Infrastrukturen bilden das unsichtbare Gewebe, das die Gesellschaft zusammenhält. Sie sind das stille Fundament, auf dem unsere Lebensweisen, unsere Ökonomien und auch unsere Zukunftsvorstellungen ruhen. In einer Zeit, die von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt ist, treten sie aus ihren Schatten – und offenbaren sich als zentrale politische Frage der nächsten Gesellschaft.
Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Jonas Höhn
7. November 2024
Blickt man auf die maroden Brücken, Straßen und Schienen, die sich durch unsere Landschaften ziehen, auf veraltete Schulgebäude, überlastete Krankenhäuser, lästige Funklöcher und stockende Internetverbindungen, dann offenbart sich eine unangenehme Wahrheit: Die Infrastruktur, die einst die Grundlage für unseren Wohlstand und den Fortschritt bildete, ist brüchig geworden.
Die Defizite unserer Infrastrukturen spiegeln eine Gesellschaft wider, die sich noch immer schwertut, den tiefgreifenden Wandel, den unsere Zeit erfordert, aktiv anzugehen. Klimawandel, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Ungleichheit im Zugang zur Gesundheitsvorsorge, Herausforderungen im Bildungswesen oder in der Mobilität: All dies sind Symptome einer systemischen Krise. Und: einer Weigerungshaltung, Infrastrukturen neu zu denken und zu gestalten – als Schlüsselfaktor einer lebenswerten Zukunft.
Kollektive Praktiken, zum Beispiel im Konsum- oder Mobilitätsverhalten, lassen sich über Infrastrukturen erheblich wirksamer verändern, als individuelle Anstrengungen es je erlauben würden. Infrastrukturen sind daher ein mächtiges Werkzeug für gesellschaftliche Transformation: Als „vorausschauende Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“ (Maja Göpel) haben sie das Potenzial, den Wandel der Gesellschaft auf einen konstruktiven Pfad zu leiten.
Infrastrukturen sind weit mehr als nur physische Konstruktionen aus Beton oder Stahl. Sie sind Manifestationen der gesellschaftlichen Paradigmen und Lebensweisen ihrer Zeit: Ausdruck der Art und Weise, wie wir wirtschaften, uns fortbewegen oder auch mit der Natur interagieren. Doch was vor 50 Jahren noch als Fortschritt galt, kann heute zum Hindernis werden. Die Infrastrukturen, auf die wir uns gegenwärtig verlassen, stammen oft aus Zeiten, die von anderen wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Realitäten geprägt waren. Diese gebauten Umwelten tragen die strukturellen Fundamente vergangener Gesellschaften in unsere Gegenwart hinein.
So wirken die Kupferkabel, die einst die Internetrevolution ermöglichten, plötzlich wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit – und sorgen nicht selten für Frust. Öl- und Gaspipelines erinnern uns schmerzhaft daran, wie abhängig wir uns von autokratischen Regimen gemacht haben. Und abgeschaltete Kohlekraftwerke zeugen von den hohen Kosten der Aufrechterhaltung eigentlich überholter Systeme. Was einst als unverzichtbar galt, wird nun immer häufiger störanfällig, ineffizient oder gar obsolet. Doch die tiefen Pfadabhängigkeiten, die diese Infrastrukturen erzeugen, machen es schwer, neue Wege zu beschreiten.
Angesichts der Defizite in der Zukunftsfähigkeit unserer Infrastruktursysteme deutet sich die Notwendigkeit für ein neues infrastrukturelles Paradigma an. Die Infrastrukturen der Transformation gehen über die bloße Reaktion auf Krisen hinaus und richten sich auf eine transformative, zukunftsgewandte Gestaltung unserer Lebenswelt. Um den Modus des Reagierens zu verlassen, in dem wir der Zukunft immer einen Schritt hinterherhinken, müssen wir Antworten auf eine fundamentale Frage finden: Wie soll die „nächste Gesellschaft“ aussehen – und welche Infrastrukturen brauchen wir, um den Weg dahin zu ebnen?
Ausgehend von konstruktiven Zukunftsimaginationen können wir entscheiden, welche bestehenden Infrastrukturen so elementar sind, dass sie erhalten und gepflegt werden müssen – und welche neuen Infrastrukturen wir für unsere zukünftigen Bedürfnisse schon heute errichten müssen. Infrastrukturen der Transformation erfordern daher im Kern eine mutige und antizipative Vorgehensweise, die aktiv auf erwünschte Zukünfte zugeht. Sie entfalten ihre Wirkung in allen sechs großen Transformationen unserer Zeit:
Die Entwicklung hin zu einer kultivierten Digitalisierung und einer neuen Balance zwischen Mensch und Maschine wird schon heute von Infrastruktursystemen begleitet und vorangetrieben. Dazu zählen neben Technologien wie den Breitbandnetzen oder 5G als Grundlage für die digitale Vernetzung auch verbindliche Normen und Gesetze, etwa im Datenschutz oder in der Regulation von Künstlicher Intelligenz. Vor allem in urbanen Räumen sollen vernetzte Systeme in Zukunft sowohl für mehr Effizienz sorgen als auch eine höhere Lebensqualität ermöglichen.
Transformative Infrastrukturen ebnen den Wandel zur Sinnökonomie, indem sie die Grundlage unseres Wirtschaftssystems zukunftsfähig umgestalten. Neben Recycling- und Upcycling-Systemen im Sinne einer Kreislaufwirtschaft und Speichertechnologien, die aufgebaut werden müssen, um den Übergang vom fossilen Zeitalter in das Zeitalter erneuerbarer Energien fördern, zählen dazu auch Bildungsorte, die für die Ausbildung tatsächlich zukunftsrelevanter Berufe und Skills eine zentrale Bedeutung haben, sowie Veränderungen in unseren Arbeitsumgebungen durch neue Arbeitsmodelle.
In einer zunehmend fragmentierten und polarisierten Gesellschaft stärken Infrastrukturen der Transformation den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch gemeinschaftsfördernde und inklusive Strukturen. Alltägliche Begegnungsorte und Third Places wie Cafés, Kneipen, Sportstätten, Parks, Kiosks, Gemeinschaftsgärten oder Bibliotheken wirken sowohl auf der sozialen als auch der politischen Ebene, indem sie – so wie auch neue Formate politischer Beteiligung – demokratische Elemente wiederbeleben und festigen.
Infrastrukturen der Transformation erzeugen ein neues Sozialbewusstsein, indem sie den Wandel von Werten, Normen und Weltbildern zulassen und sich ihm anpassen. Zentral ist dabei die Förderung von individueller Ermächtigung und kollektivem Austausch sowie der Abbau struktureller sozialer Ungleichheiten. Dies bedeutet auch, dass Infrastrukturen nicht nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen konzipiert werden, sondern die Bedürfnisse möglichst aller Menschen berücksichtigen.
Infrastrukturen der Transformation verbessern das Zusammenspiel zwischen globalen Strukturen und lokalen Netzwerken. So können lokale Versorgungsnetzwerke globale Lieferkettensysteme im Sinne eines Resilient Supply absichern und ergänzen. Gezielte Investitionen in zukunftsfähige Infrastrukturen haben zudem das Potenzial, „abgehängte“ Regionen durch eine erneuerte Form der Daseinsvorsorge wiederzubeleben – und Räume lokal und global miteinander zu vernetzen.
Transformative Infrastrukturen ermöglichen den Wandel hin zu einer regenerativen Gesellschaft, indem sie die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume und die Umstellung auf ökologische Lebensweisen unterstützen. Die konkreten infrastrukturellen Maßnahmen reichen vom Ausbau der ökologischen Landwirtschaft über die Förderung nachhaltiger Mobilitätsformen bis zur Renaturierung von Flüssen oder Wäldern.
Infrastrukturen der Transformation sind keine universelle Schablone, die wir einfach auf jede Stadt oder Region anwenden können, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Sie repräsentieren einen notwendigen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Gesellschaft und Zukunft – als lebendige Entwürfe, die sich flexibel an die spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort anpassen und die bereits bestehenden Strukturen mitdenken. Schließlich findet die Transformation unserer Gesellschaft nicht auf einem weißen Blatt Papier statt, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess.
Reallabore oder ähnliche Projektformen können dabei als lokale Katalysatoren für Transformation dienen und durch die Vermittlung konkreter Zukunftsbilder helfen, die Angst vor Wandel abzubauen. Zugleich dürfen diese lokalen Initiativen nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets im Kontext einer größeren, übergeordneten Transformation. Hierbei kommt vor allem Politik und Staat wieder eine wichtigere Rolle als Initiator und Vermittler zu: Zuständigkeiten müssen klar definiert, neue Finanzierungsmodelle entwickelt und pragmatische Ansätze zur Weiterentwicklung von Infrastrukturen konsequent gefördert werden.
Transformative Infrastrukturen erfordern unseren Mut, endlich in zukunftsfähige Versorgungsnetze für die nächste Gesellschaft zu investieren. Damit spielen sie eine entscheidende Rolle für unser generelles Verhältnis von der Zukunft: Sie stellen sicher, dass wir auf künftige Herausforderungen nicht nur passiv reagieren, sondern eine lebenswerte Zukunft aktiv gestalten können – indem wir heute die richtigen Weichen stellen.