Das KI Manifest

Ein Auszug aus 37 Thesen, Parolen und Geboten zur Zukunft der Künstlichen Intelligenz und der menschlichen Kreativität

von Matthias Horx und Julian Horx (Illustrationen)

11. September 2024

Das KI Manifest

In Zeiten der künstlichen Dummheit ist es wieder richtig und wichtig, radikal zu werden.

Radikalität heißt: Die Kenntnis der Wurzeln. Und die Verwurzelung des Denkens in der menschlichen Zukunft.

Ein Gespenst geht um in der ganzen Welt und weit darüber hinaus. Es spukt in unseren Köpfen und Seelen. Es lässt uns nicht ruhig schlafen. Es quält und verwirrt unsere Gedanken, unsere Unternehmen, unsere Gesellschaften, unser Mind.

Es ist das Gespenst der Künstlichen Intelligenz.

Auf unheimliche Weise scheint KI das Schicksal der ganzen Menschheit zu bestimmen. Sie saugt alles, was wir wissen, glauben und hoffen, in sich hinein. Sie enteignet die Gedanken, die Bilder, die menschlichen Gefühle. Sie stürzt uns in einen Strudel der Selbstabwertung, der gefühlten Unterlegenheit gegenüber des Digitalen.

Sie zerstört unsere Vorstellung von der Zukunft.

Doch jetzt ist es an der Zeit, diesen Zustand der Angst und Unterwerfung zu überwinden – und zu einer Expedition aufzubrechen, die uns zum Kern unserer Selbst-Verständnisses führt. Wir sind aufgerufen, neu zu verstehen, wer wir – als Menschen – sind. Und was Zukunft für uns bedeutet.

Was „kann“ Künstliche Intelligenz? Und was wird sie können, wenn sie noch viel „weiter“ ist?

Hier ist eine widerborstige These: Generative KI wird, wenn sie „perfekt“ und mit noch mehr Daten trainiert ist, weniger können als heute.

Generative Künstliche Intelligenz ist ein stochastischer Papagei, der immer nur nachplappert oder nachbildet, was bereits existiert. Dies führt zu einem evolutionären Paradox: Je weiter sich KI entwickelt, desto dümmer wird sie. Da die Ergebnisse der KI immer wieder in die KI-Systeme eingespeist werden, entsteht eine regressive Schleife: Das Wiederholte wird wiederholt, die KI wird mit ihren eigenen Produkten überfüttert. Das mündet in eine digitale Dekadenz. Eine Art Selbst-Kannibalisums.

Perfektion ist, im systemischen Sinn, anti-evolutionär. An einem bestimmten Punkt gibt es keine Überraschung der Wahrnehmung mehr. Überraschungen sind jedoch das, womit wir unsere Balance zwischen Chaos und Struktur bewahren. Der menschliche Geist generiert seine Energie über das Staunen. Das Erleben des Neuen und Zauberhaften.

„Die KI wirkt auf mich beruhigend dumm.“
– Helge Schneider, Komiker und Künstler

Generative KI drängt Kreative zu einer harten Selbstüberprüfung: Kann das, was ich herstelle, besser von KI erzeugt werden?

Die Frage klingt vernichtend. Sie hat aber auch einen befreienden Charakter, wenn man sie ehrlich stellt. Denn wenn wir durch die KI ersetzbar sind, heißt das, dass wir uns von der genuinen Kreativität entfernt haben. Wir sind in gewisser Weise selbst zu Maschinen geworden. Zu Anhängseln.

Dann ist es Zeit, neu aufzubrechen.

KI wird den Mainstream der kreativen Arbeit „vertilgen“ – und gleichzeitig aufblähen. Dies wird einen neuen Sektor der radikalen Mittelmäßigkeit erzeugen, in dem weder Löhne noch Honorare gezahlt werden, weil die KI alles übernimmt. Doch zugleich entsteht ein schnell wachsender neuer Markt, in dem die genuine Human-Kreativität wieder neu bewertet und gewürdigt wird.

Maschinen können Kombinationen finden. Materialien sichten. Aber sie haben keine „Wahrnehmungen“. Und sie verstehen nichts von Leidenschaften und Selbstvertrauen, den großen Treibern der Kreativität. All das können sie nur simulieren.

Zu den großen Eigenschaften des Menschen zählt die Wahrnehmung der Wahrhaftigkeit. Auch dafür gibt es einen Markt. Einen riesigen und wachsenden – wenn wir es richtig anstellen.

KI erlaubt es Verlagen, ohne Redaktionen auszukommen. Sie ermöglicht es, Kunst ohne Künstler:innen zu machen. Filme ohne Darsteller:innen zu produzieren. Bücher ohne Autor:innen zu schreiben.

Für die kommende Auseinandersetzung zwischen Mensch und KI wird es auf das Selbstbewusstsein der Kreativen ankommen. Und auf ihre Fähigkeit, ihre eigene Arbeit von der KI-generierten Reproduktion des Immergleichen zu unterscheiden. Mit Stolz in die Welt zu gehen. Und dabei auch die Möglichkeiten generativer Computersysteme zu nutzen, wo es Sinn macht.

„Das Trainingsmaterial der KI ist ein Spiegel der Menschheit“, sagt der Fotograf Boris Eldagsen, der 2023 die „Sony World Photography Awards“ mit einem KI-generierten Bild gewann – und den Preis ablehnte: „Damit zu arbeiten, ist spannend. Ich bin dann in meiner Rolle nicht mehr der Künstler, der ich vorher war (…) Jetzt bin ich der Dirigent, und mein Chor ist das Trainingsmaterial. Ich muss versuchen, damit etwas zu schaffen. Künstlerisch ist es eine tolle Zeit.“ (vgl. Buxmann/Schmidt 2024).

Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Jede dekonstruktive Dynamik bewirkt auch eine konstruktive Gegenbewegung.

Weil generative KI in eine Misstrauensschleife führt (Was ist wahr? Was ist echt? Was soll das?), sind wir mehr denn je auf persönliche Vertrauensverhältnisse angewiesen. Online-Inhalte verifizieren sich nicht mehr von selbst. Wir lernen aktuell, dass Bilder, Audio- oder Videoaufnahmen nichts wirklich zeigen und beweisen.

Deshalb wird es immer wichtiger, zu wissen, von wem eine Information kommt. Wer gepostet oder generiert hat. Es geht um die Intention menschlichen Verhaltens und weniger um die „Inhalte“ (die zunehmend assimilierte Formen sind).

Wir werden schnell ein Gefühl dafür entwickeln, was von KI produziert wurde und was nicht. Damit verbunden sein wird ein Gefühl der Fadheit, des Ekels – so wie unsere Vorfahren eine Abneigung gegen verdorbene Lebensmittel entwickelten. Der Hunger nach Echtheit, Wahrheit, Authentizität kehrt zurück.

Vertrauen ist ansteckend, es bildet seine eigenen, selbstverstärkenden Systeme. Darauf ist Verlass.