. Der Megatrend der Individualisierung und die Anerkennung diverser Lebensstile lenken den Blick weg von standardisierten Urlaubsangeboten – hin zu Reisen, die sich an den individuellen Bedürfnissen und Identitäten der Reisenden orientieren.

Die Würdigung unterschiedlicher Lebensentwürfe und Identitäten verlangt auch nach einer Überarbeitung herkömmlicher Marketingstrategien. Die Tourismusbranche muss glaubhafte Ansätze finden, die individuelle Werte berücksichtigen. Empowerment und Diversität zu fördern ist zentral, um stereotype Denkmuster aufzubrechen. Dies erfordert bestehende Machtverhältnisse zu hinterfragen und einen Raum für vielfältige Stimmen und Sichtweisen zu eröffnen. Herausforderungen liegen in veralteten Denkweisen. Es benötigt mehr Offenheit für Neues.

Glocalisation: Glokale Vielfalt und die Grenzen der Globalisierung

Die Glokalisierung verbindet das Beste aus zwei Welten: eine globale Denkweise mit lokaler Wertschätzung. Sie setzt auf und fördert Kosmopolitismus, gegenseitigen Respekt – und dient als Gegenmittel gegen nationalkonservative Einstellungen und isoliertes Denken. Die Glokalisierung spiegelt das Ideal eines kulturellen und wertebasierten Austauschs wider, wie er oft im Tourismus angestrebt wird.

Die Förderung glokaler Vielfalt im Tourismus erfordert eine ausgewogene Anerkennung lokaler Besonderheiten und die Anpassung an globale Trends. Dies kann zu Spannungen führen, besonders wenn der Schutz lokaler Identitäten mit dem Bestreben, international ansprechend zu sein, in Konflikt gerät. Eine wesentliche Herausforderung ist es, Authentizität zu bewahren, ohne in Kulturalismus oder Folklorismus zu verfallen.

Vor diesem Hintergrund muss die Angemessenheit und Effektivität traditioneller Marketingstrategien im Tourismus hinterfragt werden. Werbemaßnahmen, die auf Stereotypen basieren und verzerrte Bilder von Reisezielen vermitteln, müssen kritisch betrachtet werden. Gefordert sind innovative Kommunikationsansätze, die eine direkte und persönliche Ansprache des Publikums ermöglichen.

Eco Transition: Ersatz statt Verzicht

Die Eco Transition stellt die vielleicht größte Herausforderung dar, da sie ein Umdenken in Bezug auf die Art und Weise erfordert, wie Tourismus betrieben wird. Die Fokussierung auf Ersatz statt Verzicht verlangt nach innovativen Lösungen, die es ermöglichen, die Welt zu erleben, ohne sie zu zerstören. Die Grenzen des Wachstums werden hier besonders deutlich, da jede Form des Tourismus unweigerlich einen ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Die Transformation lädt ein, sie so mitzugestalten, dass Tourismus keinen kritischen Fußabdruck hinterlässt, sondern idealerweise einen positiven Beitrag leistet. Dies erfordert ein systemisches Denken, die Einbeziehung aller lokalen Akteure und die Entwicklung langfristig wirksamer Lösungen, um eine lebenswerte Zukunft für alle zu sichern. 

Im Kontext des Klimawandels ist die Anpassung an neue klimatische Bedingungen unumgänglich. Viele beliebte Urlaubsziele leiden bereits unter extremen Wetterbedingungen wie Hitze, Dürre, Wasserknappheit, Überschwemmungen oder Schneemangel. Die Anpassung an das Klima wird daher zu einer globalen Notwendigkeit. Dies erfordert den Verzicht auf umweltschädliche touristische Praktiken und deren Ersetzung durch intelligentes Management, wobei alle Beteiligten eine entscheidende Rolle spielen und Verantwortung übernehmen müssen.

Beyond Tourism: 6 Transformationen für den Tourismus

Um tatsächlich eine „World of Travel“ neu zu definieren, bedarf es dringend des auf der ITB proklamierten gemeinschaftlichen Ansatzes. Dieser muss alle Stakeholder einschließen: von lokalen Gemeinschaften über Unternehmen bis hin zu Reisenden. Dieser Ansatz muss auf Transparenz, Dialog und dem Willen zur Veränderung basieren. Nur so kann die Tourismusbranche ihre Wachstumsgrenzen erkennen, überwinden und einen Weg einschlagen, der sowohl für die Menschen als auch für den Planeten nachhaltig ist – und so tatsächlich auf allen Beziehungsebenen einen Zukunftswert generiert.

Die Sozialwissenschaftlerin Anja Kirig beobachtet kontinuierlich gesellschaftliche Veränderungsprozesse, insbesondere in den Bereichen Sport und Tourismus sowie Gesundheit, Nachhaltigkeit und Post-Individualisierung.
In ihren Vorträgen bereitet sie die Inhalte eloquent und anschaulich auf, eröffnet Möglichkeitsräume und bietet Orientierung.

Anja Kirig als Speakerin anfragen

Wie prägen Trends wie Transformative Travel, Cross-cultural Learning oder Localism die Transformation des Tourismus? Das Future:System, die transformative Trendsystematik des Future:Project, beleuchtet diese und viele weitere Wandlungsprozesse unserer Zeit – und identifiziert dabei konkrete Gestaltungspotenziale für eine lebenswerte Zukunft.