Afrofuturismus

Die Perspektiven Schwarzer* Menschen wurden und werden in der westlichen Zukunftsforschung häufig ignoriert. Der Afrofuturismus entwickelt eigene, starke Bilder von Zukunft jenseits herrschender Machtstrukturen.

Ein Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Natasha A. Kelly

29. Januar 2025

In eurozentrischen Science-Fiction-Narrativen erleben die Protagonist:innen typischerweise die Apokalypse: einen dramatischen Wendepunkt, der durch eine natürliche oder technologische Katastrophe herbeigeführt wird und den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung symbolisiert. Darauf folgt meist der Beginn eines Überlebenskampfes, in dem die Menschheit, meist repräsentiert durch weiße Protagonist:innen, sich gegen diese Bedrohung behaupten muss. 

Schwarze Menschen dagegen haben bereits eine Apokalypse durchlebt – in Form von Kolonialisierung, Versklavung und Rassismus. Diese Katastrophen sind bereits Teil unserer Realität, weshalb der Afrofuturismus nicht auf eine bevorstehende Zerstörung wartet, sondern alternative Zukunftsentwürfe schafft, die über das bereits Erlebte hinausgehen.

Auch die Vorstellung einer Alien-Invasion bleibt im Afrofuturismus aus, denn wir Schwarzen Menschen sind selbst zu den „Aliens“ geworden, die in den Versklavungsschiffen verschleppt wurden. Der britische Afrofuturist Kodwo Eshun beschreibt diese Schiffe treffend als Raumschiffe, was die Entfremdung und das gewaltsame Entfernen aus der eigenen Heimat symbolisiert.

Doch die Gegenwart hat die Schiffe nur kleiner werden lassen. Heute sterben Schwarze Menschen in Ruderbooten auf dem Mittelmeer. Gerade deshalb gewinnt der Afrofuturismus in der deutschen und europäischen Gegenwart an Bedeutung. 
In einer Zeit, in der Science-Fiction und futuristische Erzählungen oft von weißen Perspektiven dominiert werden, bietet der Afrofuturismus alternative Narrative, die das kreative Potenzial Schwarzer Menschen hervorheben.

Utopien für Weiße

Als der britische Philosoph und Autor Francis Bacon vor rund 400 Jahren in seinem utopischen Roman „New Atlantis“ die fiktive Insel Bensalem im Pazifischen Ozean beschrieb, glaubten seine Leser:innen kaum daran, dass die imaginierte Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem Fortschritt und der systematischen Erkundung der Natur basiert, Wirklichkeit werden könnte. Doch sie wurde es. Schwarze Menschen kommen in Bacons Vision der Zukunft allerdings nicht vor: Die Inselbewohner:innen werden als europäisch dargestellt. Bacons utopische Gesellschaft spiegelt das europäische Ideal der Aufklärung, das Wissen als Schlüssel zu Zivilisation und Fortschritt betrachtete.

Zur Zeit der Veröffentlichung von Bacons Roman war der transatlantische Versklavungshandel bereits in vollem Gange. Bis zum 19. Jahrhundert kostete er mehr als 12 Millionen Afrikaner:innen das Leben, viele von ihnen starben qualvoll während der Transporte. Trotz der grausamen Verschleppung und der Zwangszerstreuung hielten sie jedoch an ihren eigenen Zukunftsvisionen fest, in denen sie selbst die Hauptrolle spielten. Der Afrofuturismus knüpft an diese Visionen an, indem er Schwarze Zukunftsentwürfe schafft, die über Trauma und Unterdrückung hinausgehen und Raum für Selbstbestimmung und Hoffnung bieten.

Kennzeichnend für dieses Genre ist unter anderem, dass – anders als in eurozentrischen Erzählungen – Zeit nicht linear, sondern zirkulär verhandelt wird: Es gibt keinen Anfang oder Ende eines Ereignisses, alles bedingt sich gegenseitig. Afrofuturistische Künstler:innen und Denker:innen wie Sun Ra, Octavia Butler oder Janelle Monáe integrieren dabei auf diese Weise historische Erfahrungen mit futuristischen Szenarien, um in ihren Werken eine neue, ermächtigende Identität für Menschen afrikanischer Herkunft zu erschaffen.

Afrofuturismus 2.0

Doch Afrofuturismus ist nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform, sondern stellt heute auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Zukunft dar. Als kulturelle, künstlerische und sozialpolitische Bewegung nutzt der Afrofuturismus weiterhin Elemente von Science-Fiction, Fantasy und afrikanischer Mythologie, um die Rolle und Identität Schwarzer Menschen in einer technologisch fortgeschrittenen Welt zu definieren.

Gleichzeitig reflektiert der Afrofuturismus die historische Erfahrung des Kolonialismus, der nicht nur durch die Bacon’sche Idee von Wissenschaft gerechtfertigt, sondern auch durch den technischen Fortschritt und die kolonialen Bestrebungen europäischer Mächte, einschließlich Deutschlands, ermöglicht wurde. Die deutsche Kolonialgeschichte, insbesondere in Ländern wie Namibia, Tansania und Kamerun, hat tiefgreifende Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken. 

Die Auswirkungen dieser kolonialen Vergangenheit sind eng verbunden mit dem systematischen Ausschluss und der Unterdrückung Schwarzer Menschen. Im deutschen Kontext bietet der Afrofuturismus die Chance, diese anhaltende historische Ungerechtigkeit aufzuarbeiten und neue Narrative zu entwickeln.

Alternative Zukunftsnarrative

Die afrodeutsche Community hat begonnen, den Afrofuturismus als Werkzeug der Selbstermächtigung zu nutzen, um ihre eigenen Zukunftsvisionen zu formulieren und die spezifischen Herausforderungen des Schwarzseins in Deutschland zu adressieren. Künstler:innen und Aktivist:innen wie Olivia Wenzel oder Philip Khabo Koepsel kombinieren afrofuturistische Elemente mit den spezifischen Erfahrungen des Schwarzseins in Deutschland, um alternative Zukünfte zu imaginieren, in denen afrodeutsche Identitäten nicht nur sichtbar, sondern auch kraftvoll und einflussreich sind.

*„Schwarz“ wird in diesem Text mit großem „S“ geschrieben, um die soziale, historische und politische Bedeutung des Begriffs zu betonen: Es geht nicht um die Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um die Selbstbezeichnung einer politischen und kulturellen Identität. „Weiß“ wird dagegen kursiv geschrieben, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass „Weißsein“ eine gesellschaftlich konstruierte Norm darstellt, die in vielen Gesellschaften historisch als Standard gesetzt wurde, um Machtverhältnisse und Privilegien zu sichern.

Natasha A. Kelly
ist Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin und Mitglied des Black Speculative Arts Movement (BSAM). Die globale kreative und intellektuelle Bewegung erforscht Kunst, Kultur und Technologie, um Schwarze Zukunftsvisionen und alternative Realitäten durch Afrofuturismus und andere Formen der spekulativen Kunst zu gestalten und zu fördern.

Afrofuturistic Art

The New Queen’s Gate

Das Bild des kanadischen Afrofuturisten Quentin VerCetty Lindsay gehört zum Berliner Symposium „The Comet – Afrofuturismus 2.0“, das Natasha A. Kelly 2018 im Rahmen des Black Speculative Arts Movement (BSAM) kuratierte. Indem VerCetty die afrikanische Diaspora in Deutschland thematisiert, verbindet er Schwarze Geschichte mit Zukunftsvisionen – und symbolisiert kulturellen Widerstand und Ermächtigung in einer Gesellschaft, die noch von kolonialen Erinnerungen geprägt ist. Das Brandenburger Tor, einst mit dem preußischen Imperialismus verbunden, wird neu hinterfragt.

Afrofuturismus The New Queens Gate

L’Évangile Selon Goly

Der kamerunische Künstler Franck Toh verbildlicht den Zusammenhang zwischen Missionierung und Kolonialisierung und verweist auf das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Das Bild reflektiert zentrale Themen des Afrofuturismus wie kulturelle Identität, Technologie und Wissensvermittlung – und symbolisiert die Suche nach einer neuen, selbstbestimmten Identität Afrikas.

Afrofuturismus Franck Toh

Afrotopia 1

Das 2016 entstandene Bild des US-amerikanischen Künstlers Stacey A. Robinson symbolisiert eine Schwarze Utopie, die Identität, Wissen und Macht in einer grenzenlosen Zukunft neu definiert. Durch die Rekombination von Elementen des Schwarzen Kulturarchivs schafft Robinson Visionen einer freien, Schwarzen Zukunft, die auf einer Neuerfindung der Vergangenheit basieren.

Afrofuturismus Afrotopia Bild

Literatur

Anderson, Reynaldo und Jones, Charles E. (2015): Afrofuturism 2.0: The Rise of Astro-Blackness. Lanham/London

Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant than the Sun: Adventures in Sonic Fiction. London

Kelly, Natasha A. (2019): At the End of ,Dasein‘. An Afro-German Voyage Into the Future. In: Anderson, Reynaldo und Fluker, Clinton R. (Hg.): The Black Arts Movement. Black Futurity, Art and Design. Lanham, S. 11–26

Kelly, Natasha A. (Hg.) (2020): The Comet – Afrofuturism 2.0. Berlin

Das Ende der Innovation

Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, Brücken sind marode, das WLAN funktioniert nicht. Service-Chatbots treiben uns in den Wahnsinn. Social-Media-Plattformen verkommen zu Generatoren von Hass, Spaltung und Fake News. Und das Passwort fürs Online-Banking haben wir schon wieder vergessen…

von Lena Papasabbas

16. Januar 2025

Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus wenig vertrauenserweckenden Informationsströmen, KI-generiertem Contentbrei und umständlichen Login-Prozessen verwandelt. Statt unsere Lebensqualität zu erhöhen, versuchen wir, uns mit Digital Detox, Offline-Zeiten und reduzierter Bildschirmzeit aus den digitalen Zeitlöchern zu kämpfen und ein bisschen analoges Leben zu retten.

Und dabei leben wir doch im “Zeitalter der Innovation“. So jedenfalls tönt es auf allen Business-Konferenzen und von allen Tech-Giganten. Eine Geschichte, die so oft wiederholt wurde, dass alle sie irgendwie glauben. Sie zu hinterfragen, wäre geradezu peinlich. Man möchte ja nicht von gestern sein. Und schließlich haben wir alle schon beeindruckt mit ChatGPT geplaudert. Was aber, wenn das Narrativ vom rasenden Innovationszeitalter völlig übertrieben ist?

Klar, künstliche Intelligenz kann in datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber nehmen wir einmal an, all die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – KI, Quantencomputer, supersmarte Glasses und Watches – wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme.

Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.

Innovationen überall

Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Buch The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation – weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit und Wachstum – aber kaum jemand ist wirklich innovativ.  Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Das führt über kurz oder lang zu Enttäuschung, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen. 

Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie ist oft leise und entwickelt sich graduell – und nicht mit einem großen Knall. Echte Innovation verbessert unser Leben, statt es noch komplizierter zu machen.

Die Welt, in der wir leben, funktioniert nicht dadurch, dass wir ständig neue Dinge erfinden, sondern zu einem großen Teil durch Erhalt, Wartung, Pflege und Integration langsamer Verbesserungen.

Das Neue als das Bessere

Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere.

Wir waren lange geblendet von einem nie dagewesenen Hype um Innovation. Doch inzwischen sind wir innovationsmüde. Heute stehen wir da, mit all unseren schönen neuen Gimmicks und Gadgets. Und wundern uns, dass in dieser schönen neuen Technikwelt nichts mehr so richtig funktioniert. Nicht nur für uns persönlich. Auch gesamtgesellschaftlich scheint es überall zu bröckeln.

Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz geworden sind. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in  „Technolutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“. Statt uns als Gesellschaft zu dienen, hat der Hype um Innovation also vor allem dem Wachstumskapitalismus als Hebel genutzt, um uns zu immer besseren Konsument:innen zu machen.

Stabilität statt Innovation

Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit Systemwissen, Pflegekräfte, Putzkräfte, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter schlechtem Image. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern “nur” die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.

Menschen, die dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Doch die entscheidenden Innovationsfelder der Zukunft liegen weder im Hightech noch auf dem Mars.  Sie liegen in scheinbar profanen Dingen wie Krankenpflege, Bildungswesen, Infrastrukturen, verlässlicher Logistik und Transport, Gastfreundschaft und funktionierender Zwischenmenschlichkeit.

Next Age?

12 mögliche Epochen der Zukunft

Welchen Namen könnte das Next Age, das sich gerade herausbildet, tragen? Die hier versammelten Vorschläge sind zugespitzte Szenarien: Gedankenexperimente, die in dieser Absolutheit nicht zu erwarten sind – aber jeweils bestimmte Eigenschaften und Merkmale aufweisen, die das Next Age mitprägen werden. Die Frage ist nur: in welchem Ausmaß? 

Ein Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Matthias Horx

27. November 2024

The Solar Age

Das Sonnenzeitalter

Das nächste Zeitalter steht ganz im Zeichen der Sonne. Nach dem Ende der Ära der fossilen Verbrennung entsteht eine neue Kultur, in der Energie preiswert und üppig zur Verfügung steht. Technologien „solarisieren“ sich, Architekturen verändern sich ästhetisch und energetisch – unsere Denk- und Lebensweisen werden vom Zentralgestirn erleuchtet.

Das Anthropozän

Die Herrschaft des Menschen über die Natur

Im Anthropozän hat die menschliche Spezies sich endgültig den Planeten Erde unterworfen: die ganze Biosphäre, die Wälder, Meere, Wüsten und schließlich auch den erdnahen Weltraum. Statt sich der Natur anzupassen, wird alles „terraformt“. Nach dem Vorbild der Arabischen Emirate, in denen riesige künstliche Städte und Landschaften entstehen, erobern die menschlichen Infrastrukturen endgültig den Planeten und formen ihn um. Aber das muss nicht in die Katastrophe führen. BioTechs und SynTechs ermöglichen organische Landschaftsgestaltungen, in denen Technologie und Natur neue Symbiosen eingehen. Oder wie der US-amerikanische Zukunftsforscher Stuart Brand schon 1968 als Motto seines „Whole Earth Catalog“ formulierte: „We are like gods and might as well get good at it.“

The Neo-Nomadic Age

Das Zeitalter der neuen Völkerwanderungen

Die klassischen Staatengebilde zerfallen langsam, Grenzen verschwimmen. In einer hypermobilen Welt werden immer mehr Menschen zu Nomaden, die von Ort zu Ort ziehen (oder nicht mehr dort leben, wo sie herkommen). Populationen wandeln sich. „Bürgerschaften“ entstehen aus freien Zusammenschlüssen, ähnlich wie in der Gründerzeit Amerikas, Offshore-Gemeinschaften boomen. Exodus wird ein normales Verhaltensmuster im Zeichen von Krisen und Diktaturen. Aus jedem Flucht-Camp wird früher oder später eine stabile Gemeinschaft mit eigenen Rechten, Strukturen und Lebens- weisen. Den Wandernden gehört die Welt.

Die Metamoderne

Die Evolution zum Komplexen

Die Ära der Metamoderne ist eine kulturelle und philosophische Bewegung, die auf die Postmoderne reagiert. Sie zeichnet sich durch eine Wiederbelebung von Sinn, Gemeinschaft und Fortschrittsglaube aus – während sie gleichzeitig die Unsicherheiten und Widersprüche der postmodernen Welt anerkennt. In der Metamoderne geht es darum, Komplexität und Ambiguität zu umarmen, ohne die Suche nach Lösungen und positiven Veränderungen aufzugeben.

Das Zeitalter der Anomie

Die Ära des Chaos und der Rudelbildung

Anomie bezeichnet einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnungssysteme. Fortschreitende Gesetz- und Regellosigkeit, immer schwächere Institutionen und zerbröckelnde Infrastrukturen können die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleisten. Die Folge ist eine tribale Renaissance: Gangs und Neo-Stämme haben in einer chaotischen Welt die besten Überlebenschancen. Überall Sekten, Banden, Konglomerate, Mafias, korrupte Systeme, die in gesetzlosen Kleinstaaten und „lost countries“ gegen- einander kämpfen oder sich miteinander verbünden. Die Welt verwandelt sich in eine „Mad Max“-Dystopie mit trumpistischen Zügen.

Das Cthulhuzän

Das Zeitalter der Multiwesen

„Cthulhu“ ist eine fiktive Kreatur aus einer Kurzgeschichte des US-amerikanischen Schriftstellers H.P. Lovecraft – und der Name einer ganz realen kalifornischen Spinne: Pimoa cthulhu. Das Wort beinhaltet aber auch eine Referenz an die Erdgöttinnen oder die Kräfte der Erde, die von animistischen und pantheistischen Glaubensrichtungen verehrt werden. Ausgerufen hat das Cthuluzän die US-amerikanische Biologin und feministische Theoretikerin Donna Haraway: Im Gegensatz zum Anthropozän steht hier nicht der Mensch in Zentrum der Ge- schichte, sondern das Leben aller Arten und Kreaturen, seien es Oktopusse, Korallen oder Pilze. In Haraways „magischen“ Büchern wimmelt es von Primaten und Cyborgs, die Grenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt ebenso wie die Grenze zwischen Mensch und Maschine.

Das Virtualozän

Die Flucht in die Simulationen

Der Cyberspace wird Wirklichkeit, die virtuelle Welt stülpt sich endgültig über die menschliche Kultur. Wir realisieren, dass es keine „Realität“ mehr gibt – wir aber auch keine mehr brauchen. Die Wirklichkeit war sowieso nur eine Illusion. Immer mehr Menschen emigrieren in Rundum-Simulationen, die von wenigen monopolistischen Superkonzernen beherrscht werden, und in denen man alle Wünsche, Träume, Fantasien verwirklichen kann. Die begehrtesten Tech-Gadgets sind Simulationsanzüge, die Hirn und Körper stimulieren. Viele finden aus den künstlichen Welten gar nicht mehr heraus.

The Age of Singularity

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine

Geht es nach dem US-amerikanischen Superfuturisten Ray Kurzweil und seiner Fangemeinde, endet 2046 die Welt, in der Menschen sterben müssen. Mit dem Erreichen der „Singularität“ wird das Tempo der technischen Entwicklung so schnell, dass Supertechnologien entstehen, in denen der Mensch aufgeht. Wir werden unsere Identitäten auf riesige Quantencomputer hochladen und ein ewiges glückliches Leben führen. Eins sind der Mensch und das Himmelreich, in silicium. Amen!

The Re-Generation Age

Die Ära des Heilens und Verbindens

Unsere Welt ist erschöpft, überstresst und „aus den Fugen“. Wir leben in einer zersplitterten Wirklichkeit, die sich nach Regeneration sehnt. Nach Heilung und Ganzheit, nach Ent-Schleunigung und Ver-Bindung. In einer Epoche der Regeneration widmen wir uns dem Verbindlichen, dem Heilenden und Zusammenfügenden. Wir bilden neue Gemeinschaften, überwinden die Wegwerfgesellschaft und entwickeln eine neue Kultur des Zuhörens, die die Demokratie stärkt und erneuert. Wir lernen, wieder überzeitlich zu denken – posterity statt prosperity. Unser Leben ist wieder auf die Nachkommen- den ausgerichtet. Wir begleiten uns selbst liebevoll durchs Leben – und tun dies auch mit anderen. Aus dem Wort „kümmern“ verschwindet der Kummer.

Das Sinozän

Das Zeitalter der chinesischen Dominanz

China wird zur Mega-Supermacht des 21. Jahrhunderts. Nachdem es quasi die Monopolherrschaft über die wichtigsten Zukunftstechnologien übernommen hat und reihenweise Durchbrüche in Sektoren wie Gentechnik, Quantentechnik und Lebensverlängerungsmedizin erzielen konnte, steigt es auch zur hochtechnologisch führenden Nation auf, einschließlich eines unbesiegbaren Militärs. Die USA dekonstruieren sich nach einem Quasi-Bürgerkrieg 2025 selbst. 2030 gründet China den Großen Asiatischen Staatenbund, dem auch Indien beitritt. 2050 verkündet China das endgültige Aus für alle fossilen Energien, einschließlich des Baus von 100 großen Fusionskraftwerken.

Das Urbanozän

Das Zeitalter der Gigastädte

Heute leben bereits mehr als 50 Prozent aller Menschen in Ballungs-Agglomerationen mit mehr als 10 Millionen Einwohner:innen. In 500 Megastädten werden bald 3 Milliarden Menschen leben. Die Verdichtung führt zu immer mehr Differenzierung, Individualisierung und energetischer Aktivität, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Irgendwann werden so gut wie alle Menschen in verdichteten Konglomeraten leben. Auf dem Land regieren die Agrarroboter, und ein erheblicher Teil der Bevölkerung zieht auf riesige Kreuzfahrtschiffe, auf autonome Inselarchipele oder in künstliche Wüsten-Superstädte – „The Line“ in Saudi-Arabien liefert einen Vorgeschmack.

Das Symbiozän

Das Zeitalter der Verbindungen

Nach Ansicht des australischen Philosophen Glenn A. Albrecht sollte die nächste Ära der Menschheitsgeschichte die Bezeichnung „Symbiozän“ erhalten. Symbiose bezeichnet den Lebenszusammenhang zum gegenseitigen Nutzen. Nach der Logik von Trend und Gegentrend entsteht ein Zeitalter, in der wir einen freundlichen Umgang mit Ökonomie, Ökologie und uns selbst erlernen – eine „Kindness Economy“.

Suche nach der verlorenen Zukunft

Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Matthias Horx

7. November 2024

Kennen Sie das Doomfeeling? Man wacht morgens auf. Stellt das Radio an oder scrollt die Nachrichtenseiten. Plötzlich wird einem übel. Schwindelig. Irgendwo hat wieder ein dumpfer Idiot die Macht übernommen. Eine hässliche Partei Wahlen gewonnen. Ein Krieg ist ausgebrochen, der kein Ende findet. Das Internet spuckt irgendwelche Berge von Müll und Hass aus. Irgendwo tobt ein schrecklicher Sturm. Alle streiten sich unentwegt um irgendeinen Unsinn. Wir werden das Gefühl nicht los, dass alles den Bach runtergeht: die Wahrheit. Die Hoffnung. Die Liebe.

„Beyond“ bedeutet „darüber hinaus“. Oder „jenseits davon“. In Beyond 2025 geht es vor allem um die Frage, wie wir alle – jede:r Einzelne, aber auch die gesamte Gesellschaft – zur Zukunft stehen. Wie gehen wir mit ihr um? Wie konstruieren wir sie? Was unterscheidet etwa Visionen von Utopien? Utopien schreiben eine Zukunft fest, die niemals erreicht werden kann – und sich deshalb selbst zerstört. Visionen hingegen sind Orientierungen, Leuchsterne beim Finden des besseren Weges. Wenn man das Utopische mit dem Visionären verbindet, kann etwas Besseres entstehen. Neben der Utopie gibt es auch noch die Protopie, die Eutopie oder die Polytopie – Varianten des Möglichkeitsraums, den wir als „Zukunft“ wahrnehmen.

Es sind die Tiefenfragen unserer Zeit, die uns in Beyond 2025 bewegen: Wie verändert das Gespenst der „Künstlichen Intelligenz“ unsere Selbstbilder und menschlichen Fähigkeiten? Wie kann das „Solar Age“, das Zeitalter der kosmischen Energie, zur Realität werden – oder ist es das möglicherweise schon? Wie muss sich der Wandel selbst wandeln, damit das Neue wahrhaftig werden kann? Welche Denk- und Fühlweisen folgen auf die ermüdeten Narrative der Moderne und der Postmoderne?

Naomi Alderman, die Autorin des weltweit zum Bestseller avancierten Romans „The Future“, formulierte einmal eine pfiffige Frage: „Was ist die nützlichste Information, die du über dein Leben haben kannst? Der Name der Epoche, in der du leben wirst.“

Es geht um das Next Age. Um die Epoche, die nach der Omnikrise beginnt. Denn nach jeder chaotischen Phase folgt wieder eine Renaissance. Können wir gemeinsam in die nächste Epoche hineinfühlen, hineinspüren? Dem Kommenden einen Namen geben? Einen Mythos finden?

Machen wir Zukunft. Jetzt und hier, trotz allem, das uns bedrückt.

The Good Zone – Die Welt kann besser werden

von The Future:Project

28. August 2024

Kriege, Polarisierung, Hasskultur, Klimakrise. Die Zukunft sieht ganz schön düster aus. Manchmal fragen wir uns, kann eigentlich noch irgendwas die Zukunft retten? Wie ist das alles nur möglich, was uns jeden Tag verunsichert, ängstigt, irritiert, fertig macht?

Aber dann kippt etwas – und zwar innerhalb weniger Tage, wie zuletzt im US-amerikanischen Wahlkampf. Man nennt das einen „Semantic Shift“: Plötzlich sind Bedeutungen, die milliardenfach durch die Medien gegangen sind und sich in Abermillionen von Hirnen eingespeichert haben (Trump ist gefährlich, wir müssen uns fürchten, die Demokratie ist verloren, die Bösen gewinnen, man kann sowieso nichts machen…) umcodiert worden. 

Manchmal ist ein einziges Wort entscheidend, um diesen Tipping Point herzustellen. Weird. Durch diese Vokabel erscheint Trump plötzlich nicht mehr als der dämonische Deutungsmächtige, Gefährliche, Unaufhaltbare. Sondern als der verrückte alte Narzisst, der er tatsächlich ist. Nicht für alle, aber für immer mehr Menschen findet hier ein Abschied vom Dämonischen statt. Und das ist mit viel Lachen und Freude verbunden. 

Zuständig für diese erstaunliche Wandlung ist eine Zukunfts-Kraft, die sich spontan bilden kann, auch und gerade in einer Zeit der Omnikrise: Die Zuversicht. Während Hoffnung wartet, dass irgendwo „von oben” Erlösung kommt, ist die Zuversicht offen für das Staunen. Und im Staunen verwandeln wir uns selbst. 

Zukunfts-Momentum

Momentum. Das ist ein Moment, in dem sich die Dinge neu, zum Zukünftigen hin, zusammenfügen. In der Systemforschung nennt man das Emergenz. Die überraschende Fähigkeit von Individuen, Gruppen, Gesellschaften, Organisationen, Kulturen, sich plötzlich spontan und kreativ zu verwandeln. Man kann die Welt zum Leuchten bringen, wenn man ihre in die Zukunft gerichtete Komplexität versteht. Wie der Komplexitätsforscher Neil Theise, Professor für Pathologie, Zen-Schüler und  Pionier auf dem Gebiet der Plastizität adulter Stammzellen, in seinem Buch „Notes on Complexity” formulierte: „Komplexität hat das Potential, die ganze Welt von einer Wolke der Möglichkeiten  in eine andere zu schieben.” 

Um unser inneres Zukunftsmomentum zu finden, sollten wir zunächst unsere Mediengewohnheiten überprüfen. Was lesen wir, was sehen wir, was nehmen wir von der großen Welt um uns herum tatsächlich wahr? In einer Zeit, in der die Medien zu Verstärkern von Erregungen geworden sind, ist das eine entscheidende Frage. Wir alle leben inzwischen in einer kognitiven Blase, in der das Negative, Unlösbare überwiegt, einfach weil es mehr Aufmerksamkeit erregt. Das heißt nicht, dass das Schlechte nicht existiert. Aber wir werden es nur vom Besseren aus verändern können.

Das Gelingende wird ausgeblendet. Aber steht es wirklich so schlecht um unsere Welt? Geht wirklich alles den Bach herunter, auf unserem Planeten? Wir haben eine kleine Auswahl von Zuversichten zusammengestellt: Narrative, Fakten, Trends und Geschichten über unsere Welt, in denen das Bessere aufscheint. Das Momentum, in dem die Welt sich verwandelt.

1. Die Wale kehren zurück

Nach Jahrzehnten des Walfangs erholen sich die Bestände vieler Walarten wieder. Besonders erfreulich ist die Nachricht, dass die Population der Buckelwale in der Cumberland Bay auf den Südgeorgischen Inseln fast wieder auf das Niveau von 1904 angestiegen ist. Diese Entwicklung zeigt, dass Naturschutzmaßnahmen tatsächlich wirken und die Natur sich erholen kann. Ein Wal bindet während seines Lebens die gleiche Menge Kohlenstoff wie tausend Bäume. Das heißt, durch die Wiederherstellung der Walpopulation kann auch das Ökosystem der Meere wiederhergestellt und die Folgen des Klimawandels abgemildert werden.  

2. Das Solarzeitalter hat begonnen

Die Kosten für Solarenergie sind in den letzten Jahren dramatisch gesunken – allein von 2010 bis 2022 um fast 90 Prozent. Dies hat die Solarenergie zur günstigsten Stromquelle weltweit gemacht. Länder wie China, die USA und Indien investieren massiv in erneuerbare Energien, was den globalen CO2-Ausstoß langfristig reduzieren könnte.

3. Bildung wird zum Allgemeingut

Die Alphabetisierungsrate weltweit ist beeindruckend gestiegen. 1980 konnten etwa 68 Prozent der Weltbevölkerung lesen und schreiben, heute sind es 87 Prozent. Der Trend geht ganz klar in Richtung mehr Zugang zu Bildung für alle.

4. Der Hunger wird enden

Dank globaler Initiativen und struktureller Veränderungen ist ein Ende des Hungers in Sicht. Organisationen wie die „World Central Kitchen“ leisten unermüdliche Arbeit, um Menschen in Not mit frischen Mahlzeiten zu versorgen. Diese und andere Maßnahmen könnten dazu führen, dass Hunger in naher Zukunft weltweit der Vergangenheit angehört.

5. Gender Shift: Gleichberechtigung kommt

Immer mehr Frauen sind in Parlamenten vertreten, und die Rechte queerer Menschen verbessern sich weltweit. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Anteil weiblicher Abgeordneter stetig erhöht, und zahlreiche Länder haben Gesetze verabschiedet, die die Rechte von LGBTQ+ Menschen stärken.

6. Das Comeback der Wälder

Wälder auf der ganzen Welt erholen sich. So gibt es heute in den USA mehr Bäume als vor 100 Jahren. Initiativen wie Plant for the Planet pflanzen Millionen Bäume weltweit, was nicht nur zur Bekämpfung des Klimawandels beiträgt, sondern auch Lebensräume für unzählige Arten wiederherstellt.

7. Die Welt wächst zusammen

Globalisierung und technologische Fortschritte haben die Welt näher zusammengebracht. Internationale Kooperationen und Initiativen fördern den Austausch von Ideen und Ressourcen, was zu einer besseren Bewältigung globaler Herausforderungen führt. In einer globalen Umfrage in 18 Ländern gab etwa die Hälfte der Befragten an, sich eher als Weltbürger:innen zu fühlen, denn als Bürger:innen ihrer Nation.

8. Hitze wird handlebar

Innovative Lösungen helfen, mit extremer Hitze umzugehen. So entstehen etwa Gebäude, deren Fassaden nach dem Vorbild von Elefantenhaut gebaut werden, um die Hitze abzuhalten. In Afrika wächst ein Baumgürtel, der die Ausbreitung der Wüste aufhalten und das Klima stabilisieren soll.

9. The Good Zone: Die Welt kann besser werden

Es gibt immer mehr Plattformen, die konstruktive Nachrichten verbreiten und positive Entwicklungen in den Vordergrund stellen. Portale wie „Reason to be Cheerful“ oder „Positive News“ zeigen, dass es zahlreiche Gründe gibt, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Welche Transformationen führen uns aus der Krise? In unserer neuen Meta-Studie „Omniskrise“ zeigen wir weitere konstruktive Wege in die nächste Gesellschaft auf.

Abschied von den Megatrends

Warum die Zukunft nicht (mehr) geradeaus liegt

Der Begriff „Megatrend“ hat in den letzten zwanzig Jahren eine steile Karriere zurückgelegt. Megatrends reduzieren Komplexität, indem sie vielschichtige Phänomene wie Globalisierung oder Digitalisierung auf einen simplen Begriff zurückführen. Doch diese Form der linearen Zukunftserzählung funktioniert in unserer heutigen Zeit nicht mehr. Das Zeitalter der Megatrends ist vorbei.

von Matthias Horx

Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Beyond 2024 – Das Jahrbuch für Zukunft“

25. Oktober 2023

In den vergangenen zwanzig Jahren hat der Begriff „Megatrend“ eine steile Karriere zurückgelegt. Geprägt von dem amerikanischen Publizisten John Naisbitt, bezeichnet der Begriff die langfristigen Big Shifts, die unsere Welt verändern: Digitalisierung, Globalisierung, Urbanisierung, Alterung, Individualisierung, Klimawandel. 

Megatrends sind beliebt, weil sie die Vielschichtigkeit der Welt auf einen simplen Begriff reduzieren. Sie suggerieren ein verlässliches Geradeaus. Das entlastet unser kognitives System, führt aber auch zu Wahrnehmungsverzerrungen. Zu Zukunfts-Halluzinationen.

Nehmen wir die Globalisierung, den gewaltigen ökonomischen Leit-Trend der vergangenen 30 Jahre. Wir erwarten, dass es immer so weitergeht mit dem globalen Marktgeschehen. Das rasend schnelle Zusammenwachsen der Weltwirtschaft zu einer einzigen ökonomischen Sphäre, einem Superweltmarkt, ist sozusagen gesetzt. Aber heute sieht man eher das Gegenteil: Neue Brüche entstehen, Kriege und Turbulenzen wuchern, Pandemien verändern die Spielregeln. Wir erleben ein Zerfasern der globalen Wertschöpfungs- und Wertschätzungsketten. Wie beschreiben wir diese neue Wirklichkeit, diese paradoxe Dynamik – in der sich, wenn man genauer hinschaut, zugleich schon eine neue Weltordnung abzeichnet? 

Das Versprechen der Digitalisierung

Oder betrachten wir die Konnektivität, die Digitalisierung. Je mehr das Digitale in unsere Alltagswelt eindringt, desto mehr enthüllt es seine Schattenseiten. Schaut man aber durch die Brille „Digitalisierung“, kann man diese Schatten nicht wahrnehmen. Auf eine paradoxe Weise verbindet Digitalisierung nicht Systeme, Menschen und Kulturen zu einer immer höheren Konnektivität, sondern entfremdet und zersplittert sie. Digitalisierung erzeugt selten seamlessness, sondern produziert Myriaden von „Schnittstellen“ (wörtlich), die gewachsene Systeme zerstören – und unser Leben eher unsicherer und konfuser machen.  

Die Digitalisierung ist die heilige Zukunfts-Kuh unserer Tage. Dass sie gerade dabei ist, an vielen Fronten zu scheitern, wird in der technoiden Zukunfts-Debatte kaum erörtert. Die ist nämlich rein linear: Digitalisierung wird als Lösung für Probleme propagiert, die sie gar nicht lösen kann. Und alle nicken brav mit den Köpfen. Nein, es geht mir nicht um eine „Abschaffung“ der Digitalisierung – die ohnehin nicht möglich wäre. Sondern um ihre sinnvolle Implementierung. Um eine Human Digitality.

Auch der Megatrend Individualisierung fliegt uns derzeit um die Ohren. Das liegt auch daran, dass Individualisierung und Individualität ständig in einen Topf geworfen werden. Individualismus ist eine Ideologie der egoistischen Abgrenzung, Individualität die Formung eines stabilen Selbst in Verbundenheit. Individualismus macht uns zu Konsumierenden, Einzelnen, Ichlingen. Individualität macht uns zu Mit-Menschen, die sich auf neue Weise vereinbaren. Das zu differenzieren, ist vielleicht der Schlüssel zur Frage, wie das Miteinander in einer hypervernetzten Co-Society aussehen könnte.

Jeder Trend hat einen Tipping Point

Jeder Trend, ob groß oder klein, gerät irgendwann in eine Sättigung. An einen Tipping Point, an dem er seine Richtung ändert. Jeder Trend erzeugt früher oder später Gegentrends, aus denen Paradoxien entstehen, die nur auf einer höheren Komplexitätsebene gelöst werden können. So hat die Globalisierung einen massiven Gegentrend zum Nationalismus erzeugt – aber was kommt danach? Die evolutionäre Dynamik dieser Trend-Gegentrend-Spiralen zu beschreiben, das „verschlungene Wesen der Welt“ zu verstehen (so der Zen-Philosoph Mathieu Richard), wäre die Königskunst einer neuen Zukunftsforschung.

Wache Zukunftsforschung

Langsam wird auch deutlich, dass die bekannten Megatrends aus einer eingeengten Sichtweise stammen. „Globalisierung“ war immer ein Begriff, der sich aus den Interessen und Perspektiven des industriellen Westens heraus definierte – auch wenn er von Eliten in anderen Ländern benutzt wurde. Vielleicht muss Trend- und Zukunftsforschung auf gewisse Weise „woke“ werden. Damit meine ich nicht den hysterischen Übermoralismus, der heute die Diskurse verdirbt. Sondern die Urbedeutung von woke: als Wachheit der Wahrnehmung. Als die Fähigkeit, über den eigenen Definitionshorizont hinauszudenken. Und zu einem tatsächlich globalen oder planetaren Denken zu gelangen.

Humanistischer Futurismus

Wie die Zukunftsforschung wieder zu ihrer­ eigentlichen Bestimmung finden könnte.

Eine Zukunft, die auf uns zukommt wie eine rasende Lokomotive in einem Tunnel, macht ohnmächtig und passiv. Dabei bleibt Zukunft immer offen – weil Menschen durch ihre Entscheidungen, Handlungen, Zukunft erst produzieren. Es ist an der Zeit, Zukunftsforschung wieder auf ihre universalistischen, humanistischen Elemente zurückzuführen.

von Matthias Horx

19. Oktober 2023

Haben Sie irgendwo die Zukunft gesehen?

Ich meine: Die richtige Zukunft. Nicht nur Waldbrand, Artensterben, Krieg, Kulturkampf oder eine digitale Superintelligenz, die uns entweder umbringt oder von allen Übeln erlöst. Sondern eine Zukunft, die als Vorstellung eines Besseren dienen kann. Als Orientierung im Wandel der Zeit. 

Es sieht so aus, als ob uns diese Zukunft in dem rasenden Jetzt, in dem wir heute leben, verloren gegangen ist. Ähnlich wie die Politik, hat sich die Zukunft in zwei diametrale Lager aufgespalten, die einen Trichter der Unsicherheit hinterlassen:

  • Entweder wird Zukunft als naiver Technik-Utopismus verstanden, als Produkt technologischer Sensationen und digitaler Wunder: Mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz werden alle Probleme der Menschheit gelöst, Roboter übernehmen den Alltag, demnächst schrauben wir uns Sensoren ins Hirn, die uns hundertfach intelligenter machen, und bald schon leben wir auf dem Mars… 

  • Oder die Zukunft tritt uns als prophetische Untergangs-Dystopie gegenüber, in der die Apokalypse unausweichlich ist, ja längst schon begonnen hat: Alle Wälder werden brennen, Bürgerkriege die Städte zerstören, und der Meeresspiegel steigt auf die Höhe Kitzbühels…

 

Artikelbild Humanistischer Futurismus

Sinnlose Zukünfte

Während die Zukunft sich in zwei Unmöglichkeiten aufspaltet, wird sie gleichzeitig zu einem entleerten Klischee. Überall ist ZUKUNFT, immer groß geschrieben. Sie springt einem entgegen aus den Katalogen von Gebietskrankenkassen („Zukunft für Profis!“), aus den Image-Broschüren von Versicherungsunternehmen („Zukunft zählt“), sie prangt auf den Werbeplakaten in Tankstellen („Tanken Sie Zukunft!“) und auf Lastwagenplanen („Wir transportieren Zukunft!“). Illustriert wird das meistens mit Frauenköpfen, die sich in Pixel auflösen, oder blauen Bildschirmwelten – „irgendwas mit digital“. Menschen kommen in dieser Klischee-Zukunft allenfalls als lächelnde Datenträger vor. 

„Future is an Attitude“, lautet der Image-Claim einer großen deutschen Automarke. Eine doppelseitige Anzeige dazu zeigt einen metallisch glänzenden Boliden, ein phallisches, elektrogetriebenes Männergeschoss, in dem niemand zu sehen ist, vor einer einsamen Wüstenlandschaft. 

„Servus Zukunft“ dichtete eine Partei im bayerischen Wahlkampf. Servus heißt auf bayrisch auch „Auf Wiedersehen“.

Neben Greenwashing, Socialwashing und Purposewashing gibt es nun auch ein monströses Futurewashing.  

Artikelbild Humanistischer Futurismus

Die kognitive Krise

Zukunft ist immer eine Narration. Eine Erzählung, eine „Story“, die sich Menschen, Gesellschaften, Zivilisationen erzählen, und mit der sie sich „nach vorn ausrichten“. Zukunft ist eine Art Super-Mem, das in unseren Köpfen Sinn erzeugt. In der Epoche, die nun zu Ende geht, war die Narration des (linearen) Wohlstands oder Fortschritts ein verlässlicher Rahmen, der unsere Handlungen und Deutungen trotz aller Unterschiede und Konflikte synchronisierte. Doch die Zukünfte von gestern müssen nicht die Zukünfte von morgen sein. 

Wenn Gesellschaften – oder auch Individuen – ihre Zukunfts-Narrative verlieren, kommt es zu Regressionen, Aggressionen, Sinnkrisen und Kulturkämpfen. Genau das erleben wir heute, vor allem in den USA. Der größte Sehnsuchts-Trend unserer Zeit ist wahrscheinlich die Retrotopie: Alles soll wieder so werden wie „damals“. Viele Menschen sehnen sich nach einer Vergangenheit, in der zwar manches viel schlechter war, aber man davon keine Ahnung hatte. 

Zeit für neue Narrative

Kann die Zukunftsforschung solche erzählerischen Verankerungen bieten? Ja, aber sie müsste sich selbst verändern. Sie müsste aufhören, Zukunft primär aus den Perspektiven von Ökonomie und Technologie zu konstruieren – als großes Muss und Soll, als das, „an was wir uns anpassen müssen“. Sie müsste sich überhaupt von normativen Zukünften verabschieden, von belehrenden Prophezeiungen eines imaginären Endzustandes, nach dem Motto „Das kommt auf uns zu!“.

Eine Zukunft, die auf uns zukommt wie eine rasende Lokomotive in einem Tunnel, macht ohnmächtig und passiv. Sie handelt von Vorbestimmtheiten. Vom Unvermeidlichen, dem wir ausgeliefert sind. Damit ist die Zukunft schon verloren. Das Wesen der Zukunft ist aber, dass sie immer offen bleibt. Weil wir an ihr beteiligt sind. Weil Menschen durch ihre Entscheidungen, Handlungen, Zukunft erst produzieren.

Zukunft ist kein Trend. Sie ist auch keine fixierte Tatsache, oder „Prognose“. Sie ist eine Beziehung. Darum geht es in der neuen Zukunftsforschung: Unser Verhältnis zum Kommenden, im Sinne einer gestaltbaren Verbindung.

Artikelbild Humanistischer Futurismus

Was ist „Humanistischer Futurismus“?

Es ist an der Zeit, Zukunftsforschung wieder auf ihre unversalistischen, humanistischen Elemente zurückzuführen. Und sich wieder mehr dem Menschen und dem Menschlichen zuzuwenden, den Wünschen, Träumen und Hoffnungen, in denen sich die „Zukunft in uns“ spiegelt. Deshalb haben wir uns beim Future:Project dem humanistischen Futurismus verschrieben.

Humanistischer Futurismus… 

  • überwindet den engen Blickwinkel von Technologie und Ökonomie. Zukunft entsteht im Zusammenwirken von Kultur, Bewusstsein, Ökonomie und Technologie. Ohne ein Verständnis dieser Wechselwirkungen ist auch ein Verständnis von Zukunft nicht möglich.

  • beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von innerer und äußerer Zukunft (Bewusstsein und Welt): Wie entsteht aus gesellschaftlichen, ökonomischen, technischen und individuellen Prozessen die Wirklichkeit von morgen? Wie wirken aber auch Visionen, Utopien, Zukunfts-Narrative, mächtige Meme, auf die Wirklichkeit zurück?

  • sieht den Menschen als Zukunftswesen, das nach dem Anderen und Besseren strebt, ohne das Perfekte jemals zu erreichen. Menschliche Zukunft bleibt immer „Work in Progress“. Aber Fortschritt findet statt – trotz aller Rückschläge.

  • sieht sich als Advokat möglicher humaner Zukünfte, die er gegen menschenfeindliche Utopien und posthumanistische Exzesse verteidigen will.

     
  • ist dem neuen Langzeitdenken verpflichtet. Er verabschiedet sich vom „rasenden Jetzt“ und versucht, die langen Zeiträume unserer Existenz zu erforschen – auch in dem, was über unser persönliches Leben hinausreicht.

  • denkt (und fühlt) über die klassischen „westlichen“ Zukunftsmodelle hinaus. Er öffnet sich einem neuen Narrativ der evolutionären Menschheitsgeschichte, in dem sich verschiedene Kultur- und Zukunftsmodelle integrieren können.

  • entwickelt ein konstruktives Verhältnis zum Phänomen der Krise. Krise bedeutet, dass das Alte und das Neue in eine Dissonanz getreten sind, dass die alten Rahmungen nicht mehr mit den neuen Realitäten zusammenpassen – dass etwas Besseres entstehen muss. Das bringt Unruhe und Unsicherheit, aber wir können lernen, die Krise produktiv zu wenden und zu gestalten.

„Es ist nicht leicht, über die Zukunft zu sprechen, ohne gleich in Beschleunigungs-Hysterie oder in ein anderweitig apokalyptisches Fahrwasser zu geraten. Man kann sich auf die Zukunft nicht mehr verlassen. Man muss dafür sorgen, dass es überhaupt noch Zukunft gibt.“

Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin