Im Fußballrausch

Wie werden Sportgroßveranstaltungen zukunftsfähig?

Ein Gastbeitrag von Anja Kirig und Marcel Aberle

26. Juni 2024

Die EM 2024 soll ein „Heimspiel für Europa“ werden, ein großes Fußballfest, das gleichzeitig neue Maßstäbe bei der Nachhaltigkeit von Sportgroßveranstaltungen setzen soll. Kann das gelingen? Und welche Rolle spielen die großen Transformationen unserer Zeit für die Zukunftsfähigkeit von Sport(groß)veranstaltungen?

Human Digitality: Digitale Sportkultur

Konnektivität beeinflusst den Sport auf vielen Ebenen. Nicht nur Großsportveranstaltungen wie die EM 2024 nutzen immer mehr digitale Schnittstellen. Dabei geht es künftig nicht nur darum, innovative Tools einzusetzen, sondern eine digitale Kultur zu schaffen, die den Sport bereichert und zugänglicher macht. Die Transformation zur Human Digitality bedeutet interaktive Plattformen, virtuelle Fan-Erlebnisse und erweiterte Realität (AR), die das Erlebnis sowohl vor Ort als auch online intensiver gestalten können.

Nicht ganz EM, aber Fußball der Zukunft: Im April 2024 stellte Newcastle United ein spezielles Trikot für hörgeschädigte Fußballfans vor, das in der Lage ist, Geräusche des Stadions in Vibrationen umzuwandeln, wodurch die Atmosphäre spürbar wird. Das Trikot wurde in Zusammenarbeit mit dem Trikotsponsor Sela und dem Royal National Institute for Deaf People entwickelt. Das Trikot nutzt Sensoren, die während der Aktionen im Stadion vibrieren und die Geräusche des St. James’ Park in Echtzeit in ein Tastgefühl umwandeln. Diese Mechanismen transformieren die akustischen Reaktionen der Menschenmenge in spürbare Vibrationen und ermöglichen es den Fans, die Stadionatmosphäre über ihrer Haut zu spüren.

Conscious Economy: Werte als Treiber für Sportwirtschaft

Ein weiterer wichtiger Trend ist die Transformation zur Conscious Economy. Hier stehen nachhaltige und soziale Werte im Mittelpunkt, nicht ausschließlich der Profit. Dies steht im Gegensatz zu den bisher sehr wirtschaftlich ausgerichteten Großsportveranstaltungen. Von Sponsoren über Merchandising bis hin zu Zulieferern und Organisationen ist es wichtig, Partner zu hinterfragen und zu prüfen. Mehr Engagement in sozialen Projekten, wie Jugend- und Breitensport oder die Integration benachteiligter Gruppen sollten im Fokus stehen. Solche Initiativen könnten langfristig die Wahrnehmung und Organisation von Sportevents hin zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung verändern.

Sport handelt Fair ist ein Zusammenschluss von NGOs, Sportvereinen, Verbänden und Kommunen, die sich bundesweit für die Themen Sport, fairer Handel und Nachhaltigkeit engagieren. Eine der Initiativen ist die Erstellung einer Produktliste für fair gehandelte und ökologisch hergestellte Sportkleidung und -materialien, die sowohl für Individualsportler als auch für Kommunen und Vereine geeignet sind. Die Grundlage dieser Liste ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Produkten und Herstellern von Sportartikeln, um empfehlenswerte Produkte zu identifizieren. Bei der Bewertung der Nachhaltigkeit wurde die gesamte Lieferkette berücksichtigt, wobei soziale und ökologische Faktoren gleichermaßen einbezogen wurden.

Co-Society: Inklusive Sportkultur

Großsportveranstaltungen haben die Chance, Vielfalt und Inklusion zu fördern. Durch inklusive Strukturen und die Betonung einer Gemeinschaft kann eine Gesellschaft entstehen, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern aktiv feiert und integriert. Die Legacy solcher Events könnte eine dauerhaft inklusivere Sportkultur sein. Gerade die EM, die leicht informelle Gruppen bildet, kann helfen, der globalen Einsamkeitskrise entgegenzuwirken. Dabei müssen aber stets die individuellen Eigenarten und Hintergründe der Teilnehmenden berücksichtigt werden.

Zum Eröffnungsspiel der UEFA EURO 2024 ist die FlipKick-Webseite online gegangen. Auf flipkick-fussball.de stehen über 100 Videos zur Verfügung, die Begriffe aus dem Fußball in Deutsche Gebärdensprache (DGS) zeigen, wie zum Beispiel Anstoß, Bundestrainer:­in, Finale und Nationalmannschaft. Die Begriffe wurden von jungen Fußballfans übersetzt. Ziel ist es, die Verständigung und das Miteinander unter den Fans zu ermöglichen. Bereits im Vorfeld der EM 2024 fanden Workshops im Rahmen von FlipKick statt, die von Bundesligisten wie FC St. Pauli oder Schalke 04 veranstaltet wurden.

Mindshift Revolution: Stärker durch Vielfalt

Eine EM kann daher auch als Bühne genutzt werden, um gesellschaftliche Wertediskurse im Kontext der Mindshift Revolution mitzugestalten. Durch die Auswahl vielfältiger Sportbotschafter:innen, die Unterstützung von Athlet:innen-Initiativen und die Sensibilisierung für Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, soziale Inklusion und Gesundheit können Stereotype überwunden und ein breiteres Verständnis von sportlicher Teilhabe entwickelt werden. Dies kann die gesellschaftliche Vielfalt im Sport langfristig erhöhen. 

Der Fanclub der Deutschen Nationalelf  „Eff Zeh Confianza n.e.V.” wurde Ende 2023 gegründet. Ziel des Vereins ist es, die Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland zu einem bunten Event zu machen und ein neues Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft zu schaffen. Die Initiatoren, Sebastian Schuhl und Jonas Schuster, haben dafür die Initiative „Football for All“ ins Leben gerufen. Diese Initiative betont die verbindende Kraft des Fußballs und seine universelle Sprache, die Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zusammenbringt. „Football for All“ möchte Vielfalt und Toleranz im Fußball und in der Gesellschaft fördern. Außerdem soll ein Gemeinschaftsgefühl durch Aktionen wie den bunten Fan-Schal, der für Vielfalt und Toleranz steht, geschaffen werden. Dieser eigens entworfene Fan-Schal symbolisiert diese Werte und wird in einem Berliner Fußball-Startup produziert. Ein Teil des Erlöses geht an die Organisation Buntkicktgut. Der Fußball soll seine Rolle als Breitensport nutzen, um Menschen zu vereinen und ein inklusives Umfeld zu schaffen.

Glocalisation: Lokale Identitäten im Globalen

Großsportveranstaltungen sind internationale Magneten mit der Möglichkeit, lokale Identitätsverständnisse zu stärken. Sie sind Aushängeschild für eine Region, für eine gewisse lokale Kultur und ermöglichen darüber, Glokalisierung lebendig werden zu lassen. Die Legacy – der Zukunftswert – solcher Events kann eine stärkere Wertschätzung und Förderung lokaler Kulturen sein, ohne ein Prinzip des globalen Miteinanders zu eliminieren.

Das kostenlose Bildungscamp ‚FAIRkickt‘ bietet im Rahmen der EM 2024 in Frankfurt am Main eine Plattform für innovative Ansätze in den Bereichen Klimaschutz, globale Gerechtigkeit, Inklusion und Gleichstellung – stets unter dem Leitmotiv Fußball und Breitensport. Eine der Veranstaltungen widmet sich der Bedeutung migrantischer und diasporischer Sportvereine. Diese Vereine stehen für die kulturelle Vielfalt Frankfurts, bleiben jedoch oft unbeachtet. Die Veranstaltung ermöglicht es den Vereinen, sich vorzustellen, gefolgt von einer Diskussionsrunde mit der Bürgermeisterin von Frankfurt, in der die Vereinsvertreter ihre Beiträge und Herausforderungen thematisieren.

Eco Transition: Innovative Lösungen statt Verlustlogik

Anstatt auf bestimmte sportliche Aktivitäten oder Ressourcen zu verzichten, hat die EM die Chance, innovative Lösungen zur Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks umzusetzen. Der Gedanke des ökologischen Handabdrucks, der positive Nachhaltigkeitswirkungen und gesellschaftlichen Mehrwert erfasst, misst und bewertet, kann hier einen direkten Mehrwert schaffen. Als elementarer Teil der Eco Transition zeigen solche Maßnahmen, dass nachhaltige Sportevents möglich sind, ohne die Qualität oder das Erlebnis der Teilnehmenden zu beeinträchtigen. Langfristig könnten sie als Vorbild für künftige Veranstaltungen dienen und die Nutzung nachhaltiger Praktiken im Sport fördern.

Der Spielplan wurde nach Nachhaltigkeitsaspekten gestaltet, um Reisen für Teams und Fans zu minimieren. Dies reduziert zusätzliche Emissionen durch Flüge oder Autofahrten. Laut dem ESG-Bericht der UEFA sollen Mannschaftsreisen in Deutschland per Bahn oder Bus erfolgen. Zudem wird Ticketinhabern eine 36-stündige Nutzung des lokalen Nahverkehrs von 6.00 Uhr am Spieltag bis 18.00 Uhr am Folgetag ermöglicht.

Fußball als Treiber für Transformation

Die sechs großen Transformationen unserer Zeit beeinflussen auch die Zukunft des Sports und der Großveranstaltungen wie der EM. Sie zu verstehen und zu nutzen, bedeutet, die Zukunft und den Zukunftswert von Großsportveranstaltungen mitzugestalten. Denn Sport ist von Emotionen geprägt, und Emotionen führen zu Handlungen (im Gegensatz zu Fakten, die oft nur zum „Wir sollten doch, müssten wir nicht?!“ führen). 

Der Sport – und speziell der Fußball als größte Sportart der Welt – bildet somit einen essenziellen Hebel in Bezug auf den systemischen Wandel im Übergang zur nächsten Gesellschaft.

Welche Trends beeinflussen die Transformation des Sports? Das Future:System, die transformative Trendsystematik des Future:Project, beleuchtet diese und viele weitere Wandlungsprozesse unserer Zeit – und identifiziert dabei konkrete Gestaltungspotenziale für eine lebenswerte Zukunft.


Die Sozialwissenschaftlerin Anja Kirig beobachtet kontinuierlich gesellschaftliche Veränderungsprozesse, insbesondere in den Bereichen Sport und Tourismus sowie Gesundheit, Nachhaltigkeit und Post-Individualisierung.
In ihren Vorträgen bereitet sie die Inhalte eloquent und anschaulich auf, eröffnet Möglichkeitsräume und bietet Orientierung.

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Im Fokus des Informatikers und Sport-Experten Marcel Aberle stehen die Transformationen Human Digitality und Conscious Economy und deren Impact auf die Gesellschaft. In seiner Arbeit verbindet er Trendforschung mit Hands-on-Qualität und liefert wertvolle Handlungsempfehlungen für eine lebenswerte Zukunft.

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