Gegentrends als Gamechanger für Transformation

Megatrends waren gestern – Trends und ihre Gegentrends formen das Morgen. Wer agieren statt reagieren will, muss die komplexe Dynamik dieses ständig bewegten Systems verstehen lernen.

von Paulina Plinke

16. April 2025

Zukunft ist gestaltbar

Unsere heutige Welt ist von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt. Bekannte Megatrends zeigen Entwicklungen auf und ermöglichen Prognosen, aber sie versprechen dabei oft eine falsche Zukunftssicherheit.

Wer heute ernsthaft über Zukunft nachdenkt, stößt mit linearen Trendlogiken schnell an Grenzen – denn die wahren Gamechanger kommen dort zum Vorschein, wo Gegenkräfte entstehen und wirken. Gegentrends sind keine bloßen Gegenbewegungen zu vorherrschenden Trends, sondern sie markieren Umbrüche und Aufbrüche und eröffnen neue Möglichkeitsräume für Wandel und Transformation. Gegentrends bedeuten produktive Polarisierungen, kreative Korrekturen und visionäre Veränderungen. Sie sind nicht nur Reaktionen auf das Bestehende, sondern vor allem Impulse für Neues sowie Treiber tiefen Wandels. Im Spannungsfeld zwischen Trends und ihren mannigfaltigen Gegentrends liegt enormes gestalterisches Potential – und diese der Zukunft ureigene Eigenschaft der Gestaltbarkeit ist hochrelevant.

Während ungewisse Zukünfte im unternehmerischen Kontext oft als Risiko betrachtet werden, stellen sie indes Chancen dar, wenn man das eigene Denken entsprechend umformt, sodass man vom Adaptieren zum Transformieren gelangt. Weg von der zu simplen Perspektive zweidimensionaler Trends mit klarer Richtung, hinein in einen Raum für Transformation. Dieser erschließt sich innerhalb der Trend-Gegentrend-Dynamik: Trends bewegen sich in die eine Richtung, Gegentrends konträr dazu. Der entstehende Konflikt zwischen beiden Bewegungen löst sich auf einer höheren   Ebene, in Form einer Synthese. Mit der Erkenntnis dieser unterschiedlichen Strömungen und ihrer Interaktion lässt sich die Welt fortan nicht mehr als lineares, sondern als dynamisches System verstehen und gestalten.

Die Gegentrend-Map

Während es acht große Megatrends gibt, laufen diesen eine weitaus größere Anzahl an Gegentrends entgegen. Viele Gegentrends beziehen sich dabei auf mehr als einen Megatrend. Die Gegentrend-Map zeigt die wichtigsten Entwicklungen unserer Zeit auf:

Gegentrend-Map

Arten von Gegentrends

Während das meistgenutzte Tool in der Trend- und Zukunftsforschung in den vergangenen Jahrzehnten stets das System der Megatrends war, sind die wahren Gamechanger deren Gegenbewegungen. Diese lassen sich in drei Kategorien aufteilen, die sich anhand der Verknüpfung mit existierenden Trends herausbilden:

  • Comeback-Trends (Retro-Trends) folgen einem zyklischen Prinzip, nach dem alle alten Trends nach einiger Zeit wieder an die Oberfläche gespült werden. Hierbei kann die Nostalgie älterer Generationen eine Rolle spielen, aber auch die Vergangenheitsfaszination jüngerer Leute ausschlaggebend sein.
  • Brechungs-Trends (destruktive Trends) laufen einem bestehenden Trend antithetisch entgegen und wirken sich demnach zersetzend darauf aus.
  • Erweiterungs-Trends (konstruktive Trends) hingegen keimen aus anderen Trends auf wie Pflanzensprosse im Frühling; sie sind damit Erweiterungen und Weiterentwicklungen zugleich.

Transformation braucht Tools

Diese vielfältigen Arten von Gegentrends bieten Spielraum für grundlegende Transformationen in vielen Bereichen – vom Alltag über Sparten in Unternehmen bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Belangen. Um transformative Vorhaben sinnvoll angehen zu können, bedarf es allerdings eines geeigneten Werkzeugkoffers.

In unserem Zukunftsseminar „Gegentrends – Mit Gegentrends die Welt verändern“ lernen Sie, wie Sie durch die Arbeit mit Gegentrends Ihre Transformation Skills verbessern und konkret anwenden können. Neben umfangreichen Wissen zu Trends und Gegentrends bietet das Seminar die praktische Anwendung von methodischem Handwerkzeug zur Arbeit mit der Gegentrend-Map und konkrete Ableitungen für die gezielte Arbeit mit Trend-Gegentrend-Dynamiken.

Zukunftsseminar „Gegentrends“

8. Mai 2025 | Frankfurt am Main

Referenzen

Ich hatte das Vergnügen, an mehreren Veranstaltungen von The Future:Project teilzunehmen: den beiden „Beyond“-Events, einem After Work, einem Sommer-Event sowie dem Zukunftsseminar zum „Wheel of Transformation“. Jedes dieser Formate war einzigartig, doch was sie alle verbindet, ist die Art und Weise, wie The Future:Project die Zukunft greifbar macht. Komplexe Themen werden nicht nur verständlich vermittelt, sondern auch visuell ansprechend aufbereitet. Man spürt den besonderen Vibe des Teams – eine Mischung aus Leidenschaft, Offenheit und dem echten Wunsch, Wissen auf Augenhöhe zu teilen. Egal, mit welchem Hintergrund oder Vorwissen man kommt, man fühlt sich stets willkommen und inspiriert.

Melanie Breit, Future Business Mentorin & Founderin von Thisis:Complexity

Neo-Machos

Der Gegentrend zum Feminismus

Text von Tristan Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Kaum dachte man, die junge Generation bestünde aus woken Klimakleber:innen und lauter Gretas, kommt schon ein Gegentrend um die Ecke. Der Kulturkampf ist in vollem Gange – und die alten, neuen Macho-Männer feiern ein triumphales Comeback. Das hat nicht zuletzt eine massive ökonomische Dimension: Wer die Shows der aufgeregten neuen „Manfluencer“ im Netz sieht, begreift schnell, dass hier junge unsichere Männer schlichtweg ausgenommen werden. 

Was sich als Selbsthilfe für verunsicherte und vereinsamte Jungs verkauft, ist eigentlich ein beinhartes Pyramidenschema in einer neuen Farbe. Von „Wie du alle Frauen kriegst“ bis „Die moderne Frau ruiniert die Gesellschaft“ – an Misogynie mangelt es nicht. Zu den jüngsten Fortschritten in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gibt es einen hässlichen Gegentrend, der brutal-nostalgisch in die (vermeintliche) Einfachheit der Vergangenheit zurückschielt. 

Und dabei wahnsinnig erfolgreich ist.

Die Alpha-Males von TikTok

Dieser spielt sich auch in der Generation Z – der Generation TikTok – ab. Im Vergleich zu ihren Eltern haben die jungen Menschen heute statistisch weniger Sex und suchen stärker nach Sicherheit. Fast schon spießig, aber auch verständlich. Durch die Einführung von Tinder und Co. tun sich viele Jüngere schwer, romantische Liebe zu finden. Vor allem, wenn man sich der Welt der Liebe zum ersten Mal online öffnet, ist man mit einer gigantischen Konkurrenz, erbarmungsloser Kommunikation und Übermacht von Körpernormen konfrontiert, der sich viele nicht gewachsen fühlen. 

Die Oberflächlichkeit der Dating-Welt hat vor allem unter Jugendlichen zu massiven Unsicherheiten geführt. Sehen doch auf Social Media alle immer perfekt aus, während man selbst meistens eher durchschnittlich ist. Die längste Zeit waren es nur die Frauen, die „schön“ sein mussten mussten, während die Männer sich mit ihrem Einkommen einen Platz in der Liebespyramide erkaufen konnten. Doch auf TikTok oder Tinder ist für die Schmächtigen, Haarlosen und Bierbäuchigen wenig Platz. Aus den Minderwertigkeitskomplexen frustrierter Männer speist sich im Netz eine Welle von Frauenverachtung und Antifeminismus – und ein lukratives Geschäft für Neo-Machos, das aus der Vulnerabilität junger Männer Profit schlägt.

Frauenhass spitzt sich zu

Schon lange hat sich diese Gegenwelle angekündigt. Der kanadische Psychologe Jordan Peterson machte mit seinen Regel-Büchern zur männlichen Integrität schon vor Jahren Millionenauflagen. Ein beachtlicher Teil der Hip-Hop-Kultur beruht auf dem Schimpfen über Schlampen, die nur das Eine wollen. Auch im Reich der Populisten spielt die verletzte Würde der Männer eine zentrale Rolle – in Form eines hasserfüllten Antifeminismus. MeToo hat die Sache zugespitzt, bis in das Reich der Prominenten und Mächtigen hinein. Zu spüren ist dieser reverse Kulturkampf auch in der Musikbranche und bei Rockstars. Die neuen Machos haben die Front aufgebrochen und auch einige Frauen auf ihre Seite gezogen. Für Feministen ist das fürchterlich – und gerade darauf stehen wiederum die verunsicherten Männer des neuen schwachen Geschlechts.

Fehlende Vorbilder

Solch regressive Tendenzen kommen zum Vorschein, weil durch die Komplexität der Moderne nicht leicht zu navigieren ist. Wer damit nicht umgehen kann oder möchte, flüchtet in alte Extreme und verweigert die Zukunft. Die Männerwelt sucht nun wieder nach Vorbildern, was in diesen komplexen Zeiten gar nicht so einfach ist. Schwarzenegger und Co. haben ausgedient oder sind geläutert, aber die Lücke wurde noch nicht erfolgreich besetzt. Junge Männer haben eine Menge Innovationskraft. Wohin kann die nächste Runde gehen?

In den internationalen Medien geistert die Figur des „Decarbonize Bro“ herum. Männer, die sich für die Dekarbonisierung engagieren. Ganz solidarisch und untereinander verbrüdert. Weltretten als neues, edles männliches Prinzip, das auch die Frauen wieder faszinieren kann? Hippie 2.0 mit Männergemeinschaft? Mal sehen. Männlichen Status an die Bewahrung der Umwelt zu knüpfen, ist jedenfalls wesentlich konstruktiver als den chauvinistischen Influencern auf den Leim zu gehen.

Neue Freundlichkeit

Der Gegentrend zur Bösartigkeit der Gegenwart

Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Was ist das größte Problem unserer heutigen Gesellschaft? Die Ungleichheit? Die Wirtschaftslage? Die Inflation? Die Erderwärmung? Mitnichten. Es ist die Unfreundlichkeit im Alltag. Die Hassbereitschaft und Bösartigkeit in den Kommunikationen. Die Unfähigkeit, der Unwille, sich miteinander „ins Einvernehmen“ zu setzen.

Die Meckerkultur: Alles schlechtmachen. Immer dagegen sein. Andere abwerten, um sich selbst zu bestätigen. Überall das Schlechte sehen. In Rudeln hassen und verachten. Hauptgefühl Häme.

Der unsichtbare Gegentrend

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy spricht von den „Händlern des Unglücks“, die sich in unseren digitalisierten Kommunikationsformen ständig vermehren (vgl. Lévy 2023). Der deutsche Soziologe Steffen Mau berichtet von „Triggerpunkten“, auf die Menschen stark emotional reagieren und von „Polarisierungsunternehmern“, die sich immer weiter ausbreiten (vgl. Mau et al. 2023). Wenn es stimmt, dass es zu jedem Trend auch einen Gegentrend gibt, dann auch gegen diesen. Was wäre der Gegentrend zur dumpfen Negativität, zu Online-Hass und Offline-Häme?

Die Freundlichkeit. 

Gegen die Rücksichtslosigkeit in der Gesellschaft hat sich eine unsichtbare Gegenbewegung entwickelt. Sie lässt sich nicht messen oder quantifizieren. Aber immer mehr Menschen entschließen sich in einer inneren Wende, freundlich zu sein. Freundlichkeit beginnt im Verzicht auf unnützen Streit und narzisstische Meinungskriege. Sie setzt voraus, dass wir uns von einer „Front“ zurückziehen, die uns ständig in Erregungen, Vorwürfe, Negationen hineinziehen will. Meinungen loslassen. 

Und dass wir uns auf neue Weise mit anderen Menschen verbinden – und mit uns selbst.

Grundkenntnisse in Empathie

Wer freundlich sein will, muss bei sich selbst anfangen. Empathisch mit sich selbst sein. Sich selbst anerkennen und akzeptieren lernen – das ist möglicherweise die schwerste Übung. Denn der eigentliche Ursprung für die grassierende Bösartigkeit ist die Selbstablehnung. 

Der Gegentrend der neuen Freundlichkeit wird angetrieben von der Welle östlicher Philosophien und Geistestechniken, die Gelassenheit und Akzeptanz lehren. Aber er hat auch eine konservative Seite, die den menschlichen Umgang in einer Art Grund-Höflichkeit bewahren will. 

In irischen Schulen werden neuerdings Empathie und Freundlichkeit gelehrt. Der Empathie-Spezialist Pat Dolan, der das Empathie-Programm in über hundert Vorschulklassen in Irland ins Leben rief, sagte in einem Interview mit der Irish Times: „Es ist genauso wichtig, wie Mathematik oder Englisch zu lernen. Ich würde sogar noch weiter gehen: Der Weg, den die Gesellschaft heute geht – nicht nur in Irland, sondern global –, ist davon abhängig, wie wir Empathie lernen und leben“ (vgl. O’Brien 2020).

Austausch mit Ungleichgesinnten

Im deutschsprachigen Raum versuchen immer mehr konstruktive Medien, etwa Krautreporter oder Perspective Daily, polarisierende Diskurse in lösungsorientierte Debatten zu verwandeln. DIE ZEIT organisiert seit vielen Jahren „freundliche Begegnungen“ zwischen Fremden aus verschiedenen politischen Lagern und unterschiedlichen Kulturen: Bei der Initiative „Deutschland spricht“ treffen sich jährlich Tausende Menschen zum freundlichen Streitgespräch. Mithilfe einer Matching-Software werden sie in einen Austausch mit einer Person vermittelt, die völlig gegensätzlich denkt.

Freundlichkeit ist mehr als Höflichkeit. Der englische Begriff kindness trifft besser, worum es eigentlich geht. To be kind bedeutet eine bestimmte Form von Güte. Sie besteht in einer Zugeneigtheit zum anderen, zur Welt, zu den Ideen, den Lebenslagen, den Wirklichkeiten, die uns umgeben. Und vor allem zu sich selbst.

Literatur

Lévy, Bernard-Henri (2023): Mein Frankreich, mein Albtraum. Gastbeitrag – Krawalle in Frankreich. In: tagesanzeiger.ch, 5.7.2023

Mau, Steffen / Lux, Thomas und Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin

O’Brien, Carl (2020): Empathy in Education: ‚It’s just as important as learning maths‘. In: irishtimes.com, 23.1.2020

Mut zum Mittelmaß

Der Gegentrend zum Besonderssein um jeden Preis

Text von Lena Papasabbas | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

Einzigartigkeit hat das Normale oder gar Gewöhnliche als erstrebenswerte Ideale abgelöst. Die Verbreitung des Internets, die rasante Globalisierung und vielseitige kulturelle Gegenbewegungen haben uns in eine Ära geführt, in der Standards und Normalität an Attraktivität verloren haben. Man orientiert sich nicht mehr am Allgemeinen, sondern am Besonderen. 

Selbstentfaltung ist zur Lebensaufgabe des modernen Individuums geworden. Wer sein ganz eigenes, besonderes Potenzial nicht ausschöpft, ist selbst schuld. Auch Konsumgüter, Umgebungen und Erlebnisse dürfen nicht mehr gleichförmig sein. Nichts ist unattraktiver als Industrieware von der Stange, Einrichtung wie aus dem Katalog oder Pauschalurlaub am Mittelmeer. Das Comeback des handgefertigten, authentischen Unikats oder der massenhaften „Individualreisenden“ erklärt sich durch dieses Streben nach dem Besonderen. 

Prestige ist nur noch in der Individualität zu erreichen – sei es die individuelle Spitzenleistung, eine einzigartige Kreativität, außergewöhnliche Ideen oder ein ganz eigener Stil.

Für dieses mitunter anstrengende Unterfangen stehen dem Individuum heute eine schier endlose Reihe von Produkten, Dienstleistungen, Ratgebern und eine Armee von Beratungsangeboten, Optimierungs-Apps und Coaches zur Verfügung. Die Anzahl der Branchen, die ausschließlich daran verdienen, Menschen in ihrer Selbstentfaltung und -optimierung zu unterstützen, ist immens. 

Dieses Streben nach dem Besonderen ist jedoch vor allem eines: anstrengend. Die verzweifelte Suche nach der eigenen Authentizität endet nicht selten in der ernüchternden Erkenntnis, dass viele andere die gleichen Urlaubsorte besucht, die gleichen Namen für ihre Kinder ausgewählt und die gleichen Songs in ihren Playlists gespeichert haben. Die ständige Abgrenzung und Inszenierung der eigenen Einzigartigkeit verschlingt viel Energie und birgt ein hohes Frustrationspotenzial.

Zurück zu 08/15

Zum Glück steht der Gegentrend bereits in den Startlöchern: Das Comeback des Gewöhnlichen entsteht aus einer Weigerungshaltung, manchmal auch aus Resignation. Es zeigt sich in vielen Facetten: Immer mehr Menschen wenden sich von den Selbstinszenierungsmaschinen Facebook und Instagram ab, tragen absolut nicht-aussagekräftige Normcore-Kleidung, feiern ungehemmt die größten Mainstream-Produkte der Medienwelt wie Harry Potter oder Game of Thrones. Statt sich auf der Suche nach dem neuen Underground-Label zu verlieren, trägt man heute Lidl-Klamotten; statt sich mit garantiert unbekannten Newcomer-Bands zu brüsten, hört man Taylor Swift und Justin Bieber; statt ausgefallenen Foodtrends serviert man den Gästen Bananenbrot zum Filterkaffee…. statt ständig das ureigene Potenzial zu entfalten, feiert man die eigene Durchschnittlichkeit.

Diese neue Bodenständigkeit hat keine Lobby und keinen Namen. Sie entsteht als natürliche Gegenreaktion auf die überhöhten Ansprüche an das eigene Leben. Die neuen Normalos haben keine Lust mehr auf die ewige Abgrenzung von der Masse. Sie zelebrieren ihre Gewöhnlichkeit – und befreien damit auch alle anderen ein kleines bisschen.

Slownovation

Der Gegentrend zum digitalen Hyper-Innovationismus

Text von Matthias Horx | Illustration von Julian Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „15 Gegentrends: Wie die Zukunft ihre Richtung ändert“

29. Februar 2024

„Wir leben in einem Zeitalter der rasenden disruptiven technischen Innovation!“ – So könnte jedes beliebige Beratungsgespräch, jede Rede auf jeder Business-Konferenz beginnen. Was aber, wenn das nichts als Business-Bullshit wäre?

Nehmen wir einmal an, der jüngste Super-Coup des Digitalen wäre einfach nur ein Hype. Klar, Künstliche Intelligenz kann in der Forschung, in der Prozesssteuerung, in bestimmten datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber stellen Sie sich vor, die generative KI, die derzeit überall als das große Zukunfts-Ding gefeiert wird, wäre nichts als eine Angstblüte der IT-Industrie, die verzweifelt eben jenes nächste „große Ding“ sucht. Nehmen wir an, die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – Fusionsenergie, Quantencomputer und eben die superintelligente KI –, wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme. 

Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.  

Der Hype-Innovation-Speak

Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Bestseller The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation, weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit. Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Dieser „Hype-Innovation-Speak“ kann nur zu Enttäuschungen führen, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen. Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie muss nicht herbeigeredet werden, weil sie, wenn auch leise, meist klar messbar ist. Und: Sie entwickelt sich graduell und nicht mit einem großen Knall. 

Vinsel und Russell betonen, dass die Welt, in der wir leben, nicht durch dauernd neue Dinge funktioniert. Sondern zu einem sehr großen Teil durch Erhaltung, Wartung, Pflege, Integration und langsame Verbesserung.

Realismus statt Innovationismus

Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere. Einer wahren Anbetung des Disruptiven. 

Ein wilder Traum, aus dem wir nun langsam erwachen. Zumindest reiben wir uns häufiger die Augen und fragen uns, ob wirklich jede Innovation unser Leben verbessert. Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, das WLAN funktioniert nicht. Fluggesellschaften sind unerreichbar, und die digitale ID ist unheimlich kompliziert. Der Server im Büro stürzt ständig ab und die smarte Kaffeemaschine hat schon wieder einen Defekt. Und wenn die Stereoanlage den Geist aufgibt, muss man sie wegschmeißen. Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus verlorenen Passwörtern und umständlichen Eingaben verwandelt. Statt schneller wird vieles langsamer.

Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz werden. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in  „Techno-Solutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“.

Slownovation: Jenseits der Disruption

Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit technischem Systemwissen, Care-Arbeiter:innen, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter ständigem Statusverlust. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten, gelten sie als Problem. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.

Menschen, die die alltäglichen Zusammenhänge verstehen, die mit ihren Händen konkrete Arbeit verrichten und dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Dieser Erwartungsüberschuss belohnt unentwegt diejenigen, die mit Illusionen handeln. Und erniedrigt jene, die mit Realitäten umgehen und unsere Welt am Laufen halten.