Kunst, KI und die Rückkehr der Romantik

Generative Künstliche Intelligenz kann heute Formen schaffen, die nicht von menschengemachter Kunst zu unterscheiden sind. Wird die Idee, nur der Mensch könne Kunstwerke schaffen, nun obsolet? Im Gegenteil.

von Christian Schuldt

23. Juli 2024

Kunst, KI und die Rückkehr der Romantik

Dass Künstliche Intelligenz uns Menschen bereits in vielen Feldern überholt hat, von Sprachverarbeitung bis zu medizinischer Prognostik, ist längst ins kollektive Bewusstsein eingesickert. Doch wie steht es um die algorithmischen Fähigkeiten, etwas zu erschaffen, das seit jeher als genuin menschlich konnotiert ist – nämlich Kunst? Spätestens seit April 2023 scheinen sich auch hier die Grenzen aufzulösen. Damals erhielt der deutsche Künstler Boris Eldagsen den ersten Preis in der kreativen Kategorie der Sony World Photography Awards für ein ätherisches Schwarz-Weiß-Porträt zweier Frauen im Vintage-Stil – und lehnte die Auszeichnung ab mit der Enthüllung, dass das Bild von einer KI erstellt wurde.

Seitdem nimmt die generative KI immer neue Meilensteine in Sachen Kreativität. 2024 präsentierte OpenAI zunächst sein Text-to-Video-Modell Sora (japanisch für „Himmel“): eine Bild- und Film-Schöpfungsmaschine, die als Midjourney, DALL-E und Co. um eine Bewegtbild-Komponente erweitert. Mit GPT-4o (nach „omni“, lateinisch für „alles“) folgte ein multimodales KI-Modell, das Bilder und Videos erkennen und produzieren kann. Die neuen KI-Tools bewirken eine radikale Demokratisierung der kreativen Fähigkeiten. So wie heute Jede und Jeder mit Hilfe von KI in Sekundenschnelle Aufsätze in Examensqualität produzieren kann, lassen sich im Handumdrehen fotorealistische Bilder und Videos erstellen.

Zugleich wirft dieser Siegeszug der Kreativ-KI grundlegende kulturelle Fragen auf: Verwandelt sich der Computer nun von einer rein rationalen Rechenmaschine zum kunstschaffenden „Wiederverzauberer? Erweist sich womöglich das, was bislang als größte Schwäche der KI galt – das „Halluzinieren“ im Umgang mit Unsicherheit –, als ihre eigentliche Stärke, im fantasievollen Erschaffen von Texten, Bildern und Filmen? Jedenfalls scheint generative KI einer tief verwurzelten Vorstellung unserer Kultur zu widersprechen: dem Bild vom Künstler als einsamem Genie.

Generative KI nötigt uns zu einer Neubewertung unseres Kunstverständnisses – und unseres menschlichen Selbstbildes.

Der zweite „Tod des Autors“

Kreative KI scheint auf radikale Weise zu bestätigen, was der französische Philosoph Roland Barthes den „Tod des Autors“ nannte: In seinem gleichnamigen Essay forderte er 1967 eine Abkehr von biografischen Interpretationen, da Kunst lediglich ein System von Zeichen sei. Die gesamte Philosophie- und Literaturgeschichte der 1960er- und 1970er-Jahre war geprägt von der Idee der Intertextualität, der zufolge jeder Text lediglich ein Mosaik aus bereits bestehenden Texten ist. Bringt KI nun einen zweiten „Tod des Autors“, indem sie zudem noch mit der traditionellen Idee bricht, dass ein Kunstwerk immer menschengemacht sein müsse?

Gegen diese Deutung spricht zunächst die Macht der Geschichte. Denn die Angst vor der Obsoleszenz menschengemachter Kreativität begleitete auch schon den Wandel vom Theater zum Film, vom Film zum Fernsehen, vom Fernsehen zu YouTube – allesamt Medien, die heute ebenso lebendig sind wie die Fotografie, die ihrerseits schon von Photoshop, Digitalkameras, Smartphones, Internet oder eben KI abgelöst werden sollte. Weitet man den Blick, wird ersichtlich, dass und wie das Kunstsystem immer wieder seine Spielregeln an wandelnde soziale, politische und kulturelle Umfelder anpasst.

Allerdings hinterfragt „kreative“ KI nun unser tradiertes Kulturverständnis, das stark am Konzept der Originalität orientiert ist. Als „Kunst“ gilt das, was per se unerwartet und nicht mathematisierbar ist, was tradierte Muster durchbricht – selbst wenn man voraussetzt, dass jede Kulturproduktion immer auch eine Art Ideenrecycling ist.

KI-generierte „Kunst“ drängt uns dazu, die Funktion von Kunst grundsätzlich neu zu reflektieren.

Kunstkommunikation

Aus soziologischer Perspektive bildet Kunst ein eigenes Kommunikationssystem innerhalb der Gesellschaft. In seinem Buch „Die Kunst der Gesellschaft“ beschrieb Niklas Luhmann, wie einzelne Kunstwerke dabei als „Kompaktkommunikationen“ fungieren, die als Mitteilung von Information verstehbar sind: Die Formen eines Kunstwerks verdeutlichen, dass sie mit der „Absicht auf Information“ geschaffen wurden. Kunst provoziert also, indem sie ihr Beobachtetwerden schon einkalkuliert. Deshalb ist ein Großteil neuerer Kunst nur verstehbar, wenn man die Beobachtungsweise erkennt, mit der sie produziert wurde. Das gilt auch (und insbesondere) für objets trouvés wie Joseph Beuys’ Fettecke oder readymades wie Marcel Duchamps Pissoir.

Der Kern der Kunst ist also ihr absichtliches Verstandenwerdenwollen: Kunstwerke erzeugen Irritationen und regen zur Sinnsuche an. Kreativität besteht deshalb immer auch in der Verschiebung eines Rahmens, innerhalb dessen etwas wahrgenommen wird. Diese Dimension ist KI per se verschlossen, weil sie nicht sinnvoll verstehen kann, was sie produziert (oder was der Unterschied zwischen Fakt und Fiktion ist). Da KI Neues immer nur in bereits gegebenen Datenrahmen produzieren kann, bleibt ihr ein Denken outside the box, eine domänensprengende Kreativität, unzugänglich. Kunst braucht dagegen immer den humanen Kontext, um Kunst zu sein: Entscheidend ist die (menschliche) Konzeption – der (maschinelle) Output allein reicht nicht aus. Daher entsteht Kunst immer erst im Dialog, im menschlichen Verstehen mitgeteilter Informationen, das uns erlaubt, Kunst als solche einzuordnen, wertzuschätzen und mit Emotion aufzuladen.

KI kann dabei zwar behilflich sein, als ein Partner im künstlerischen Schaffensprozess, der Anreize gibt und zu neuen Ideen inspiriert. So sagten in einer Befragung unter professionellen Kreativen 86 Prozent, KI wirke sich „positiv auf ihren kreativen Prozess“ aus. Doch so wie KI die individuelle Kreativität fördern kann, verringert sie zugleich die kollektive Kreativität. So zeigen Studien, dass Kunstwerke, die mit Hilfe von KI produziert wurden, insgesamt gleichförmiger sind. Die eigentliche Quelle von Kreativität, Vielfalt und Originalität ist und bleibt also der Mensch – und gerade die „kreative“ KI verhilft alten romantischen Kulturbildern zu neuer Blüte.

Die Wiedergeburt des Autors

Je mehr „KI-Kunst“ im Überfluss vorhanden ist und je deutlicher wird, dass dabei lediglich Variationen aus einem immer gleichen Pool erzeugt werden, umso wertvoller wird die einzigartige, hirn- und handgemachte Aus- und Aufführung menschlicher Kreativität. So wie „große Sprachmodelle“ à la ChatGPT die menschliche Superkraft der Begegnung stärken, fördert generative KI damit auch ein Wiederaufleben grundromantischer Kunst-Topoi. Von Aura und Emphase bis zur Idee des kreativen Genies, das bestehende Formen durchbricht und neue Paradigmen schafft:

Alles, was KI aufgrund ihrer kognitiven Limitierung nicht leisten kann, wird mit neuer Bedeutung aufgeladen. Damit sorgt KI gerade nicht für einen weiteren „Tod des Autors“ – sondern vielmehr für seine Wiederauferstehung.

Diese (Rück-)Besinnung auf das, was einzigartig und wahrhaft menschlich ist, auf den kreativen Sprung aus dem Nichts und auf das, was uns schön, moralisch, lustig, wertvoll erscheint, beinhaltet ein großes Potenzial der Rehumanisierung – und damit sogar die Chance für ein besseres menschliches Miteinander. Die eigentliche Zukunftsfrage lautet deshalb nicht: Kann KI Kunst? Sondern eher: Können wir Menschen KI? Sind wir in der Lage, KI konstruktiv zu nutzen, als Erweiterung unserer kreativen und sozialen Fähigkeiten? Nicht nur zu unserem jeweils individuellen Wohl, sondern im Dienste einer erstrebenswerten Zukunft, die uns allen zugutekommt? Erst mit diesem Mindset der Human Digitality wird uns der Übergang in eine lebenswerte nächste Gesellschaft gelingen.

Wie sieht die wahre Zukunft der KI aus? Das KI-Manifest von Matthias Horx deckt Vorurteile und Glaubenssätze auf und zeigt, dass wir uns möglicherweise vor den falschen Gefahren fürchten.