Kulturelle Muster, die sich von Gehirn zu Gehirn fortpflanzen, erschaffen auch kollektive Zukunftsbilder. Im Zeitalter der Hypervernetzung werden sie zu mächtigen Treibern des Wandels. – Ein gekürzter Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Lena Papasabbas
9. November 2024
Social Media und Plattformen wie Airbnb ermöglichen Einblicke in Wohnzimmer auf der ganzen Welt. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen, die quer über den Globus verteilt leben, sich für den exakt gleichen Stil entscheiden: weiße oder Backstein-Wände, rohes Holz, schicke Kaffeemaschinen, Eames-Stühle, Edison-Glühbirnen. Überall die gleiche Mischung aus Industrialismus, gepaart mit Mid-Century-Designs und einem minimalistischen Flair. Das gleiche Phänomen finden wir in Cafés und Coffee Shops, Restaurants und Hotels. Erreicht die kulturelle Evolution unter den Vorzeichen einer globalisierten und vernetzten Welt eine Art Nullpunkt in der Midculture?
Die Formen, Farben und Logos von Autos ähneln sich heute ebenso drastisch wie Homepages, Videospiele oder Skylines – egal, in welcher Stadt auf der Erde wir uns befinden. Und die neue Durchschnittlichkeit prägt auch uns Menschen selbst: Schönheitsnormen diversifizieren sich nur noch peripher, in politisch aufgeladenen Debatten um Sexismus, Fatshaming oder Rassismus. In den Feeds von Instagram und Co. findet sich eine absurde Gleichförmigkeit der Ästhetik. Das „Instagram Face“ hat es längst ins Real Life geschafft, gefüttert von der milliardenschweren Schönheitsindustrie. Immer mehr Menschen lassen sich ihre Gesichter näher an das volllippige, stupsnasige Instagram-Ideal heranoperieren. Was zuvor digital als Filter über unsere Fenster zur Welt gelegt wurde, manifestiert sich nun unter dem analogen Skalpell.
Und nicht nur auf Instagram sind Medienprodukte heute von einer lähmenden Gleichförmigkeit geprägt. Es herrscht eine surreale Gleichschaltung des Geschmacks, die sich in immer ähnlicher werdenden Trailern, Werbefilmen, Videospielen, Filmplakaten und Buchcovern zeigt. Wirklich Originelles hat es schwer in einer Welt, in der die unendliche, leicht veränderte Wiederholung des Immergleichen dominiert. Nähern wir uns dem Age of Average an? Und warum werden unsere Umwelten immer ähnlicher?
Eine interessante Perspektive auf das Thema bietet ein fast vergessene Theorie: Die Memetik. Die natürliche Selektion und die genetische Evolution haben unsere physischen Körper geformt und uns zu den Wesen gemacht, die wir sind: auf zwei Beinen laufend, mit zwei freien Armen und Händen – und ausgestattet mit einem riesigen Gehirn, das uns zu komplexen Fähigkeiten verhilft. Doch Menschen sind mehr als ihre Biologie: Sie sind auch bewusste Gemeinschaften, mit Sprache, Musik, Kulinarik, Kunst, Poesie, Tanz, Ritualen, Symbolik und Humor. Diese Verhaltensweisen sind Ergebnisse einer kulturellen Evolution: der Auslese, Mutation und Verbreitung von Memen. Und wie bei Genen überleben nur die „fittesten“ von ihnen.
Der Kern der memetischen Theorie basiert auf der Fragestellung, warum Menschen im Laufe der Evolution derart riesige Gehirne hervorgebracht haben, obwohl ein großes Hirn zum komfortablen Überleben nicht nur „eigentlich“ nicht nötig, sondern oft sogar hinderlich ist. Warum geht die Natur das „Risiko“ ein, 25 Prozent der Körperenergie für 1 Prozent der Körpermasse abzuzweigen? Und die Spezies zudem durch einen sehr komplizierten Geburtsvorgang zu gefährden, bei dem ein überdimensionaler Schädel einen engen Geburtskanal durchqueren muss?
Die Erklärung der Memetik lautet: Unser Gehirn ist eine evolutionäre Anpassung an einen Fortpflanzungsmechanismus von Ideen, Bildern, Inhalten und Träumen, die sich von Kopf zu Kopf bewegen und sich dabei unentwegt reproduzieren. Menschliche Hirne sind die massiv expandierte Hardware für eine ständig expandierende kulturelle Software. So wie bei Computern die Speicher und Grafikprozessoren ständig größer und besser werden müssen, um immer komplexere Software aufnehmen zu können, hat sich das Hirn der kulturellen Zeichenflut in Jahrmillionen angepasst.
Die memetische Theorie erklärt eine Menge Phänomene, die bislang im Dunkeln geblieben sind. Etwa die erstaunliche Konstanz, mit der sich Mythen über Jahrtausende in Kulturen halten und dabei verändern. Es gibt rote Fäden, die sich als ständig mutierende Ideen über viele Generationen fortpflanzen. In einer digitalisierten Gesellschaft beschleunigt sich der Ansteckungscharakter von starken Memen, weil immer mehr „Infektionskanäle“ dazukommen. Websites, Social Media, Apps, Chatbots und Messenger lassen die Verbreitungswege für Meme explosiv ansteigen.
Von der „Ice Bucket Challenge“ bis zu Chemtrail-Geschwurbel und hochproblematischen Überzeugungen wie „Der Klimawandel ist nur erfunden“ oder „Muslime sind gefährlich“ können sich so alle möglichen Ideen, Bilder und Kulturtechniken rasend schnell verbreiten und vergemeinschaften. Auf diese Weise erzeugen Meme Wellen von Überzeugungen, Irrtümern, Erwartungen, Hoffnungen – wie zuletzt das Supermeme Kamala Harris.
Es ist kein Zufall, dass auch die millionenfach geteilten, humoristischen Medienschnipsel im Netz „Meme“ heißen. Meist handelt es sich um Tierbilder, Filmszenen, Animes, Cartoons, Alltags- oder Stockfotos, die durch kurze Slogans witzig bis absurd neu kontextualisiert werden.
Nicht immer sind diese Memes für die breite Masse verständlich. Und sie können ihre Bedeutung verändern. So wurde „Pepe the Frog“, eines der erfolgreichsten Internet-Meme, das schon seit 2005 im Netz kursiert, zuerst in der Alt-Right-Bewegung populär, später eigneten es sich Aktivist:innen in Hongkong an, heute spielt es in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedliche Rollen. Die Grenze von reinen Spaß-Memen, die allein der Unterhaltung dienen, und solchen, die zur politischen Kraft werden, ist immer wieder fließend.
Viele Internet-Meme sind eine digitale Weiterentwicklung von Witzen – und damit einer speziellen Form von Memen, die bislang vor allem über orale Kultur evolvierte, durch Varianz, Mutation und Auslese. Jemand erzählt eine Geschichte mit einem seltsamen Ende, jemand anderes lacht darüber. Die Geschichte wird weitererzählt, mit einer kleinen Variation. Wieder lacht jemand, diesmal mehr – oder weniger, dann stirbt der Witz aus. So wird die ursprüngliche Geschichte variiert und reproduziert. Und schließlich wird der Witz zum Mem: zu einer geistigen Einheit, die sich in Millionen Gehirnen fortpflanzt.
Meme funktionieren deshalb, weil Nachahmung eine der zentralen Kräfte sozialen Verhaltens ist. Insbesondere in dem, was wir begehren, orientieren wir uns gern an anderen. Sind unsere Grundbedürfnisse erfüllt, tendieren wir dazu, das, was andere haben, sowie ihr Wollen und Streben zu imitieren (vgl. Alexiadis 2022).
In hyperindividualisierten und -vernetzten Zeiten geraten diese Prozesse nun aber zunehmend außer Kontrolle. Einerseits imitieren wir in unserer Unsicherheit, was wir als Nächstes begehren sollen, andere Menschen – andererseits wollen wir uns abgrenzen, um dem Individualitätsdiktat zu genügen. In einer Welt voller vernetzter Inhalte und Algorithmen, die uns allen immer häufiger das Gleiche zeigen und globale Standards schaffen, ist dieses Streben erst recht zum Scheitern verurteilt. Wir suchen Individualität – und erleben gleichzeitig eine Vermainstreamung unbekannten Ausmaßes.
Die unendlichen Verbindungslinien des Internets sind mächtige Replikationsmechanismen, die erfolgreiche Meme in extremer Geschwindigkeit global verbreiten und ins Bewusstsein einer breiten Masse tragen. Befeuert wird dieser Prozess von den Algorithmen der Künstlichen Intelligenz, die stets die wahrscheinlichste, anschlussfähigste Option aus vorhandenen Daten auswählen – und so tendenziell das Prinzip „Immer mehr vom Gleichen“ verstärken. Welche Konsequenzen hat KI damit für die Memetik und unsere kulturelle Evolution?
Von Sprachmodellen über Playlists bis zu Social-Media-Feeds: Algorithmen sind darauf trainiert, stets den passendsten Inhalt vorzuschlagen. Auf individueller Ebene ist dieser Effekt als Filterbubbling bekannt. Auf gesellschaftlicher Ebene folgt daraus eine stetige Verbreiterung des Mainstreams – und das Verschwinden von originellen und außergewöhnlichen Inhalten. Die unendliche Replikation von Ähnlichkeiten lässt eine neue Durchschnittlichkeit entstehen. Daher leben wir in einer Welt, in der wir alle stärker denn je nach Individualität streben. Und in der wir uns zugleich so ähnlich sind wie nie zuvor.