Radikale Zuversicht

Krisen, Kriege, Katastrophen überall … Warum geht es scheinbar mit der Zivilisation den Bach runter? Ein Grund für dieses erschöpfende Jahrzehnt ist, dass wir uns mitten in einem Epochenwandel befinden!

– Ein Auszug aus dem Buch „Radikale Zuversicht: Ein Handbuch für Krisenzeiten.“

von Lena Papasabbas

Illustration: Julian Horx

4. April 2025

Das Industriezeitalter stirbt und das nächste Zeitalter ist noch nicht geboren. Keine angenehme Phase, zugegeben. Es ist eine Zeit der Krisen, der Kriege, der Umbrüche, der wegbröckelnden Normalitäten: Die fossile Wirtschaft neigt sich dem Ende zu, das Wachstumsparadigma stößt an seine Grenzen, Geschlechterrollen und ihre einst Struktur-gebende Funktion verschwimmen, das System der Nationalstaaten gerät ins Straucheln. Und neben allem anderen mischen digitale Technologien unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Arbeitswelt weiter auf.

Alte Wahrheiten und Logiken funktionieren nicht mehr, ohne dass das neue Normal schon Kontur angenommen hat.

Doch die gute Nachricht ist: Ein neues Zeitalter steht vor der Tür. Und nicht selten bedeutet ein Epochenwandel einen kulturellen Evolutionssprung. Jetzt ist es an uns, diese Zukunft aktiv zu gestalten. Dafür müssen wir bei uns selbst anfangen. Denn nur wenn wir an eine bessere Zukunft glauben, können wir den Wandel in unserem Sinne gestalten.

Die Kraft der Zuversicht

Zuversicht ist unverzichtbar, um als Individuum und als Gesellschaft zu wachsen. Und sie ist die Basis von Zufriedenheit und Lebensqualität. Die Wirkung von Vorfreude, der kleinen Schwester von Zuversicht, ist gut erforscht. Sie wirkt, als würde das Gehirn von einem gewaltigen Cocktail an Drogen überflutet. Vor allem der Botenstoff Dopamin sorgt für gute Laune, Antrieb und Motivation. So kann die freudige Erwartung des anstehenden Urlaubs einen zur beruflichen Höchstleistungen animieren. Inzwischen ist belegt, dass Vorfreude sogar Stresshormone im Körper vermindert. Zuversicht stabilisiert also nicht nur die Laune, sondern auch die Gesundheit. Umgekehrt macht Pessimismus gestresst, müde und übellaunig.

„‚Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen‘, sagte der Fuchs. ‚Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, um so glücklicher werde ich mich fühlen.‘“

– Antoine de Saint-Exupéry

Ohne Zuversicht kein Fortschritt

Nicht nur das Mental Wellbeing des Einzelnen steht auf dem Spiel. Auch wie Gesellschaften funktionieren – oder eben nicht funktionieren – ist unmittelbar mit unserer Vorstellung von Zukunft verknüpft. Zukunftsangst ist die treibende Kraft für Populismus, Hass und Gewalt. Die geteilte Vision einer besseren Zukunft ist der Motor für Revolutionen, Aktivismus und Engagement.

Diese zwei Triebkräfte können über die kulturelle Evolution einer ganzen Gesellschaft bestimmen. Die anhaltende Rebellion der iranischen Bevölkerung gegen ihr Regime zeigt eindrücklich, welche Macht ein geteiltes Bild von einer besseren Zukunft entfalten kann. Trotz unmenschlicher Repressionen, überfüllter Foltergefängnisse und drohender Todesstrafe setzen sich Menschen für mehr Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ein. Der Glaube an eine mögliche, bessere Zukunft ist der größte Feind der Diktatoren und Autokraten.

Doch genauso stark wirkt sich das Fehlen von Zuversicht aus. Der Siegeszug von AfD, Trump und anderen Rechtspopulist:innen fußt auf Zukunftsangst. Nur wer mit Sorge ans Morgen denkt, fühlt sich von den rückwärtsgewandten „Great again“-Ideologien angezogen. Ohne Zuversicht kein Fortschritt.

Erst Zuversicht macht Menschen gut.

Die Macht der Supermeme

Kulturelle Muster, die sich von Gehirn zu Gehirn fortpflanzen, erschaffen auch kollektive Zukunftsbilder. Im Zeitalter der Hypervernetzung werden sie zu mächtigen Treibern des Wandels.  – Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Lena Papasabbas

9. November 2024

Social Media und Plattformen wie Airbnb ermöglichen Einblicke in Wohnzimmer auf der ganzen Welt. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen, die quer über den Globus verteilt leben, sich für den exakt gleichen Stil entscheiden: weiße oder Backstein-Wände, rohes Holz, schicke Kaffeemaschinen, Eames-Stühle, Edison-Glühbirnen. Überall die gleiche Mischung aus Industrialismus, gepaart mit Mid-Century-Designs und einem minimalistischen Flair. Das gleiche Phänomen finden wir in Cafés und Coffee Shops, Restaurants und Hotels. Erreicht die kulturelle Evolution unter den Vorzeichen einer globalisierten und vernetzten Welt eine Art Nullpunkt in der Midculture?

Die Formen, Farben und Logos von Autos ähneln sich heute ebenso drastisch wie Homepages, Videospiele oder Skylines – egal, in welcher Stadt auf der Erde wir uns befinden. Und die neue Durchschnittlichkeit prägt auch uns Menschen selbst: Schönheitsnormen diversifizieren sich nur noch peripher, in politisch aufgeladenen Debatten um Sexismus, Fatshaming oder Rassismus. In den Feeds von Instagram und Co. findet sich eine absurde Gleichförmigkeit der Ästhetik. Das „Instagram Face“ hat es längst ins Real Life geschafft, gefüttert von der milliardenschweren Schönheitsindustrie. Immer mehr Menschen lassen sich ihre Gesichter näher an das volllippige, stupsnasige Instagram-Ideal heranoperieren. Was zuvor digital als Filter über unsere Fenster zur Welt gelegt wurde, manifestiert sich nun unter dem analogen Skalpell. 

Artikelbild Die Macht der Supermeme 1

Und nicht nur auf Instagram sind Medienprodukte heute von einer lähmenden Gleichförmigkeit geprägt. Es herrscht eine surreale Gleichschaltung des Geschmacks, die sich in immer ähnlicher werdenden Trailern, Werbefilmen, Videospielen, Filmplakaten und Buchcovern zeigt. Wirklich Originelles hat es schwer in einer Welt, in der die unendliche, leicht veränderte Wiederholung des Immergleichen dominiert. Nähern wir uns dem Age of Average an? Und warum werden unsere Umwelten immer ähnlicher?

Die andere Seite der Evolution

Eine interessante Perspektive auf das Thema bietet ein fast vergessene Theorie: Die Memetik. Die natürliche Selektion und die genetische Evolution haben unsere physischen Körper geformt und uns zu den Wesen gemacht, die wir sind: auf zwei Beinen laufend, mit zwei freien Armen und Händen – und ausgestattet mit einem riesigen Gehirn, das uns zu komplexen Fähigkeiten verhilft. Doch Menschen sind mehr als ihre Biologie: Sie sind auch bewusste Gemeinschaften, mit Sprache, Musik, Kulinarik, Kunst, Poesie, Tanz, Ritualen, Symbolik und Humor. Diese Verhaltensweisen sind Ergebnisse einer kulturellen Evolution: der Auslese, Mutation und Verbreitung von Memen. Und wie bei Genen überleben nur die „fittesten“ von ihnen.

Der Kern der memetischen Theorie basiert auf der Fragestellung, warum Menschen im Laufe der Evolution derart riesige Gehirne hervorgebracht haben, obwohl ein großes Hirn zum komfortablen Überleben nicht nur „eigentlich“ nicht nötig, sondern oft sogar hinderlich ist. Warum geht die Natur das „Risiko“ ein, 25 Prozent der Körperenergie für 1 Prozent der Körpermasse abzuzweigen? Und die Spezies zudem durch einen sehr komplizierten Geburtsvorgang zu gefährden, bei dem ein überdimensionaler Schädel einen engen Geburtskanal durchqueren muss?

Copy-Paste-Meinungen

Die Erklärung der Memetik lautet: Unser Gehirn ist eine evolutionäre Anpassung an einen Fortpflanzungsmechanismus von Ideen, Bildern, Inhalten und Träumen, die sich von Kopf zu Kopf bewegen und sich dabei unentwegt reproduzieren. Menschliche Hirne sind die massiv expandierte Hardware für eine ständig expandierende kulturelle Software. So wie bei Computern die Speicher und Grafikprozessoren ständig größer und besser werden müssen, um immer komplexere Software aufnehmen zu können, hat sich das Hirn der kulturellen Zeichenflut in Jahrmillionen angepasst.

Die memetische Theorie erklärt eine Menge Phänomene, die bislang im Dunkeln geblieben sind. Etwa die erstaunliche Konstanz, mit der sich Mythen über Jahrtausende in Kulturen halten und dabei verändern. Es gibt rote Fäden, die sich als ständig mutierende Ideen über viele Generationen fortpflanzen. In einer digitalisierten Gesellschaft beschleunigt sich der Ansteckungscharakter von starken Memen, weil immer mehr „Infektionskanäle“ dazukommen. Websites, Social Media, Apps, Chatbots und Messenger lassen die Verbreitungswege für Meme explosiv ansteigen.

Von der „Ice Bucket Challenge“ bis zu Chemtrail-Geschwurbel und hochproblematischen Überzeugungen wie „Der Klimawandel ist nur erfunden“ oder „Muslime sind gefährlich“ können sich so alle möglichen Ideen, Bilder und Kulturtechniken rasend schnell verbreiten und vergemeinschaften. Auf diese Weise erzeugen Meme Wellen von Überzeugungen, Irrtümern, Erwartungen, Hoffnungen – wie zuletzt das Supermeme Kamala Harris.

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Internet-Meme: Digitale Witze

Es ist kein Zufall, dass auch die millionenfach geteilten, humoristischen Medienschnipsel im Netz „Meme“ heißen. Meist handelt es sich um Tierbilder, Filmszenen, Animes, Cartoons, Alltags- oder Stockfotos, die durch kurze Slogans witzig bis absurd neu kontextualisiert werden. 

Nicht immer sind diese Memes für die breite Masse verständlich. Und sie können ihre Bedeutung verändern. So wurde „Pepe the Frog“, eines der erfolgreichsten Internet-Meme, das schon seit 2005 im Netz kursiert, zuerst in der Alt-Right-Bewegung populär, später eigneten es sich Aktivist:innen in Hongkong an, heute spielt es in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedliche Rollen. Die Grenze von reinen Spaß-Memen, die allein der Unterhaltung dienen, und solchen, die zur politischen Kraft werden, ist immer wieder fließend.

Viele Internet-Meme sind eine digitale Weiterentwicklung von Witzen – und damit einer speziellen Form von Memen, die bislang vor allem über orale Kultur evolvierte, durch Varianz, Mutation und Auslese. Jemand erzählt eine Geschichte mit einem seltsamen Ende, jemand anderes lacht darüber. Die Geschichte wird weitererzählt, mit einer kleinen Variation. Wieder lacht jemand, diesmal mehr – oder weniger, dann stirbt der Witz aus. So wird die ursprüngliche Geschichte variiert und reproduziert. Und schließlich wird der Witz zum Mem: zu einer geistigen Einheit, die sich in Millionen Gehirnen fortpflanzt.

Die Kraft der Nachahmung

Meme funktionieren deshalb, weil Nachahmung eine der zentralen Kräfte sozialen Verhaltens ist. Insbesondere in dem, was wir begehren, orientieren wir uns gern an anderen. Sind unsere Grundbedürfnisse erfüllt, tendieren wir dazu, das, was andere haben, sowie ihr Wollen und Streben zu imitieren (vgl. Alexiadis 2022).

In hyperindividualisierten und -vernetzten Zeiten geraten diese Prozesse nun aber zunehmend außer Kontrolle. Einerseits imitieren wir in unserer Unsicherheit, was wir als Nächstes begehren sollen, andere Menschen – andererseits wollen wir uns abgrenzen, um dem Individualitätsdiktat zu genügen. In einer Welt voller vernetzter Inhalte und Algorithmen, die uns allen immer häufiger das Gleiche zeigen und globale Standards schaffen, ist dieses Streben erst recht zum Scheitern verurteilt. Wir suchen Individualität – und erleben gleichzeitig eine Vermainstreamung unbekannten Ausmaßes.

The Age of Average: Ästhetische Gleichschaltung

Die unendlichen Verbindungslinien des Internets sind mächtige Replikationsmechanismen, die erfolgreiche Meme in extremer Geschwindigkeit global verbreiten und ins Bewusstsein einer breiten Masse tragen. Befeuert wird dieser Prozess von den Algorithmen der Künstlichen Intelligenz, die stets die wahrscheinlichste, anschlussfähigste Option aus vorhandenen Daten auswählen – und so tendenziell das Prinzip „Immer mehr vom Gleichen“ verstärken. Welche Konsequenzen hat KI damit für die Memetik und unsere kulturelle Evolution?

Von Sprachmodellen über Playlists bis zu Social-Media-Feeds: Algorithmen sind darauf trainiert, stets den passendsten Inhalt vorzuschlagen. Auf individueller Ebene ist dieser Effekt als Filterbubbling bekannt. Auf gesellschaftlicher Ebene folgt daraus eine stetige Verbreiterung des Mainstreams – und das Verschwinden von originellen und außergewöhnlichen Inhalten. Die unendliche Replikation von Ähnlichkeiten lässt eine neue Durchschnittlichkeit entstehen. Daher leben wir in einer Welt, in der wir alle stärker denn je nach Individualität streben. Und in der wir uns zugleich so ähnlich sind wie nie zuvor.

Artikelbild Die Macht der Supermeme 3

Inner Development Goals

Welche Skills braucht es, um Wandel zu gestalten?

Die Initiator:innen der Inner Development Goals (IDG) erkannten, dass wir unsere Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen werden, ohne unsere inneren Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund wurde das Framework der Inner Development Goals entwickelt.  – Ein Auszug aus dem Future:Guide Marketing

von Nina Weiss

15. Oktober 2024

„Wir haben heute die Grenzen rein externer, technokratischer Lösungen zur Lösung globaler, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme erreicht. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, braucht es einen inneren Wandel. Denn die tatsächlich größten Herausforderungen sind Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit.“ 

Diese Aussagen stammen von den Gründer:innen der Inner Development Goals, einer Initiative, die 2020 in Stockholm ins Leben gerufen wurde und innerhalb weniger Jahre zu einer globalen Bewegung wurde. Über 4.000 Wissenschaftler:innen, Expert:innen und Praktiker:innen waren daran beteiligt, darunter renommierte Professor:innen, Psycholog:innen sowie Wirtschaftsweise von MIT und Harvard wie Otto Scharmer, Robert Kegan, Peter Senge und Renée Lertzman.

Schaubild Inner Development Goals
  1. IDG: Being: Sind Sie sich Ihrer selbst und Ihrer Integrität bewusst? Stehen Sie hinter dem, was Sie kommunizieren? 
  2. IDG: Thinking: Fördern Sie in Ihrem Team kritisches, langfristiges Denken? Arbeiten Sie mit Transformationen und konstruktiven Zukunftsbildern?
  3. IDG: Relating: Setzt sich das Unternehmen tatsächlich für andere und die Welt ein? Wird diese Haltung auch von der Führungsriege gelebt?
  4. IDG: Collaborating: Wie geht das Unternehmen mit Mitbewerbern, Lieferanten und Mitarbeitern um? Herrscht ein vertrauensvoller Umgang?
  5. IDG: Acting: Macht die Marke nur Versprechungen oder steckt auch eine echte Strategie dahinter, wie sie sich für höhere Ziele einsetzt?

Warum Inner Development Goals?

Äußerer Wandel setzt inneren Wandel voraus. Die IDGs bieten ein Framework, das uns hilft, die für Transformation erforderlichen inneren Fähigkeiten besser zu erkennen, zu verstehen, zu kommunizieren, zu entwickeln und zu integrieren. Sie sind ein Skill-Set für alle, die an Transformation und Zukunft arbeiten: CEOs, Führungspersonen, Politiker:innen, Strateg:innen und Marketingverantwortliche.

Das Open-Source-Framework wird von über 3.000 Kollaboratoren ständig weiterentwickelt. Es besteht aus fünf Bereichen mit insgesamt 23 inneren Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualitäten, die aufeinander aufbauen, aber auch einzeln betrachtet werden können. Diese Skills sind für die Bewältigung komplexer Herausforderungen und für die Gestaltung von Transformationen essenziell​. Partner:inen der Initiative sind etwa die Universität Harvard sowie Firmen wie Google und IKEA. Der Zugang ist inklusiv gestaltet: Jeder kann mitmachen.

Inner Development Goals im Marketing

Die IDGs sind entscheidende Fähigkeiten, um Wandel zu gestalten. Dies gilt nicht nur für Einzelpersonen, sondern ebenso für Organisationen und besonders für Marken. Sie bieten eine Orientierung auf dem Weg zu mehr Impact und sind ein nützliches Tool für nachhaltige Markenentwicklung.

Ähnlich wie die SDGs aufzeigen, welche Wirkung ein Unternehmen nach außen hat, helfen die IDGs, zu verstehen, ob die inneren Werte eines Unternehmens zu dem passen, was es nach außen propagiert. Sie sind ein guter Gradmesser dafür, ob ein Unternehmen die nach außen kommunizierten Werte auch im Inneren lebt.

Marken können anhand der IDGs erkennen, welche Fähigkeiten schon in ihnen stecken und welche sich gut für die Kommunikation nutzen oder noch weiter ausbauen lassen. Marken, die noch am Anfang ihrer Transformation stehen, können mit den IDGs beginnen, vorhandene Potenziale und Blindspots zu analysieren und dadurch nächste Schritte identifizieren. Die IDGs zeigen Gestaltungschancen auf und können helfen, besser zu kommunizieren und langfristig erfolgreiche Strategien zu entwickeln.

Neo-Machos

Der Gegentrend zum Feminismus

Text von Tristan Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Kaum dachte man, die junge Generation bestünde aus woken Klimakleber:innen und lauter Gretas, kommt schon ein Gegentrend um die Ecke. Der Kulturkampf ist in vollem Gange – und die alten, neuen Macho-Männer feiern ein triumphales Comeback. Das hat nicht zuletzt eine massive ökonomische Dimension: Wer die Shows der aufgeregten neuen „Manfluencer“ im Netz sieht, begreift schnell, dass hier junge unsichere Männer schlichtweg ausgenommen werden. 

Was sich als Selbsthilfe für verunsicherte und vereinsamte Jungs verkauft, ist eigentlich ein beinhartes Pyramidenschema in einer neuen Farbe. Von „Wie du alle Frauen kriegst“ bis „Die moderne Frau ruiniert die Gesellschaft“ – an Misogynie mangelt es nicht. Zu den jüngsten Fortschritten in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gibt es einen hässlichen Gegentrend, der brutal-nostalgisch in die (vermeintliche) Einfachheit der Vergangenheit zurückschielt. 

Und dabei wahnsinnig erfolgreich ist.

Die Alpha-Males von TikTok

Dieser spielt sich auch in der Generation Z – der Generation TikTok – ab. Im Vergleich zu ihren Eltern haben die jungen Menschen heute statistisch weniger Sex und suchen stärker nach Sicherheit. Fast schon spießig, aber auch verständlich. Durch die Einführung von Tinder und Co. tun sich viele Jüngere schwer, romantische Liebe zu finden. Vor allem, wenn man sich der Welt der Liebe zum ersten Mal online öffnet, ist man mit einer gigantischen Konkurrenz, erbarmungsloser Kommunikation und Übermacht von Körpernormen konfrontiert, der sich viele nicht gewachsen fühlen. 

Die Oberflächlichkeit der Dating-Welt hat vor allem unter Jugendlichen zu massiven Unsicherheiten geführt. Sehen doch auf Social Media alle immer perfekt aus, während man selbst meistens eher durchschnittlich ist. Die längste Zeit waren es nur die Frauen, die „schön“ sein mussten mussten, während die Männer sich mit ihrem Einkommen einen Platz in der Liebespyramide erkaufen konnten. Doch auf TikTok oder Tinder ist für die Schmächtigen, Haarlosen und Bierbäuchigen wenig Platz. Aus den Minderwertigkeitskomplexen frustrierter Männer speist sich im Netz eine Welle von Frauenverachtung und Antifeminismus – und ein lukratives Geschäft für Neo-Machos, das aus der Vulnerabilität junger Männer Profit schlägt.

Frauenhass spitzt sich zu

Schon lange hat sich diese Gegenwelle angekündigt. Der kanadische Psychologe Jordan Peterson machte mit seinen Regel-Büchern zur männlichen Integrität schon vor Jahren Millionenauflagen. Ein beachtlicher Teil der Hip-Hop-Kultur beruht auf dem Schimpfen über Schlampen, die nur das Eine wollen. Auch im Reich der Populisten spielt die verletzte Würde der Männer eine zentrale Rolle – in Form eines hasserfüllten Antifeminismus. MeToo hat die Sache zugespitzt, bis in das Reich der Prominenten und Mächtigen hinein. Zu spüren ist dieser reverse Kulturkampf auch in der Musikbranche und bei Rockstars. Die neuen Machos haben die Front aufgebrochen und auch einige Frauen auf ihre Seite gezogen. Für Feministen ist das fürchterlich – und gerade darauf stehen wiederum die verunsicherten Männer des neuen schwachen Geschlechts.

Fehlende Vorbilder

Solch regressive Tendenzen kommen zum Vorschein, weil durch die Komplexität der Moderne nicht leicht zu navigieren ist. Wer damit nicht umgehen kann oder möchte, flüchtet in alte Extreme und verweigert die Zukunft. Die Männerwelt sucht nun wieder nach Vorbildern, was in diesen komplexen Zeiten gar nicht so einfach ist. Schwarzenegger und Co. haben ausgedient oder sind geläutert, aber die Lücke wurde noch nicht erfolgreich besetzt. Junge Männer haben eine Menge Innovationskraft. Wohin kann die nächste Runde gehen?

In den internationalen Medien geistert die Figur des „Decarbonize Bro“ herum. Männer, die sich für die Dekarbonisierung engagieren. Ganz solidarisch und untereinander verbrüdert. Weltretten als neues, edles männliches Prinzip, das auch die Frauen wieder faszinieren kann? Hippie 2.0 mit Männergemeinschaft? Mal sehen. Männlichen Status an die Bewahrung der Umwelt zu knüpfen, ist jedenfalls wesentlich konstruktiver als den chauvinistischen Influencern auf den Leim zu gehen.

Neue Freundlichkeit

Der Gegentrend zur Bösartigkeit der Gegenwart

Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Was ist das größte Problem unserer heutigen Gesellschaft? Die Ungleichheit? Die Wirtschaftslage? Die Inflation? Die Erderwärmung? Mitnichten. Es ist die Unfreundlichkeit im Alltag. Die Hassbereitschaft und Bösartigkeit in den Kommunikationen. Die Unfähigkeit, der Unwille, sich miteinander „ins Einvernehmen“ zu setzen.

Die Meckerkultur: Alles schlechtmachen. Immer dagegen sein. Andere abwerten, um sich selbst zu bestätigen. Überall das Schlechte sehen. In Rudeln hassen und verachten. Hauptgefühl Häme.

Der unsichtbare Gegentrend

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy spricht von den „Händlern des Unglücks“, die sich in unseren digitalisierten Kommunikationsformen ständig vermehren (vgl. Lévy 2023). Der deutsche Soziologe Steffen Mau berichtet von „Triggerpunkten“, auf die Menschen stark emotional reagieren und von „Polarisierungsunternehmern“, die sich immer weiter ausbreiten (vgl. Mau et al. 2023). Wenn es stimmt, dass es zu jedem Trend auch einen Gegentrend gibt, dann auch gegen diesen. Was wäre der Gegentrend zur dumpfen Negativität, zu Online-Hass und Offline-Häme?

Die Freundlichkeit. 

Gegen die Rücksichtslosigkeit in der Gesellschaft hat sich eine unsichtbare Gegenbewegung entwickelt. Sie lässt sich nicht messen oder quantifizieren. Aber immer mehr Menschen entschließen sich in einer inneren Wende, freundlich zu sein. Freundlichkeit beginnt im Verzicht auf unnützen Streit und narzisstische Meinungskriege. Sie setzt voraus, dass wir uns von einer „Front“ zurückziehen, die uns ständig in Erregungen, Vorwürfe, Negationen hineinziehen will. Meinungen loslassen. 

Und dass wir uns auf neue Weise mit anderen Menschen verbinden – und mit uns selbst.

Grundkenntnisse in Empathie

Wer freundlich sein will, muss bei sich selbst anfangen. Empathisch mit sich selbst sein. Sich selbst anerkennen und akzeptieren lernen – das ist möglicherweise die schwerste Übung. Denn der eigentliche Ursprung für die grassierende Bösartigkeit ist die Selbstablehnung. 

Der Gegentrend der neuen Freundlichkeit wird angetrieben von der Welle östlicher Philosophien und Geistestechniken, die Gelassenheit und Akzeptanz lehren. Aber er hat auch eine konservative Seite, die den menschlichen Umgang in einer Art Grund-Höflichkeit bewahren will. 

In irischen Schulen werden neuerdings Empathie und Freundlichkeit gelehrt. Der Empathie-Spezialist Pat Dolan, der das Empathie-Programm in über hundert Vorschulklassen in Irland ins Leben rief, sagte in einem Interview mit der Irish Times: „Es ist genauso wichtig, wie Mathematik oder Englisch zu lernen. Ich würde sogar noch weiter gehen: Der Weg, den die Gesellschaft heute geht – nicht nur in Irland, sondern global –, ist davon abhängig, wie wir Empathie lernen und leben“ (vgl. O’Brien 2020).

Austausch mit Ungleichgesinnten

Im deutschsprachigen Raum versuchen immer mehr konstruktive Medien, etwa Krautreporter oder Perspective Daily, polarisierende Diskurse in lösungsorientierte Debatten zu verwandeln. DIE ZEIT organisiert seit vielen Jahren „freundliche Begegnungen“ zwischen Fremden aus verschiedenen politischen Lagern und unterschiedlichen Kulturen: Bei der Initiative „Deutschland spricht“ treffen sich jährlich Tausende Menschen zum freundlichen Streitgespräch. Mithilfe einer Matching-Software werden sie in einen Austausch mit einer Person vermittelt, die völlig gegensätzlich denkt.

Freundlichkeit ist mehr als Höflichkeit. Der englische Begriff kindness trifft besser, worum es eigentlich geht. To be kind bedeutet eine bestimmte Form von Güte. Sie besteht in einer Zugeneigtheit zum anderen, zur Welt, zu den Ideen, den Lebenslagen, den Wirklichkeiten, die uns umgeben. Und vor allem zu sich selbst.

Literatur

Lévy, Bernard-Henri (2023): Mein Frankreich, mein Albtraum. Gastbeitrag – Krawalle in Frankreich. In: tagesanzeiger.ch, 5.7.2023

Mau, Steffen / Lux, Thomas und Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin

O’Brien, Carl (2020): Empathy in Education: ‚It’s just as important as learning maths‘. In: irishtimes.com, 23.1.2020

Mut zum Mittelmaß

Der Gegentrend zum Besonderssein um jeden Preis

Text von Lena Papasabbas | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Einzigartigkeit hat das Normale oder gar Gewöhnliche als erstrebenswerte Ideale abgelöst. Die Verbreitung des Internets, die rasante Globalisierung und vielseitige kulturelle Gegenbewegungen haben uns in eine Ära geführt, in der Standards und Normalität an Attraktivität verloren haben. Man orientiert sich nicht mehr am Allgemeinen, sondern am Besonderen. 

Selbstentfaltung ist zur Lebensaufgabe des modernen Individuums geworden. Wer sein ganz eigenes, besonderes Potenzial nicht ausschöpft, ist selbst schuld. Auch Konsumgüter, Umgebungen und Erlebnisse dürfen nicht mehr gleichförmig sein. Nichts ist unattraktiver als Industrieware von der Stange, Einrichtung wie aus dem Katalog oder Pauschalurlaub am Mittelmeer. Das Comeback des handgefertigten, authentischen Unikats oder der massenhaften „Individualreisenden“ erklärt sich durch dieses Streben nach dem Besonderen. 

Prestige ist nur noch in der Individualität zu erreichen – sei es die individuelle Spitzenleistung, eine einzigartige Kreativität, außergewöhnliche Ideen oder ein ganz eigener Stil.

Für dieses mitunter anstrengende Unterfangen stehen dem Individuum heute eine schier endlose Reihe von Produkten, Dienstleistungen, Ratgebern und eine Armee von Beratungsangeboten, Optimierungs-Apps und Coaches zur Verfügung. Die Anzahl der Branchen, die ausschließlich daran verdienen, Menschen in ihrer Selbstentfaltung und -optimierung zu unterstützen, ist immens. 

Dieses Streben nach dem Besonderen ist jedoch vor allem eines: anstrengend. Die verzweifelte Suche nach der eigenen Authentizität endet nicht selten in der ernüchternden Erkenntnis, dass viele andere die gleichen Urlaubsorte besucht, die gleichen Namen für ihre Kinder ausgewählt und die gleichen Songs in ihren Playlists gespeichert haben. Die ständige Abgrenzung und Inszenierung der eigenen Einzigartigkeit verschlingt viel Energie und birgt ein hohes Frustrationspotenzial.

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Zum Glück steht der Gegentrend bereits in den Startlöchern: Das Comeback des Gewöhnlichen entsteht aus einer Weigerungshaltung, manchmal auch aus Resignation. Es zeigt sich in vielen Facetten: Immer mehr Menschen wenden sich von den Selbstinszenierungsmaschinen Facebook und Instagram ab, tragen absolut nicht-aussagekräftige Normcore-Kleidung, feiern ungehemmt die größten Mainstream-Produkte der Medienwelt wie Harry Potter oder Game of Thrones. Statt sich auf der Suche nach dem neuen Underground-Label zu verlieren, trägt man heute Lidl-Klamotten; statt sich mit garantiert unbekannten Newcomer-Bands zu brüsten, hört man Taylor Swift und Justin Bieber; statt ausgefallenen Foodtrends serviert man den Gästen Bananenbrot zum Filterkaffee…. statt ständig das ureigene Potenzial zu entfalten, feiert man die eigene Durchschnittlichkeit.

Diese neue Bodenständigkeit hat keine Lobby und keinen Namen. Sie entsteht als natürliche Gegenreaktion auf die überhöhten Ansprüche an das eigene Leben. Die neuen Normalos haben keine Lust mehr auf die ewige Abgrenzung von der Masse. Sie zelebrieren ihre Gewöhnlichkeit – und befreien damit auch alle anderen ein kleines bisschen.