Inner Development Goals

Welche Skills braucht es, um Wandel zu gestalten?

Die Initiator:innen der Inner Development Goals (IDG) erkannten, dass wir unsere Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen werden, ohne unsere inneren Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund wurde das Framework der Inner Development Goals entwickelt.  – Ein Auszug aus dem Future:Guide Marketing

von Nina Weiss

15. Oktober 2024

„Wir haben heute die Grenzen rein externer, technokratischer Lösungen zur Lösung globaler, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme erreicht. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, braucht es einen inneren Wandel. Denn die tatsächlich größten Herausforderungen sind Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit.“ 

Diese Aussagen stammen von den Gründer:innen der Inner Development Goals, einer Initiative, die 2020 in Stockholm ins Leben gerufen wurde und innerhalb weniger Jahre zu einer globalen Bewegung wurde. Über 4.000 Wissenschaftler:innen, Expert:innen und Praktiker:innen waren daran beteiligt, darunter renommierte Professor:innen, Psycholog:innen sowie Wirtschaftsweise von MIT und Harvard wie Otto Scharmer, Robert Kegan, Peter Senge und Renée Lertzman.

Schaubild Inner Development Goals
  1. IDG: Being: Sind Sie sich Ihrer selbst und Ihrer Integrität bewusst? Stehen Sie hinter dem, was Sie kommunizieren? 
  2. IDG: Thinking: Fördern Sie in Ihrem Team kritisches, langfristiges Denken? Arbeiten Sie mit Transformationen und konstruktiven Zukunftsbildern?
  3. IDG: Relating: Setzt sich das Unternehmen tatsächlich für andere und die Welt ein? Wird diese Haltung auch von der Führungsriege gelebt?
  4. IDG: Collaborating: Wie geht das Unternehmen mit Mitbewerbern, Lieferanten und Mitarbeitern um? Herrscht ein vertrauensvoller Umgang?
  5. IDG: Acting: Macht die Marke nur Versprechungen oder steckt auch eine echte Strategie dahinter, wie sie sich für höhere Ziele einsetzt?

Warum Inner Development Goals?

Äußerer Wandel setzt inneren Wandel voraus. Die IDGs bieten ein Framework, das uns hilft, die für Transformation erforderlichen inneren Fähigkeiten besser zu erkennen, zu verstehen, zu kommunizieren, zu entwickeln und zu integrieren. Sie sind ein Skill-Set für alle, die an Transformation und Zukunft arbeiten: CEOs, Führungspersonen, Politiker:innen, Strateg:innen und Marketingverantwortliche.

Das Open-Source-Framework wird von über 3.000 Kollaboratoren ständig weiterentwickelt. Es besteht aus fünf Bereichen mit insgesamt 23 inneren Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualitäten, die aufeinander aufbauen, aber auch einzeln betrachtet werden können. Diese Skills sind für die Bewältigung komplexer Herausforderungen und für die Gestaltung von Transformationen essenziell​. Partner:inen der Initiative sind etwa die Universität Harvard sowie Firmen wie Google und IKEA. Der Zugang ist inklusiv gestaltet: Jeder kann mitmachen.

Inner Development Goals im Marketing

Die IDGs sind entscheidende Fähigkeiten, um Wandel zu gestalten. Dies gilt nicht nur für Einzelpersonen, sondern ebenso für Organisationen und besonders für Marken. Sie bieten eine Orientierung auf dem Weg zu mehr Impact und sind ein nützliches Tool für nachhaltige Markenentwicklung.

Ähnlich wie die SDGs aufzeigen, welche Wirkung ein Unternehmen nach außen hat, helfen die IDGs, zu verstehen, ob die inneren Werte eines Unternehmens zu dem passen, was es nach außen propagiert. Sie sind ein guter Gradmesser dafür, ob ein Unternehmen die nach außen kommunizierten Werte auch im Inneren lebt.

Marken können anhand der IDGs erkennen, welche Fähigkeiten schon in ihnen stecken und welche sich gut für die Kommunikation nutzen oder noch weiter ausbauen lassen. Marken, die noch am Anfang ihrer Transformation stehen, können mit den IDGs beginnen, vorhandene Potenziale und Blindspots zu analysieren und dadurch nächste Schritte identifizieren. Die IDGs zeigen Gestaltungschancen auf und können helfen, besser zu kommunizieren und langfristig erfolgreiche Strategien zu entwickeln.

The Future of Marketing

Die Blütezeit des Marketings ist vorbei. Von KI-Bots über Content-Offensiven bis zum Einkauf von Influencer:innen – die digitale Welt hat die Optionen vertausendfacht, aber auch das Grundrauschen ins Unermessliche gesteigert. Wir werden von Markenbotschaften praktisch erschlagen. Markentreue schwindet. Das Misstrauen wächst. Wie kann eine zukunftsfähige Form des Marketing aussehen?  – Ein Auszug aus dem Future:Guide Marketing

von Lena Papasabbas

15. Oktober 2024

Die Transformationen, Krisen und Umbrüche des 21. Jahrhunderts stellen Marken vor völlig neue Herausforderungen. Zwar wurden Marken schon immer von gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt, diese waren jedoch meist evolutionärer Natur, wie die Digitalisierung, Globalisierung oder Individualisierung. Heute finden sich Marken in einem Umfeld, das geprägt ist von unberechenbaren Umbrüchen und Dynamiken. Es sind transformative Zeiten.

Zwischen Misstrauen und Überfluss

Während sich das gesellschaftliche Gefüge verschiebt, finden sich Unternehmen in einer Welt wieder, in der die Markentreue rasant schwindet – insbesondere bei den jüngeren Generationen. Das liegt zum einen an einem wachsenden Misstrauen gegen Unternehmen und ihren Marketingaktivitäten. Zum anderen an dem Überangebot an Markenerfahrungen, das die Menschen geradezu überflutet. 

Immer häufiger treten neue, bewegliche Unternehmen auf den Markt (und verschwinden wieder), denen es gelingt, spezielle Bedürfnisse und Trends schnell und punktgenau zu besetzen. Je mehr die Bedeutung etablierter Marken bei der Kaufentscheidung sinkt, desto härter wird der Kampf um Aufmerksamkeit ausgefochten. Das meist auf immer mehr Kanälen und mit immer besserer Datengrundlage. Die Sorge, einen möglicherweise relevanten Kanal zu verpassen, nicht auf dem neuesten Stand der technologischen Möglichkeiten zu sein oder zu spät auf den nächsten Social-Media-Trend zu reagieren, wächst. Häufig führt das allerdings zu kurzsichtigen Reaktionen und nicht selten versanden Marketingbudgets wirkungslos im digitalen Raum.

Markentreue schwindet

Eine omnigechannelte Dauererregung und Reizüberflutung lassen vor allem die Masse an Marketingbotschaften weiter anwachsen – und damit auch die Skepsis und Genervtheit der Konsumierenden. Das Resultat ist eine steigende Immunität gegen Markenbotschaften und Werbeversprechen und ein Anwachsen der Kluft zwischen eigentlich gewünschten und tatsächlichen Kundenerfahrungen und -erlebnissen. 
Guter Content gilt hier als die Superkraft im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Verbindung zu den Inhalten und dem eigentlichen Produkt oder der Dienstleistung wird immer loser und löst sich teilweise ganz auf. Viele Unternehmen tappen in die Reichweite-Falle: Selbst wenn die Kampagne auf YouTube oder Instagram viral geht, bleibt der mediale Erfolg häufig ohne echte ökonomische Wirkung.

Zwischen Datenbergen & KI

Angesichts des dynamischen Spannungsfelds, in dem sich Marken heute bewegen, wird es immer schwieriger, die richtige Marketingstrategie zu finden. Trends lösen sich immer schneller gegenseitig ab. Oder sie werden von mächtigen Gegentrends sofort wieder überrumpelt. Die Datenberge zu Konsum- und Userverhalten wachsen, während technologische Möglichkeiten durch KI explodieren. Nie hatten Unternehmen mehr Möglichkeiten und Wege, herauszufinden, was „der Kunde“ will. 

Doch die Zielgruppen-Analyse wird nicht selten zum Verhängnis. Zum einen sorgen KIs, ähnliche Datengrundlagen und Testing-Verfahren dafür, dass sich Markenwelten immer mehr ähneln. Zum anderen bleiben Menschen trotz aller KI und Big Data überraschend unberechenbar. In diesem Spiel gewinnt nicht selten, wer mutig vorangeht und etwas anderes wagt.

Vom Sinnverlust zum Purpose Overflow

Große Erfolge haben zuletzt vor allem Marken gefeiert, die auf einem stabilen Wertegerüst aufbauen. Dass Haltung und Verantwortung für die Positionierung von Marken immer wichtiger werden, ist auch im Mainstream angekommen. Die eigene Marke mit Werten aufzuladen gehört inzwischen zum guten Ton. Doch auch hier führen angstgetriebene Überreaktionen zu einer Art „Purpose Overflow“: Kraftvolle Worte wie „Vision“, „Mission“ oder sogar „Liebe“ werden heute inflationär gebraucht. Purpose-Deklarationen gehören heute zum festen Teil eines jeden Unternehmensauftritts – und werden dadurch auch immer inhaltsleerer. Mehr als ein grüner – oder regenbogenfarbener – Anstrich steckt selten hinter den hochtrabenden Haltungs-Statements. Dabei ist eine konsequent gelebte Haltung der beste Schutz gegen Shitstorm und Imageverlust. 

Der wahre Wettbewerbsvorteil für zukunftsfähiges Marketing ist nicht das neueste KI-Tool und auch nicht noch mehr Brand Awareness auf noch mehr Kanälen, sondern eine klare Vorstellung der eigenen Rolle im Kontext gesellschaftlichen Trend- und Wertedynamiken. Nur Unternehmen die ein konkretes Zukunftsbild in sich tragen, eine Vision von Zukunft in der sie selbst gestaltend teilhaben, können dieses authentisch nach außen (und nach Innen) vermitteln. Diese authentische Verbindung von Innen und Außen wird zur Hauptaufgabe des Marketing der Zukunft.

Transform or Fade

Um selbst als Akteure des Wandels zu agieren, brauchen die Brand- und Marketingmanager:innen von morgen sowohl ein tiefes Verständnis für die großen Transformationen unserer Zeit als auch der menschlichen Bedürfnisse und Vergemeinschaftungsprinzipien. Um die Rolle, die das eigene Unternehmen in diesen komplexen Veränderungen spielt und spielen möchte, zu identifizieren und konsequent zu verfolgen, hilft die Entwicklung einer langfristigen Meta-Strategie, die an bereits wirkende gesamtgesellschaftliche Transformationen anknüpft. Vier zukunftsweisende Meta-Strategien stellen wir in unserem Future:Guide „Marketing“ vor. Sie dienen als leitende Rahmenerzählungen und Anknüpfungspunkte für die Entwicklung der individuellen Marken- und Marketingstrategie.

Denn Marken müssen zukünftig ganzheitlich gedacht werden. Die Konsistenz von innen und außen einer Marke wird unabdingbar: Markenerlebnis und Unternehmensverhalten verschmelzen, die Führungskultur wird unmittelbar markenrelevant, Mitarbeitende werden zu Markenbotschafter:innen. Alles, was mit einem Unternehmen zu tun hat, zahlt auf eine universelle Markenerfahrung ein, die Menschen fühlen, erinnern und teilen. Als kollektive Idee und erlebbares Anliegen erzählt die Marke von morgen keine Vision mehr – sie ist selbst Teil der Transformation.

Webinar zum „Future:Guide Marketing“

Mit dem „Future:Guide Marketing“ zeigen wir Wege für Marken von morgen auf. Durch umfassende Strategien, Impulse und Handlungsempfehlungen bietet diese Publikation eine Orientierung für Markenverantwortliche in einer Markenwelt im Umbruch.

In unserem Webinar vom 20. November 2024 geben wir Ihnen einen Einblick in unseren Future:Guide Marketing. In Form von Deep Dives tauchen wir gemeinsam mit Nina Weiss, Expertin für Transformations- und Impact Marketing, in verschiedene Bereiche nachhaltiger und transformativer Markenführung ein. Begleitet von zahlreichen Impulsen und Handlungsempfehlungen für die Praxis, bietet dieses Webinar diverse Ansatzpunkte für die Arbeit an und mit Ihrer Marke – auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft.

Startfolie Webinar Future:Guide Marketing von The Future:Project

Melden Sie sich jetzt für unseren kostenlosen Future:Letter an, um die Aufzeichnung vom Webinar zu erhalten.

Slownovation

Der Gegentrend zum digitalen Hyper-Innovationismus

Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

„Wir leben in einem Zeitalter der rasenden disruptiven technischen Innovation!“ – So könnte jedes beliebige Beratungsgespräch, jede Rede auf jeder Business-Konferenz beginnen. Was aber, wenn das nichts als Business-Bullshit wäre?

Nehmen wir einmal an, der jüngste Super-Coup des Digitalen wäre einfach nur ein Hype. Klar, Künstliche Intelligenz kann in der Forschung, in der Prozesssteuerung, in bestimmten datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber stellen Sie sich vor, die generative KI, die derzeit überall als das große Zukunfts-Ding gefeiert wird, wäre nichts als eine Angstblüte der IT-Industrie, die verzweifelt eben jenes nächste „große Ding“ sucht. Nehmen wir an, die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – Fusionsenergie, Quantencomputer und eben die superintelligente KI –, wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme. 

Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.  

Der Hype-Innovation-Speak

Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Bestseller The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation, weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit. Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Dieser „Hype-Innovation-Speak“ kann nur zu Enttäuschungen führen, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen. Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie muss nicht herbeigeredet werden, weil sie, wenn auch leise, meist klar messbar ist. Und: Sie entwickelt sich graduell und nicht mit einem großen Knall. 

Vinsel und Russell betonen, dass die Welt, in der wir leben, nicht durch dauernd neue Dinge funktioniert. Sondern zu einem sehr großen Teil durch Erhaltung, Wartung, Pflege, Integration und langsame Verbesserung.

Realismus statt Innovationismus

Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere. Einer wahren Anbetung des Disruptiven. 

Ein wilder Traum, aus dem wir nun langsam erwachen. Zumindest reiben wir uns häufiger die Augen und fragen uns, ob wirklich jede Innovation unser Leben verbessert. Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, das WLAN funktioniert nicht. Fluggesellschaften sind unerreichbar, und die digitale ID ist unheimlich kompliziert. Der Server im Büro stürzt ständig ab und die smarte Kaffeemaschine hat schon wieder einen Defekt. Und wenn die Stereoanlage den Geist aufgibt, muss man sie wegschmeißen. Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus verlorenen Passwörtern und umständlichen Eingaben verwandelt. Statt schneller wird vieles langsamer.

Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz werden. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in  „Techno-Solutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“.

Slownovation: Jenseits der Disruption

Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit technischem Systemwissen, Care-Arbeiter:innen, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter ständigem Statusverlust. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten, gelten sie als Problem. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.

Menschen, die die alltäglichen Zusammenhänge verstehen, die mit ihren Händen konkrete Arbeit verrichten und dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Dieser Erwartungsüberschuss belohnt unentwegt diejenigen, die mit Illusionen handeln. Und erniedrigt jene, die mit Realitäten umgehen und unsere Welt am Laufen halten. 

Future Skills

Die Renaissance der Aufmerksamkeit

Individuelle Zukunfts-Skills bringen uns nicht weiter: Es ist an der Zeit, ein neues gesellschaftliches Verständnis von Aufmerksamkeit zu entwickeln.

von Nina Pfuderer

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Beyond 2024 – Das Jahrbuch für Zukunft“

5. Dezember 2023

Imperativ Potenzialentfaltung

Die hyperindividualisierte, digitalisierte Wissensgesellschaft ist von einem mächtigen Imperativ geprägt: Entfalte dein Potenzial! Potenzialentfaltung und Selbstoptimierung sind die scheinbar logische Konsequenz einer immer individualisierteren Gesellschaft und einer Wirtschaft, die sich dem Wachstum verschrieben hat. 

Wissen ist heute zugleich zugänglicher und vergänglicher denn je. Und je weniger sich die Zukunft durch das Wissen über die Vergangenheit bewältigen lässt, umso mehr verliert die pure Aneignung von Wissen und Fachkompetenzen an Bedeutung. Als Antwort auf die maschinelle Automatisierung durch Künstliche Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die menschliche Intelligenz und auf genuin humane Fähigkeiten. Diese werden unter einem neuen Namen verhandelt: Future Skills.

Sei wie ein Grashalm, sei wie ein Baum

Je vielfältiger, komplexer und abstrakter die Palette der Future Skills wird, umso mehr klingen sie mitunter wie Plastikwörter. Und alle zielen letztlich darauf ab, sich bestmöglich anzupassen an eine unsichere, sich rasend schnell verändernde Welt. Frei nach dem Motto: Sei wie ein Grashalm, dann kann dir nichts passieren, dann tut dir auch die schlimmste Krise nichts! Zugegeben, Grashalme sind sehr gut gerüstet für Sturmböen und starke Winde. Aber in einer Dürre sind sie schnell vertrocknet, ihre Wurzeln sind nicht so tief, dass sie auch nur in die Nähe von Grundwasser gelangen. In einer Flut werden sie weggespült und mitgerissen.

Vielleicht wäre deshalb das Bild des Baumes eine Alternative, um über Future Skills nachzudenken. Bäume haben ein dichtes, tiefreichendes Wurzelgeflecht, das als Anker dienen kann. Mit Blättern, die Photosynthese praktizieren und sich ziemlich gut selbst versorgen. Natürlich gibt es auch Krisen, die dem Baum etwas anhaben können – Brände, Blitzschläge, Borkenkäfer, Menschen. Doch der Baum ist nicht darauf ausgelegt, sich schnellstmöglich anzupassen, sondern auf ein langfristiges Überleben in sich wandelnden Umgebungen.

Baum und Grashalm haben also vor allem in zeitlicher Hinsicht ganz andere Skill-Sets. Während der Grashalm Fähigkeiten wie agiles Arbeiten, Adaptivität und Flexibilität symbolisiert, steht der Baum, der mehrere Hundert Jahre alt werden kann, für ein langfristig ausgerichtetes Denken und Handeln. Die Future Skills des Baumes verweisen auf die Konzentrations- und Empathiefähigkeit, auf das Schenken von Aufmerksamkeit, auf das Zuhörenkönnen. Auf die Fähigkeit des Zweifelns und Entscheidens. Auf die abwägende Risikokalkulation.

Renaissance der Aufmerksamkeit

In Zeiten der fortgeschrittenen Aufmerksamkeitsökonomie, in der Unternehmen für Millisekunden Watchtime bezahlen, wo von überallher Push-Notifications, Blings und Pings aufpoppen und mit der Stitch-Funktion auf TikTok sogar zwei Videos gleichzeitig abgespielt werden, um die Aufmerksamkeit der Zuschauenden so lang wie möglich zu halten – in diesen Zeiten ist es kein Wunder, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird. Und dass wir verlernt haben, anderen Menschen Geduld, Zugewandtheit und Empathie zu schenken. Was wir deshalb brauchen, ist die Kompetenz einer grundlegenden Freundlichkeit.

Was wäre also, wenn wir uns wieder stärker auf jene grundlegenden Kompetenzen konzentrieren, die wirklich zukunftsfähig sind, weil sie uns in Krisen tatsächlich weiterbringen? Die uns einzuschätzen helfen, ob eine Krise wirklich eine Krise oder gar eine Katastrophe ist – oder vielleicht sogar eine Chance für Veränderung? 

Das Problem der fehlenden Aufmerksamkeit für andere wurzelt in Wirtschaftslogiken, die auf Analytik und Effizienz getrimmt und nicht empathiefähig sind. Geboren und groß gemacht hat es eine Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass in der Schublade hat verstauben lassen. Im übermächtigen Streben nach Potenzialentfaltung und Selbstoptimierung, bei all dem Upskilling und Reskilling, vergessen wir oft, dass Kompetenzen sich erst im Miteinander richtig entfalten. 

Was wir in Zukunft brauchen, um als Zivilisation zu bestehen, ist eine gesellschaftliche Charakterbildung: weg von egozentrierten, impulsiven Entscheidungen, hin zum aktiven Zuhören, Nachfragen, dem wirklichen Interesse für andere. Wenn wir uns darauf konzentrieren, diese Fähigkeiten (wieder) zu erlernen, zu kultivieren und weiterzuentwickeln – im „Kleinen“, als einzelne Individuen, wie im Großen, im Bildungs- und Wirtschaftssystem –, dann werden wir auch in unsicheren und volatilen Zeiten fest verankert sein. Denn dann haben wir Wurzeln, die uns auch in Krisenphasen erden.

Von der Great Resignation zur Great Motivation

Die Arbeitswelt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel: In der Conscious Economy werden Wert und Bedeutung von Arbeit grundsätzlich neu definiert. Veraltete Leitbilder der Arbeitsgesellschaft lösen sich auf und werden durch neue Ideale ersetzt. Sie ebnen den Weg in die Great Motivation.

von Judith Block

10. Oktober 2023

Proteste für bessere Arbeitsbedingungen begleiteten bereits die Geschichte der Industrialisierung und durchziehen die Entstehung moderner Arbeitsverhältnisse. Während Gewerkschaften und Arbeiter:innen im 19. und 20. Jahrhundert zumeist im lautstarken Streik die Grundlagen für die gegenwärtige Arbeitswelt erkämpften, vollzieht sich heute ein vergleichsweise stiller Umbruch – der aber mindestens ebenso einschneidend ist. 

Weltweit streiten Angestellte heute nicht mehr nur mit Vorgesetzten um mehr Gehalt, bessere Entwicklungschancen oder geringere Arbeitsbelastung. Sie nutzen ein rabiateres Mittel: die Kündigung, die laut oder leise vonstatten gehen kann. Die „Great Resignation“, das Phänomen des protestierenden Nichtstuns, beginnt mit der Ablehnung des gegenwärtigen Arbeitssystems. So wie das Phänomen des „Lying Flat“, das Niederlegen der Arbeit, basiert auch das „Quiet Quitting“ auf der Verweigerung, sich dem ungebremsten Produktivitätszwang der Leistungsgesellschaft anzuschließen: Der Job dient dem Erhalt des Lebensstandards, erledigt werden aber nur noch die Aufgaben, die im Arbeitsvertrag festgehalten sind und entsprechend entlohnt werden. 

Die Verwerfungen der Great Resignation umfassen allerdings mehr als nur die Krise der heutigen Arbeitswelt. Sie weisen auf neue Ansprüche hin – und stärken zugleich eine künftige Arbeitskultur der „Great Motivation“.

Arbeitszeit ist Lebenszeit

Die Rolle und der Stellenwert von Arbeit werden immer wieder neu verhandelt. Lange Zeit prägte die Erzählung der Work-Life-Balance im Sinne einer strikten Trennung von Arbeit und Freizeit unser Verständnis von einem ausgewogenen Lebensstil. Die rasante Vernetzung und Technologisierung vieler Arbeitsbereiche und zuletzt die Auswirkungen der Coronapandemie ließen diese Lebensbereiche jedoch verschmelzen: Das sogenannte Work-Life-Blending erzählt von einem parallelen Umgang mit Arbeit und Freizeit im Alltag. 

Das Phänomen der Great Resignation signalisiert nun eine weitere radikale Umwälzung unseres Verständnisses von Arbeit. Es reflektiert nicht nur die Abkehr von traditionellen Arbeitsstrukturen, sondern eine tiefgreifende Veränderung in den Werten und Prioritäten der Arbeitskräfte: Arbeit wird nun als etwas gesehen, was sich gut in das restliche Leben integrieren lassen muss. Diese Vorstellung von Arbeit als nur einem von vielen Aspekten des Lebens verbreitet sich zunehmend in unserer Arbeitskultur. Im Brennpunkt dieses Umbruchs stehen zwei zentrale Merkmale von Arbeit: Arbeitsort und Arbeitszeit.

Unterstützt durch digitale Technologien verlieren viele Berufe ihre Bindung an bestimmte Orte. Ob Hybrid Work, Remote Work oder Workation – das ortsunabhängige Arbeiten verändert die gesamte Organisation des Alltags und unser Verständnis von Räumen der Arbeit. Das Homeoffice erfordert einen ruhigen und gut ausgestatteten Arbeitsplatz in den eigenen vier Wänden. Zugleich ermöglicht es durch den wegfallenden Arbeitsweg eine flexiblere Integration der Arbeit in den Alltag. Büros erhalten dadurch langfristig neue Funktionen und müssen sich veränderten Ansprüchen stellen. Dabei geht es um viel mehr als Tischkicker, Obstkörbe oder schicke Sofalandschaften, sondern um grundlegende Fragen der Raumgestaltung: Wie können Austausch und Resonanzerfahrungen gefördert werden, damit Menschen gern ins Büro kommen?

Gleichzeitig äußert sich die veränderte Bedeutung von Arbeit auch in der Zeit, die wir dafür aufbringen wollen. Die Vier-Tage-Woche steht stellvertretend für viele aktuelle Phänomene, die eine Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen und den steigenden Wert von Freizeit aufzeigen. Doch nicht nur die Frage, wann wir arbeiten, beeinflusst die Arbeitskultur von morgen, sondern auch die Frage, wie wir unsere Zeit am Arbeitsplatz gestalten – und wie wir sie ganzheitlich in unser Leben integrieren. 

Streben nach Sinn

Arbeit ist künftig mehr als zeitintensiver Broterwerb. Sie richtet sich nach neuen Idealen aus, die neben finanzieller Sicherheit und fairen Gehältern auch soziale Werte umfassen. Immer stärker formulieren Arbeitnehmer:innen ihren Wunsch nach einer sinnvollen Tätigkeit, die Raum zur Selbstentfaltung bietet und die Gesundheit der Mitarbeitenden nicht vernachlässigt. Wertschätzung und Anerkennung sind zentrale Leitmotive dieser Forderungen. 

Dafür muss die traditionelle Gleichsetzung von Arbeit mit klassischer Lohnarbeit aufgelöst werden. Insbesondere freiwilliges Engagement erfüllt oft ein Sinnbedürfnis, das während der Lohnarbeit häufig vermisst wird. Gerade in diesem zivilen Engagement, das über die Erwerbsarbeit hinausreicht, erzeugt Arbeit im weiteren Sinne eine besondere Form des sozialen Kitts und der Resilienz. Gesellschaften leben davon, dass Menschen durch verschiedene freiwillige, ehrenamtliche Tätigkeiten mit ihrem sozialen Umfeld in Resonanz treten und gemeinschaftliche Strukturen aufbauen. 

Die aktuelle Sinnkrise der Arbeitswelt sorgt dafür, dass wir unterschiedlichste Formen von Arbeit künftig gleichwertig anerkennen und fördern.

In unserer gegenwärtigen Arbeitswelt werden ehrenamtliche Tätigkeiten durch die vergütete Arbeitszeit noch oft an die Randstunden des Tages verdrängt. Auch die gesellschaftliche Funktion von Care-Arbeit, etwa in Form von Kinderbetreuung, Krankenpflege oder häuslicher Arbeit, bleibt bislang meist unterbewertet und schlecht entlohnt – was nicht zuletzt geschlechtsspezifische Ungleichheiten schürt. Die aktuelle Sinnkrise der Arbeitswelt sorgt dafür, dass wir diese verschiedenen Formen von Arbeit künftig als gleichwertig anerkennen und fördern.

Alles ist Arbeit?

Die Vorteile eines breiter gefassten Arbeitsbegriffs liegen auf der Hand. Durch die Anerkennung von zivilgesellschaftlichem Engagement werden vor allem jene Tätigkeiten unterstützt, die gesellschaftlichen Mehrwert bieten. Sinnvolle Arbeit wirkt sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene positiv aus, indem sie das eigene Selbstbewusstsein und die soziale Eingebundenheit stärkt. Die Pflege von Angehörigen oder die Unterstützung lokaler Vereine könnten durch neue gesellschaftliche Lösungsansätze endlich eine angemessene Wertschätzung erhalten – zum Beispiel, indem ehrenamtliche Tätigkeiten auf die Lebensarbeitszeit angerechnet werden.  

Auch für Unternehmen eröffnen sich in diesem Prozess neue Chancen. Eine Reduzierung der Wochenstundenzahl zugunsten einer ehrenamtlichen Tätigkeit geht nicht unbedingt mit einem Produktionsverlust einher, sondern wirkt sich häufig positiv aus. So entwickeln Beschäftigte, die in unterschiedlichsten Kontexten tätig und aktiv sind, nützliche Kompetenzen zur Problemlösung und gemeinschaftlichen Arbeit. Erst recht, wenn nach der Arbeit genügend Zeit zur Regeneration bleibt. Arbeitgeber:innen stehen künftig vor der Herausforderung, Arbeitskulturen zu schaffen, die Raum für sinnvolle Aufgaben bieten und ein gesundes Arbeitsumfeld fördern. 

Wenn wir Arbeit als Teil eines umfassenden Strebens nach Lebensqualität betrachten, können wir den traditionellen Arbeitsbegriff aus seinem Korsett befreien.

Indem wir Arbeit als Teil eines umfassenden Strebens nach Lebensqualität begreifen und Gesundheit als ganzheitliches Konzept betrachten, bricht der traditionelle Arbeitsbegriff aus seinem gegenwärtigen Korsett aus. Vielfältige Formen der Arbeit und des Engagements fordern und treiben flexible Arbeitsmodelle und faire Entlohnungen gleichermaßen voran. Auf diese Weise ebnen die stillen Proteste der Great Resignation den Weg zur Great Motivation: zu einem neuen Verständnis von Arbeit, das durch den Sinngehalt der insgesamt geleisteten Arbeit angetrieben wird.


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