Überall kommt es zu Ausfällen, Fehlern, Bugs. Züge kommen nicht pünktlich, Brücken sind marode, das WLAN funktioniert nicht. Service-Chatbots treiben uns in den Wahnsinn. Social-Media-Plattformen verkommen zu Generatoren von Hass, Spaltung und Fake News. Und das Passwort fürs Online-Banking haben wir schon wieder vergessen…
von Lena Papasabbas
16. Januar 2025
Das Internet, in dem alles immer leichter und schneller werden sollte, hat sich zu einem Labyrinth aus wenig vertrauenserweckenden Informationsströmen, KI-generiertem Contentbrei und umständlichen Login-Prozessen verwandelt. Statt unsere Lebensqualität zu erhöhen, versuchen wir, uns mit Digital Detox, Offline-Zeiten und reduzierter Bildschirmzeit aus den digitalen Zeitlöchern zu kämpfen und ein bisschen analoges Leben zu retten.
Und dabei leben wir doch im “Zeitalter der Innovation“. So jedenfalls tönt es auf allen Business-Konferenzen und von allen Tech-Giganten. Eine Geschichte, die so oft wiederholt wurde, dass alle sie irgendwie glauben. Sie zu hinterfragen, wäre geradezu peinlich. Man möchte ja nicht von gestern sein. Und schließlich haben wir alle schon beeindruckt mit ChatGPT geplaudert. Was aber, wenn das Narrativ vom rasenden Innovationszeitalter völlig übertrieben ist?
Klar, künstliche Intelligenz kann in datenintensiven Umgebungen wichtige Fortschritte bringen. Aber nehmen wir einmal an, all die viel gefeierten Edge-Technologien, die uns derzeit die phänomenalen Durchbrüche in ein technisches Wunderland suggerieren – KI, Quantencomputer, supersmarte Glasses und Watches – wären gar nicht die Lösungen all unserer Probleme.
Und nehmen wir einmal an, das radikal Neue wäre nicht unbedingt das Bessere. Im Gegenteil.
Die US-amerikanischen Autoren Lee Vinsel und Andrew L. Russell beschreiben in ihrem Buch The Innovation Delusion, wie unsere Obsession des „Next Big Thing“ die moderne Zivilisation in die Sackgasse führt. Alle sprechen von Innovation – weil Innovation gleichbedeutend ist mit Profit und Wachstum – aber kaum jemand ist wirklich innovativ. Deshalb wird jede kleinste Neuerung, jedes Update zur großen Innovation aufgebläht und mit Versprechen über Versprechen aufgeladen. Das führt über kurz oder lang zu Enttäuschung, da hinter den allermeisten Innovationen nicht mehr steckt als toll klingende, aber inhaltsleere Marketingversprechen.
Echte Innovation dagegen ist häufig weniger spektakulär. Sie ist oft leise und entwickelt sich graduell – und nicht mit einem großen Knall. Echte Innovation verbessert unser Leben, statt es noch komplizierter zu machen.
Die Welt, in der wir leben, funktioniert nicht dadurch, dass wir ständig neue Dinge erfinden, sondern zu einem großen Teil durch Erhalt, Wartung, Pflege und Integration langsamer Verbesserungen.
Der Innovationismus ist kulturhistorisch eine recht neue Erfindung. Noch vor 300 Jahren waren in den meisten Gesellschaften Neuheiten nicht unbedingt hochgeschätzt. Sie galten als obskur, gar Scharlatanerie, weil sie sich noch nicht bewährt hatten. Das änderte sich mit dem beschleunigten Kapitalismus innerhalb weniger Jahre – und mündete in den vergangenen 30 Jahren mit dem Siegeszug des Digitalen in einen regelrechten Rausch. In einer Verherrlichung des Neuen als das Bessere.
Wir waren lange geblendet von einem nie dagewesenen Hype um Innovation. Doch inzwischen sind wir innovationsmüde. Heute stehen wir da, mit all unseren schönen neuen Gimmicks und Gadgets. Und wundern uns, dass in dieser schönen neuen Technikwelt nichts mehr so richtig funktioniert. Nicht nur für uns persönlich. Auch gesamtgesellschaftlich scheint es überall zu bröckeln.
Vinsel und Russell zeigen auf, dass Innovationen immer mehr zu Ersatz-Fetischen für echte soziale Entwicklung und altruistische Werte wie Freundlichkeit und Toleranz geworden sind. Statt an gemeinschaftlichen Werten zu arbeiten, suchen wir die Lösung in der Technologie, in „Technolutions“, nach dem Motto: „Diese Kryptowährung kann Lieferketten fair machen“ oder „Die fünf besten Apps gegen Armut“. Statt uns als Gesellschaft zu dienen, hat der Hype um Innovation also vor allem dem Wachstumskapitalismus als Hebel genutzt, um uns zu immer besseren Konsument:innen zu machen.
Die vielleicht fatalste Auswirkung dieses radikalen Innovationismus ist der Statusverlust bestimmter Berufe: Wartungstechniker:innen, Klempner:innen, Handwerker:innen jeder Art, Menschen mit Systemwissen, Pflegekräfte, Putzkräfte, selbst IT-Wartungspersonal – all diese Berufe leiden im Zeitalter des Innovationismus unter schlechtem Image. Eben weil sie nichts Neues produzieren, sondern “nur” die Dinge zum Funktionieren bringen und Systeme stabil halten. Sie stören die Illusion des Neuen, das immerzu das Alte ersetzen soll.
Menschen, die dafür sorgen, dass Systeme weiterlaufen, bleiben unbeachtet. Menschen, die vorgeben, etwas radikal anders zu machen, baden in Ruhm und Geld. Doch die entscheidenden Innovationsfelder der Zukunft liegen weder im Hightech noch auf dem Mars. Sie liegen in scheinbar profanen Dingen wie Krankenpflege, Bildungswesen, Infrastrukturen, verlässlicher Logistik und Transport, Gastfreundschaft und funktionierender Zwischenmenschlichkeit.