5. Mai 2025
Die geopolitischen Verschiebungen der vergangenen Monate und Jahre haben Europa in eine Phase struktureller Unsicherheit geführt – und zugleich für seltene analytische Klarheit gesorgt. Die Entscheidung der USA, ein Rohstoffabkommen mit der Ukraine zu schließen, markiert eine Zäsur im transatlantischen Verhältnis. Der exklusive Zugriff auf kritische Ressourcen und ein gemeinsamer Wiederaufbaufonds werfen grundsätzliche Fragen zur Rolle Europas in der Weltordnung auf.
Für Deutschland und die EU entsteht daraus nicht nur sicherheitspolitischer Handlungsdruck: Es eröffnet sich auch die Chance, eigene strategische Interessen selbstbewusst zu formulieren – ein Schritt, der das europäische Selbstverständnis neu definiert.
Gerade für Deutschland ist der Bruch mit den USA nicht nur strategisch, sondern auch emotional tiefgreifend. Über Jahrzehnte waren die Vereinigten Staaten sicherheitspolitischer Garant und kulturelles Leitbild, vom Marshallplan bis zur Westbindung der Bundesrepublik. Diese Verlässlichkeit wurde lange als selbstverständlich betrachtet. Doch mit dem geopolitischen Fokus der USA auf den Indopazifik, wachsender innenpolitischer Polarisierung und schwindender Bereitschaft zu multilateraler Bindung zeigt sich: Europa kann sich nicht länger auf Amerika stützen.
Der Verlust dieses Bezugsrahmens hinterlässt ein kulturelles und politisches Vakuum. Deutschland muss sich neu verorten – normativ, strategisch und gesellschaftlich. Diese Destabilisierung ist zugleich eine Chance: für einen Reifeprozess, der Verantwortung nicht als Last, sondern als Gestaltungsmacht versteht. Das erfordert nicht nur außenpolitische Instrumente, sondern auch eine breite Debatte über Europas Rolle in einer konfliktreichen, multipolaren Welt. Das Friedensprojekt Europa braucht ein Update – als wertebasierte, aber strategisch orientierte Ordnungskraft im 21. Jahrhundert.
Die wirtschafts- und finanzpolitischen Beschlüsse vom März diesen Jahres, getragen von einer verfassungsändernden Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, markieren einen tiefgreifenden Kurswechsel: Die Schuldenbremse wird gelockert, massive Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung und Verteidigung angekündigt. Damit verabschiedet sich Deutschland von der lange dominierenden Austeritätspolitik und bekennt sich zu einem aktiven, investierenden Staat in geopolitisch unsicheren Zeiten. Diese Maßnahmen sind mehr als haushaltspolitische Anpassungen – sie zeigen den Willen, Deutschlands Rolle im internationalen System neu zu definieren. Auch auf europäischer Ebene wird dieser Richtungswechsel als Zeichen wachsender Gestaltungsfähigkeit wahrgenommen.
Im Inneren deutet sich ein Paradigmenwechsel an: weg vom reaktiven Staat hin zu einem gestaltenden Akteur, der strukturelle Schwächen adressiert und Zukunftsfähigkeit durch strategische Investitionen sichert. Das eröffnet Chancen für eine neue deutsche Führungsrolle – vorausgesetzt, sie wird europäisch eingebettet. Nur durch koordinierte Investitionen, gemeinsame Industriepolitik und institutionelle Reform kann eine solche Rolle integrativ wirken. Der Green Deal, die Sicherheitsunion und die Reform des Stabilitätspakts sind zentrale Hebel für ein strategisch handlungsfähiges Europa – und Deutschland muss bereit sein, hier politische Initiative zu zeigen.
Strategische Autonomie ist seit Jahren Teil des europäischen Diskurses – ihre konkrete Umsetzung ist jedoch noch schwach ausgeprägt. Trotz hoher Verteidigungsausgaben fehlen der EU zentrale Strukturen: eine gemeinsame Eingreiftruppe, abgestimmte Rüstungsprojekte, vernetzte Nachrichtendienste und eine schlagkräftige Cyberabwehr. Projekte wie der digitale Euro oder die europäische Raumfahrtpolitik setzen wichtige Impulse, bleiben aber bislang isolierte Vorstöße.
Autonomie darf jedoch nicht rein institutionell gedacht werden. Eine zentrale Herausforderung liegt in der Abwehr hybrider Bedrohungen – vor allem aus Russland. Desinformation, Cyberangriffe und gezielte Sabotage gehören längst zum Arsenal dieser Einflussnahme. Kampagnen wie „Doppelgänger“, die mit gefälschten Medien Vertrauen und politische Stabilität untergraben sollen, verdeutlichen das Ausmaß. Deutsche Sicherheitsbehörden sprechen von einer dauerhaften Bedrohungslage.
Auch physische Angriffe auf Infrastrukturen – etwa auf Bahnlinien oder Energienetze – sind Teil einer Strategie, Europas Handlungsfähigkeit gezielt zu unterminieren. Der hybride Krieg ist Realität – und findet auf europäischem Boden statt. Strategische Autonomie heißt daher auch: Aufbau einer Sicherheitskultur, die digitale wie physische Angriffe ernst nimmt, demokratische Resilienz stärkt und Desinformation als sicherheitspolitische Herausforderung anerkennt.
Die gegenwärtigen geopolitischen und gesellschaftlichen Umbrüche spiegeln ein tiefer liegendes zivilisatorisches Muster wider. In seinem Buch 2024 erschienenen Buch „Verlust“ beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz die Ambivalenz der Moderne: Fortschritt, Innovation und Beschleunigung gehen mit dem Verlust von Stabilität, Tradition und kultureller Verankerung einher. Je dynamischer Gesellschaften werden, desto mehr geraten Routinen und Sicherheiten ins Wanken – Fortschritt bringt auch Entfremdung.
Diese Dynamik trifft heute besonders auf die geopolitische Ordnung zu. Jahrzehntelang garantierten Allianzen und internationale Normen ein Gefühl der Sicherheit – doch diese Ordnungen verlieren an Bindungskraft. Der Westen als Bezugsrahmen wirkt brüchig, der Verlust betrifft nicht nur Institutionen, sondern auch kollektive Orientierung.
Reckwitz fordert eine „Reparatur der Moderne“ – keinen Rückzug in die Nostalgie, sondern die bewusste Entwicklung von Strategien, um Unsicherheit zu bewältigen. Resilienz wird so zur Schlüsselkompetenz moderner Ordnungspolitik: nicht als Vermeidung von Krisen, sondern als Fähigkeit, mit ihnen produktiv umzugehen. Für Europa heißt das: Es geht nicht um die Rückkehr zu Blocklogiken, sondern um den Aufbau einer kooperationsfähigen, multipolaren Ordnung. Resilienz betrifft nicht nur Sicherheit und Wirtschaft, sondern auch Bildung, Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine demokratische Ordnung muss Fragmentierung aushalten können – ohne ihre Integrationskraft zu verlieren. Verlust wird so zum Ausgangspunkt eines neuen, anpassungsfähigen Selbstverständnisses.
Vor dem Hintergrund all dieser Umbrüche und „Verluste“ stehen Europa strategische und normative Zukunftsfragen ins Haus – weit über institutionelle Reformen hinaus. Gefragt ist politische Intelligenz im Umgang mit Unsicherheit, Machtverschiebungen und ökologischen Grenzen. Drei Leitfragen stechen dabei hervor:
Weitere Themen drängen: Wie schützen wir demokratische Prozesse im Zeitalter Künstlicher Intelligenz? Wie behaupten wir ökologische Transformation unter geopolitischem Druck? Und wie ersetzen wir das Wachstumsdogma durch nachhaltige Wohlstandsmodelle? Diese Fragen verlangen nach einem konflikttoleranten, interdisziplinären Politikstil. Und nach einer öffentlichen Kultur, die politische Differenz nicht als Gefahr, sondern als demokratische Ressource versteht.
Fest steht: Europas Zukunft entscheidet sich nicht allein in Verträgen – sondern im Mut, die großen Fragen unserer Zeit neu zu stellen.
Wie uns eine Krise, in der alles miteinander zusammenhängt, den Weg in die Zukunft zeigt.
Die Metastudie zur Omnikrise analysiert die verschiedenen Krisen unserer Zeit – und schaut „Beyond Crisis“: auf das, was nach den Krisen kommt. Denn der Epochenwandel braucht konstruktive Bilder von der Zukunft, um zu gelingen.