Ein interdisziplinäres Portal

Über die Anthologie „The Comet. Afrofuturism 2.0“

Eine Rezension von Taja Anto

25. Juni 2025

Mit „The Comet. Afrofuturism 2.0“ gab die Autorin und Afrofuturistin Natasha A. Kelly 2020 eine Anthologie heraus, die mehr ist als eine Textsammlung: Das Werk ist ein interdisziplinäres Portal, das Schwarze Zukunftsperspektiven jenseits eurozentrischer Kategorien sichtbar, erfahrbar und lesbar macht. Bilingual angelegt, auf Deutsch und Englisch, schlägt das Buch sprachlich wie inhaltlich Brücken – transatlantisch, transhistorisch, transdisziplinär.

Das Herzstück der Publikation ist die erste deutsche Übersetzung von W. E. B. Du Bois’ Kurzgeschichte „The Comet“ (1920), angefertigt von Natasha A. Kelly selbst, die neben ihren wissenschaftlichen und kuratorischen Tätigkeiten auch als gelernte Übersetzerin arbeitet. Die Übersetzung ist mehr als eine bloße Übertragung: Sie ist ein symbolischer Akt der Rückgewinnung Schwarzer intellektueller Traditionen für einen Raum, in dem sie lange ignoriert oder exotisiert wurden.

Du Bois (1868–1963) gilt als ein Wegbereiter des Afrofuturismus. Während seines Studiums in Deutschland entwickelte er zur Blütezeit des deutschen Kolonialismus viele seiner bahnbrechenden Ideen, die Schwarze Geschichte mit Zukunftsvisionen verbanden. Diese Kombination aus historischer Tiefe und spekulativer Kraft ist es, die ihn für viele als frühen Afrofuturisten lesbar macht. Henry Louis Gates Jr., Direktor des W. E. B. Du Bois Institute an der Harvard University, nennt Du Bois in seinem Beitrag „einen der größten Denker des 20. Jahrhunderts“ und hebt die Aktualität des Werkes hervor: „‚The Comet‘ reicht über nationale und kontinentale Grenzen hinweg, um Verbindungen zwischen Afrodeutschland und Schwarzen Gemeinschaften weltweit herzustellen.“

Was ist Afrofuturism 2.0?

1993 prägte der US-amerikanischen Schriftsteller und Kulturkritiker Mark Dery in seinem Essay „Black to the Future“ den Begriff „Afrofuturism“ vor allem im Kontext Schwarzer US-amerikanischer Popkultur. „Afrofuturism 2.0“ führt diesen Ansatz entschieden weiter: Der von Reynaldo Anderson und John Jennings eingeführte Begriff beschreibt eine postdigitale, dekoloniale und epistemologisch vielschichtige Perspektive, die Schwarze Wissenssysteme und Zukunftsnarrative nicht in westlich-akademische Kategorien einpasst, sondern als eigene Denklogiken anerkennt.

„Afrofuturism 2.0“ überschreitet dabei die klassischen Grenzen von Musik, Kunst und Literatur. Er ist eine politische und technologische Strategie – eine Vision für Gerechtigkeit, Verwurzelung und planetare Zukunftsgestaltung. In „The Comet. Afrofuturism 2.0“ wird dieses Denken konkret: Die versammelten Beiträge reichen von Essays über Interviews bis hin zu künstlerischen Arbeiten, etwa Technologie, Heilung, Spiritualität oder Urbanismus, die bereits 2018 auf einem Symposium am HAU in Berlin einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden.

Eine neue afrofuturistische Phase

Herausgeberin Natasha A. Kelly ist auch eine zentrale Stimme der Afrofuturismus-Bewegung in Deutschland: Als Gründungsmitglied des BSAM (Black Speculative Arts Movement) trägt sie maßgeblich dazu bei, dass afrofuturistisches Denken auch im deutschsprachigen Raum institutionell und intellektuell Fuß fassen kann. So ist in „The Comet. Afrofuturism 2.0“ auch das BSAM-Manifesto abgedruckt. Der programmatische Text, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und weltweit Anerkennung findet, formuliert eine klare politische Dimension von Afrofuturismus: Es geht nicht nur um Repräsentation, sondern um Transformation. Das Manifest ruft zur Dekolonisierung von Wissen, Technologie und Vorstellungskraft auf – und ermutigt zu spekulativen Visionen, die Schwarze Realitäten nicht nur beschreiben, sondern aktiv verändern.

Dass die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) die Publikation 2021 vollständig übernahm und in einer Sonderausgabe neu auflegte, unterstreicht die inhaltliche Relevanz von „The Comet. Afrofuturism 2.0“ für die politische Bildung in Deutschland. Und es trägt weiter dazu bei, eine neue, breitere Zielgruppe zu erschließen – auch jenseits akademischer oder künstlerischer Kontexte. 

Insgesamt lässt sich „The Comet. Afrofuturism 2.0“ damit als vielstimmiger Auftakt zu einer neuen Phase afrofuturistischen Denkens in Deutschland und Europa betrachten. Natasha A. Kelly hat ein Werk geschaffen, das gleichermaßen archiviert, aktiviert und antizipiert – und in den vergangenen fünf Jahren weiter an Bekanntheit gewonnen hat.

Afrofuturismus und die wahre KI

Mit der Intelligenz der Vorfahren gegen die dunkle Aufklärung: Wie Afrofuturismus uns helfen kann, Vorstellungen einer lebenswerten Zukunft zu entwickeln.

von Sheree Renée Thomas, Lonny Avi Brooks und Reynaldo Anderson.

Aus dem Englischen von Natasha A. Kelly

25. Juni 2025

Das digitale Zeitalter singt ein verführerisches Lied des Fortschritts – und doch hallt in seinen Schaltkreisen ein absichtliches Auslöschen wider. KI ist zur neuesten Front im Kulturkampf geworden, der zwischen hemmungslosem Techno-Optimismus und dystopischer Angst schwankt. Einerseits heißt es, KI werde uns retten – vor Krankheit, Ineffizienz, Unwissenheit. Andererseits soll sie uns ersetzen, beherrschen, auslöschen. Wir stehen an einem Scheideweg: Wessen Perspektiven werden die Zukunft prägen – und wessen werden ausgelöscht? 

Oft wird der Mainstream-Diskurs über Technologie und Zukunft durch die enge Sichtweise der „Broligarchen“ bestimmt – jener technokratischen Elite, deren Philosophie sich aus der technotopischen Ideologie des Silicon Valley der 1990er-Jahre speist. Inzwischen hat sich diese Perspektive in die sogenannte „Dunkle Aufklärung“ verwandelt: in eine techno-autoritäre, neo-reaktionäre Strömung, die von Akteuren wie Elon Musk vertreten und in bürokratischer Form von Organistaionen wie DOGE repräsentiert wird. Hier setzt die Gegenkultur des Afrofuturismus an – nicht nur als Genre oder Ästhetik, sondern als ein Paradigmenwechsel.

Zukünfte werden gemacht, nicht gefunden

Der zeitgenössische Afrofuturismus ist eine Philosophie, die Menschen afrikanischer Herkunft dazu befähigt, sich mit Handlungsmacht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten. Dabei eröffnet der Afrofuturismus eine wichtige Perspektive – als kreative Ressource wie auch als kultureller und politischer Rahmen für die Neugestaltung von Möglichkeiten. Er bietet Werkzeuge, um alternative Zukunftsszenarien zu entwerfen, die ethisch auf der Erfahrung der Schwarzen basieren. Die Soziologin Ruha Benjamin erinnert uns daran, dass der „New Jim Code“ – digitaler Rassismus im Gewand technischer Objektivität – keine bloße Metapher ist: Es ist eine Realität, in der Algorithmen systemische Ungleichheiten aufrechterhalten. Ein digitales Echo historischer Unterdrückung.

Afrofuturismus stellt die Grundlagen unseres Verständnisses von „Zukunft“ infrage. Er lehnt die ahistorischen Narrative vermeintlich vorurteilsfreier Innovation ab und besteht stattdessen auf der Auseinandersetzung mit dem Wissen der Vorfahren. Er weiß: Zukünfte werden gemacht, nicht gefunden – und wer sie sich vorstellen darf, ist eine politische Frage. Aus Experiment und Erkundung geboren, aus historischem Kampf ebenso wie aus Freude, Spiel und unbändiger Neugier, steht der Afrofuturismus für Resilienz und Zukunftsgestaltung. Unsere Vorfahren, konfrontiert mit Entmenschlichung und Auslöschung, codierten in Spirituals und Klang die Visionen lebendiger, befreiter Welten. Diese „AfroRithms“ waren nicht nur Akte des Widerstands – sie waren das erste kulturelle Betriebssystem einer indigenen Voraussicht und Befreiungstechnologie.

Eine KI, die sich immer ausgefeilter und schneller weiterentwickelt, spiegelt auch die Voreingenommenheit ihrer Schöpfer*innen. Systeme, die aus einer begrenzten Sichtweise entstehen, verstärken Ungleichheit. Deshalb brauchen wir Afrofuturist*innen wie Walter Greason und William ‚Sandy‘ Darity, die die Grundlagen des globalen Kapitalismus hinterfragen und die verborgene Geschichte von Ausbeutung und Extraktion aufdecken. 

In seinem Buch „How Europe Underdeveloped Africa“ (2018) zeigte der Historiker Walter Rodney, dass Europas Nachkriegsaufbau auf der gezielten Unterentwicklung Afrikas basierte – ein Kreislauf der Ausbeutung, getarnt als „fairer Handel“. Die „Hilfe“ für Afrika ist bedeutungslos im Vergleich zu dem, was der Westen dem Kontinent entzogen hat. Hier fordert der Afrofuturismus restorative Gerechtigkeit.

Doch Schwarze und Indigene Gemeinschaften haben nicht nur überlebt – sie haben erschaffen. Sie haben Technologien der Erneuerung entwickelt, von Verwandtschaftssystemen bis hin zu kulturellen Codes. Ontologien, die sich nicht dem nihilistischen Pessimismus unterwerfen. Spirituell orientierte Epistemologien, die zu rebellischen Datenpraktiken beitragen. Dies ist die Essenz der ursprünglichen Intelligenz – das, was wir die wahre KI nennen.

Die Intelligenz der Ahnen

Afrofuturismus ist daher kein Nischenphänomen und auch keine Neuheit. Er ist gelebte Zukunftskompetenz – verantwortungsvoll, verkörpert, kulturell verwurzelt und moralisch dringend. In einer Ära reaktionärer KI-Euphorie, digitaler Verdrängung und entfremdeter rechter Beschleunigung bietet der Afrofuturismus – so wie die Ahnenintelligenz insgesamt – unsere beste Chance, bewohnbare Zukünfte zu gestalten.

Trotz ihrer Reichweite ist KI der Logik ihrer Schöpfer*innen verpflichtet – einer Logik, die von voreingenommenen Sprachmodellen, anti-Schwarzem Rassismus, kapitalistischer Ausbeutung und Techno-Utopismus geprägt ist. Und gerade weil KI mit den Vorurteilen ihrer Zeit und ihrer Schöpfer*innen kodiert ist, verdeckt, nutzt oder vernichtet sie allzu oft genau die Communitys, die seit langem ihre eigene Form kollektiver Heilungsintelligenz praktizieren: die Intelligenz der Vorfahren. Das Black Speculative Arts Movement (BSAM) liefert Blaupausen für diese andere Art von Intelligenz. Eine Intelligenz, die verwurzelt ist in Verwandtschaft, Gegenseitigkeit, Vorstellungskraft und Heilung – und die sich heute in vielfältigen Formen manifestiert. 

Ein Beispiel ist das kollaborative Erzählspiel AfroRithms from the Future, Teil einer wachsenden Bewegung von „Imagination Games“, die Schwarze und Indigene Zukunftsvisionen stärken und Ahnenintelligenz als Ressource für alle sichtbar machen: Stellen Sie sich KI-gepowerte Griots vor – mündliche Geschichtenerzähler:innen, Musiker:innen, Dichter:innen, Historiker:innen –, die die Weisheit bedeutender Persönlichkeiten im Kampf gegen Rassismus, Kolonialismus und soziale Ungerechtigkeit nutzen, um verborgene Machtverhältnisse oder Wirtschaftsmodelle zu enthüllen und die ausbeuterischen Strukturen der Jim-Crow-Gesetze, der Apartheid oder des Kolonialismus zu zerschlagen. Das passiert, wenn wir die Weisheit der Vorfahren durch spekulatives Spiel kanalisieren. AfroRithms ist Weltenbau und Weltneugestaltung zugleich.

Oder die Science of Social Justice der Neurowissenschaftlerin Sará King: Während viele Zukunftsforscher:innen nur in Daten sprechen, zeigt King, dass Heilung zur Zukunftskompetenz gehört. Ihr Projekt „Mirror of Loving Awareness“ setzt auf empathische Verbindung – ein neuronales Netzwerk der Seele. Die Verbindung von Weisheit mit dem Spekulativen, von Meditation und Vorstellungskraft, führt zu einer neuen Form der Zukunftsarbeit, die in der Intelligenz unserer Vorfahren verwurzelt ist. 

Diese emotionale Tiefe nennt der Schauspieler Ahmed Best den „emotionalen Motor“ – eine emotionale Triebkraft, die uns zu einem grundlegenden Wandel unserer Zukunftsgefühle führt. Die Verbindung von Empathie, Sinnhaftigkeit und Heilung in kinetischer Form aktiviert Zukunftsvisionen nicht nur als Ideen, sondern als gelebte emotionale Wahrheiten. Denn überlieferte Weisheiten und KI sind keine Gegensätze, sondern neigen sich einander an: Je tiefer man in das eine eindringt, desto näher kommt man dem anderen.

Die Verbindung von Heilung und technologischer Zukunft, von Schwarzsein, Neurowissenschaft, Technologie und Spiritualität, erforscht auch Philip Butler. Mit dem Seekr-Projekt hat er eine individuell konzipierte Konversations-KI geschaffen, die auf einem kulturell abgestimmten, heilungsorientierten Design basiert – mit integrierten Fähigkeiten zur psychischen Gesundheit und dem Potenzial zur Gestaltung radikal pluralistischer und befreiender Zukunftsperspektiven.

Glyphen alternativer Zeitschleifen

Neben King, Best und Butler arbeiten viele weitere Forscher:innen und Künstler:innen an einer Zukunft, in der Fürsorge, Bewusstsein und Ahnenintelligenz die Grundarchitektur von KI bilden. So bereiten die Forscher:in Toniesha Taylor vom Center for Africana Futures und die Community-Aktivistin LaWana Richmond junge Menschen auf politisches und persönliches Zukunftshandeln im Spannungsfeld von KI, Metaversum und Visioning vor. Nina Woodruff, Jasmine Wade und Kaya Fortune gestalten mit der Community Futures School das Jahr 2045. Die Aktivistin Audrey Williams stärkt spekulatives Erzählen über Ancestral Futures. Der Historiker und Kulturwissenschaftler Julian Chambliss engagiert sich aktiv für die Wiederherstellung verlorener historischer bürgerlicher Zukunftsperspektiven der Schwarzen. 

Im Bereich der Kunst setzt Alan Clark mit seinen „gefährlichsten Comix der Welt“ auf afrofuturistische Landschaften als Gegenmittel gegen die „dunkle Aufklärung“. Nyame Brown erschafft mit ihrem Onyx-Universum künstlerische Schwarze Utopien. Joshua Mays überzieht die Stadt Oakland mit afrofuturistischen Wandgemälden – und erfindet sie als die Stadt Olgaruth neu. Politische und visuelle Räume für die Schwarze Vorstellungskraft gestalten auch Stacey Robinson und John Jennings, Schöpfer des Projekts Black Kirby, sowie die Künstler Quentin VerCetty und Tim Fielder, der Digitalwissenschaftlerin Zaika dos Santos, die Kuratorin Natasha A. Kelly, die Cosplayerin Shannon Theus und das niederländische First Noble Institute. Ihre künstlerischen Produktionen sind nicht nur Illustrationen: Sie sind Glyphen, visuelle Nommos, Siegel und Frequenzen alternativer Zeitschleifen.

Sheree Renée Thomas hat mit „Dark Matter“ (2020) und „Africa Risen“ (2022) zwei Anthologien spekulativer, afrikazentrierter Literatur herausgegeben, die uns daran erinnern, dass die Zukunft nicht unausweichlich ist, sondern kuratiert wird. Diese Perspektive prägte auch die Ausstellung „Curating the End of the World“, mitgestaltet von der Kunsthistorikerin und Kulturkritikerin Tiffany Barber. Eine ganz konkrete Beschäftigung mit der Intelligenz der Vorfahren an der Schnittstelle von Erbe und digitaler Innovation bilden die Arbeiten des sahelischen Performancekünstlers Ibrahim Oumarou Yacouba alias Sage Soldat, des kamerunischen Afrofuturisten Nkolo Blondel und des südafrikanischen Klangkünstlers Michael Bhatch. Auch sie führen vor Augen, wie Schwarze Menschen unsere Zukunft tragen, ohne unsere Vergangenheit aufzugeben. Und machen deutlich, dass afrikanische spekulative Innovation keine Nische, sondern eine Notwendigkeit ist.

Vier zentrale Herausforderungen

Techno-autoritäre Narrative bieten eine Zukunft ohne Empathie – eine als Pragmatismus getarnte Regression zur Herrschaft. Demgegenüber behauptet der Afrofuturismus, dass eine andere Welt nicht nur möglich, sondern bereits im Aufbau ist. Diese Welt fordert uns heraus, Technologie als Werkzeug der Gerechtigkeit zu nutzen – das, was unsere Vorfahren „Maat“ nannten –, die Geschichte zu ehren, ohne uns an sie zu binden, und Gemeinschaften zu schaffen, die auf Gerechtigkeit basieren. In Zeiten der Klimakrise und des Wiederauflebens des Faschismus ist diese Vision mehr als nur ein künstlerischer Ausdruck: Sie ist ein politischer Imperativ. Der Fatalismus der Techno-Autoritären ist eine Kapitulation – der Afrofuturismus ist ein Aufruf zum Handeln. Dabei sind vier Herausforderungen zentral:

  1. Kollektive Handlungsmacht vs. Hierarchie der Broligarchen: Die dezentralen Gemeinschaften des Afrofuturismus wenden sich gegen die aktuelle Besessenheit von autoritärer Ordnung und Fantasien fremdenfeindlicher, neofeudaler Enklaven. So beschreibt etwa Octavia Butler in ihrer Erzählung „Parable of the Sower“ (2023) Graswurzelnetzwerke, die inmitten des Zusammenbruchs florieren und sich der Kontrolle von oben widersetzen.
  2. Befreiung vs. Technologie als Kontrolle: Tech-Eliten aus dem PayPal-Umfeld und andere einflussreiche Netzwerke zeigen, wie Technologie als Beschleuniger kapitalistischer Entfremdung, Transhumanismus und mangelnder Demokratieförderung wirkt. Der Afrofuturismus interpretiert Technologie dagegen als emanzipatorisch. So erforscht die Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe in ihrem Gesamtkunstwerk „Dirty Computer“ (2018) das digitale Bewusstsein als Ort des Widerstands: Innovation fördert hier Verbundenheit, nicht Unterwerfung. 
  3. Ethisches Gedächtnis vs. historische Amnesie: Die techno-autoritäre Nostalgie nach einer mythologischen Vergangenheit ignoriert die in historischen Hierarchien verankerte Gewalt. Der Afrofuturismus besteht dagegen darauf, sich mit dem Erbe der Unterdrückung auseinanderzusetzen, um eine Wiederholung zu verhindern – gegen ahistorischen Eskapismus und die Versuche, die Handlungsfähigkeit afrikanischer Völker zu reduzieren.
  4. Nachhaltige Zukunft vs. Zusammenbruch: Der techno-autoritäre Impuls begrüßt den gesellschaftlichen Zusammenbruch als darwinistische Säuberung. Der Afrofuturismus lehnt diesen Nihilismus ab und priorisiert nachhaltige Gemeinschaften, die sich durch generationenübergreifende Fürsorge und ökologisches Gleichgewicht auszeichnen. Durch einen Geist von Ubuntu: der Menschlichkeit in Verbundenheit mit anderen.

Sheree Renée Thomas
ist Herausgeberin von „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“, dreimalige Gewinnerin des World Fantasy Award für die Herausgabe der wegweisenden Anthologien „Dark Matter“ und „Africa Risen Black Speculative Fiction“ sowie Autorin der Sammlung „Nine Bar Blues“.

Lonny Avi Brooks
ist Professor und Fachbereichsleiter für Kommunikation an der Cal State East Bay, Mitbegründer der AfroRithm Futures Group und Mitentwickler von AfroRithms From The Future, einem visionären Erzählspiel, das sich eine freie Zukunft aus der Perspektive von Schwarzen, Indigenen und Queers vorstellt.

Reynaldo Anderson
ist Associate Professor für Afrikologie und African American Studies an der Temple University, Hauptorganisator der Black Speculative Arts Movement (BSAM) und Autor des Buches „Afrofuturism and World Order“.

Afrofuturismus

Die Perspektiven Schwarzer* Menschen wurden und werden in der westlichen Zukunftsforschung häufig ignoriert. Der Afrofuturismus entwickelt eigene, starke Bilder von Zukunft jenseits herrschender Machtstrukturen.

Ein Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“

von Natasha A. Kelly

29. Januar 2025

In eurozentrischen Science-Fiction-Narrativen erleben die Protagonist:innen typischerweise die Apokalypse: einen dramatischen Wendepunkt, der durch eine natürliche oder technologische Katastrophe herbeigeführt wird und den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung symbolisiert. Darauf folgt meist der Beginn eines Überlebenskampfes, in dem die Menschheit, meist repräsentiert durch weiße Protagonist:innen, sich gegen diese Bedrohung behaupten muss. 

Schwarze Menschen dagegen haben bereits eine Apokalypse durchlebt – in Form von Kolonialisierung, Versklavung und Rassismus. Diese Katastrophen sind bereits Teil unserer Realität, weshalb der Afrofuturismus nicht auf eine bevorstehende Zerstörung wartet, sondern alternative Zukunftsentwürfe schafft, die über das bereits Erlebte hinausgehen.

Auch die Vorstellung einer Alien-Invasion bleibt im Afrofuturismus aus, denn wir Schwarzen Menschen sind selbst zu den „Aliens“ geworden, die in den Versklavungsschiffen verschleppt wurden. Der britische Afrofuturist Kodwo Eshun beschreibt diese Schiffe treffend als Raumschiffe, was die Entfremdung und das gewaltsame Entfernen aus der eigenen Heimat symbolisiert.

Doch die Gegenwart hat die Schiffe nur kleiner werden lassen. Heute sterben Schwarze Menschen in Ruderbooten auf dem Mittelmeer. Gerade deshalb gewinnt der Afrofuturismus in der deutschen und europäischen Gegenwart an Bedeutung. 
In einer Zeit, in der Science-Fiction und futuristische Erzählungen oft von weißen Perspektiven dominiert werden, bietet der Afrofuturismus alternative Narrative, die das kreative Potenzial Schwarzer Menschen hervorheben.

Utopien für Weiße

Als der britische Philosoph und Autor Francis Bacon vor rund 400 Jahren in seinem utopischen Roman „New Atlantis“ die fiktive Insel Bensalem im Pazifischen Ozean beschrieb, glaubten seine Leser:innen kaum daran, dass die imaginierte Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem Fortschritt und der systematischen Erkundung der Natur basiert, Wirklichkeit werden könnte. Doch sie wurde es. Schwarze Menschen kommen in Bacons Vision der Zukunft allerdings nicht vor: Die Inselbewohner:innen werden als europäisch dargestellt. Bacons utopische Gesellschaft spiegelt das europäische Ideal der Aufklärung, das Wissen als Schlüssel zu Zivilisation und Fortschritt betrachtete.

Zur Zeit der Veröffentlichung von Bacons Roman war der transatlantische Versklavungshandel bereits in vollem Gange. Bis zum 19. Jahrhundert kostete er mehr als 12 Millionen Afrikaner:innen das Leben, viele von ihnen starben qualvoll während der Transporte. Trotz der grausamen Verschleppung und der Zwangszerstreuung hielten sie jedoch an ihren eigenen Zukunftsvisionen fest, in denen sie selbst die Hauptrolle spielten. Der Afrofuturismus knüpft an diese Visionen an, indem er Schwarze Zukunftsentwürfe schafft, die über Trauma und Unterdrückung hinausgehen und Raum für Selbstbestimmung und Hoffnung bieten.

Kennzeichnend für dieses Genre ist unter anderem, dass – anders als in eurozentrischen Erzählungen – Zeit nicht linear, sondern zirkulär verhandelt wird: Es gibt keinen Anfang oder Ende eines Ereignisses, alles bedingt sich gegenseitig. Afrofuturistische Künstler:innen und Denker:innen wie Sun Ra, Octavia Butler oder Janelle Monáe integrieren dabei auf diese Weise historische Erfahrungen mit futuristischen Szenarien, um in ihren Werken eine neue, ermächtigende Identität für Menschen afrikanischer Herkunft zu erschaffen.

Afrofuturismus 2.0

Doch Afrofuturismus ist nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform, sondern stellt heute auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Zukunft dar. Als kulturelle, künstlerische und sozialpolitische Bewegung nutzt der Afrofuturismus weiterhin Elemente von Science-Fiction, Fantasy und afrikanischer Mythologie, um die Rolle und Identität Schwarzer Menschen in einer technologisch fortgeschrittenen Welt zu definieren.

Gleichzeitig reflektiert der Afrofuturismus die historische Erfahrung des Kolonialismus, der nicht nur durch die Bacon’sche Idee von Wissenschaft gerechtfertigt, sondern auch durch den technischen Fortschritt und die kolonialen Bestrebungen europäischer Mächte, einschließlich Deutschlands, ermöglicht wurde. Die deutsche Kolonialgeschichte, insbesondere in Ländern wie Namibia, Tansania und Kamerun, hat tiefgreifende Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken. 

Die Auswirkungen dieser kolonialen Vergangenheit sind eng verbunden mit dem systematischen Ausschluss und der Unterdrückung Schwarzer Menschen. Im deutschen Kontext bietet der Afrofuturismus die Chance, diese anhaltende historische Ungerechtigkeit aufzuarbeiten und neue Narrative zu entwickeln.

Alternative Zukunftsnarrative

Die afrodeutsche Community hat begonnen, den Afrofuturismus als Werkzeug der Selbstermächtigung zu nutzen, um ihre eigenen Zukunftsvisionen zu formulieren und die spezifischen Herausforderungen des Schwarzseins in Deutschland zu adressieren. Künstler:innen und Aktivist:innen wie Olivia Wenzel oder Philip Khabo Koepsel kombinieren afrofuturistische Elemente mit den spezifischen Erfahrungen des Schwarzseins in Deutschland, um alternative Zukünfte zu imaginieren, in denen afrodeutsche Identitäten nicht nur sichtbar, sondern auch kraftvoll und einflussreich sind.

*„Schwarz“ wird in diesem Text mit großem „S“ geschrieben, um die soziale, historische und politische Bedeutung des Begriffs zu betonen: Es geht nicht um die Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um die Selbstbezeichnung einer politischen und kulturellen Identität. „Weiß“ wird dagegen kursiv geschrieben, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass „Weißsein“ eine gesellschaftlich konstruierte Norm darstellt, die in vielen Gesellschaften historisch als Standard gesetzt wurde, um Machtverhältnisse und Privilegien zu sichern.

Natasha A. Kelly
ist Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin und Mitglied des Black Speculative Arts Movement (BSAM). Die globale kreative und intellektuelle Bewegung erforscht Kunst, Kultur und Technologie, um Schwarze Zukunftsvisionen und alternative Realitäten durch Afrofuturismus und andere Formen der spekulativen Kunst zu gestalten und zu fördern.

Afrofuturistic Art

The New Queen’s Gate

Das Bild des kanadischen Afrofuturisten Quentin VerCetty Lindsay gehört zum Berliner Symposium „The Comet – Afrofuturismus 2.0“, das Natasha A. Kelly 2018 im Rahmen des Black Speculative Arts Movement (BSAM) kuratierte. Indem VerCetty die afrikanische Diaspora in Deutschland thematisiert, verbindet er Schwarze Geschichte mit Zukunftsvisionen – und symbolisiert kulturellen Widerstand und Ermächtigung in einer Gesellschaft, die noch von kolonialen Erinnerungen geprägt ist. Das Brandenburger Tor, einst mit dem preußischen Imperialismus verbunden, wird neu hinterfragt.

Afrofuturismus The New Queens Gate

L’Évangile Selon Goly

Der kamerunische Künstler Franck Toh verbildlicht den Zusammenhang zwischen Missionierung und Kolonialisierung und verweist auf das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Das Bild reflektiert zentrale Themen des Afrofuturismus wie kulturelle Identität, Technologie und Wissensvermittlung – und symbolisiert die Suche nach einer neuen, selbstbestimmten Identität Afrikas.

Afrofuturismus Franck Toh

Afrotopia 1

Das 2016 entstandene Bild des US-amerikanischen Künstlers Stacey A. Robinson symbolisiert eine Schwarze Utopie, die Identität, Wissen und Macht in einer grenzenlosen Zukunft neu definiert. Durch die Rekombination von Elementen des Schwarzen Kulturarchivs schafft Robinson Visionen einer freien, Schwarzen Zukunft, die auf einer Neuerfindung der Vergangenheit basieren.

Afrofuturismus Afrotopia Bild

Literatur

Anderson, Reynaldo und Jones, Charles E. (2015): Afrofuturism 2.0: The Rise of Astro-Blackness. Lanham/London

Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant than the Sun: Adventures in Sonic Fiction. London

Kelly, Natasha A. (2019): At the End of ,Dasein‘. An Afro-German Voyage Into the Future. In: Anderson, Reynaldo und Fluker, Clinton R. (Hg.): The Black Arts Movement. Black Futurity, Art and Design. Lanham, S. 11–26

Kelly, Natasha A. (Hg.) (2020): The Comet – Afrofuturism 2.0. Berlin