Die Perspektiven Schwarzer* Menschen wurden und werden in der westlichen Zukunftsforschung häufig ignoriert. Der Afrofuturismus entwickelt eigene, starke Bilder von Zukunft jenseits herrschender Machtstrukturen.
Ein Auszug aus „Beyond 2025 – Das Jahrbuch für Zukunft“
von Natasha A. Kelly
29. Januar 2025
In eurozentrischen Science-Fiction-Narrativen erleben die Protagonist:innen typischerweise die Apokalypse: einen dramatischen Wendepunkt, der durch eine natürliche oder technologische Katastrophe herbeigeführt wird und den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung symbolisiert. Darauf folgt meist der Beginn eines Überlebenskampfes, in dem die Menschheit, meist repräsentiert durch weiße Protagonist:innen, sich gegen diese Bedrohung behaupten muss.
Schwarze Menschen dagegen haben bereits eine Apokalypse durchlebt – in Form von Kolonialisierung, Versklavung und Rassismus. Diese Katastrophen sind bereits Teil unserer Realität, weshalb der Afrofuturismus nicht auf eine bevorstehende Zerstörung wartet, sondern alternative Zukunftsentwürfe schafft, die über das bereits Erlebte hinausgehen.
Auch die Vorstellung einer Alien-Invasion bleibt im Afrofuturismus aus, denn wir Schwarzen Menschen sind selbst zu den „Aliens“ geworden, die in den Versklavungsschiffen verschleppt wurden. Der britische Afrofuturist Kodwo Eshun beschreibt diese Schiffe treffend als Raumschiffe, was die Entfremdung und das gewaltsame Entfernen aus der eigenen Heimat symbolisiert.
Doch die Gegenwart hat die Schiffe nur kleiner werden lassen. Heute sterben Schwarze Menschen in Ruderbooten auf dem Mittelmeer. Gerade deshalb gewinnt der Afrofuturismus in der deutschen und europäischen Gegenwart an Bedeutung.
In einer Zeit, in der Science-Fiction und futuristische Erzählungen oft von weißen Perspektiven dominiert werden, bietet der Afrofuturismus alternative Narrative, die das kreative Potenzial Schwarzer Menschen hervorheben.
Als der britische Philosoph und Autor Francis Bacon vor rund 400 Jahren in seinem utopischen Roman „New Atlantis“ die fiktive Insel Bensalem im Pazifischen Ozean beschrieb, glaubten seine Leser:innen kaum daran, dass die imaginierte Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem Fortschritt und der systematischen Erkundung der Natur basiert, Wirklichkeit werden könnte. Doch sie wurde es. Schwarze Menschen kommen in Bacons Vision der Zukunft allerdings nicht vor: Die Inselbewohner:innen werden als europäisch dargestellt. Bacons utopische Gesellschaft spiegelt das europäische Ideal der Aufklärung, das Wissen als Schlüssel zu Zivilisation und Fortschritt betrachtete.
Zur Zeit der Veröffentlichung von Bacons Roman war der transatlantische Versklavungshandel bereits in vollem Gange. Bis zum 19. Jahrhundert kostete er mehr als 12 Millionen Afrikaner:innen das Leben, viele von ihnen starben qualvoll während der Transporte. Trotz der grausamen Verschleppung und der Zwangszerstreuung hielten sie jedoch an ihren eigenen Zukunftsvisionen fest, in denen sie selbst die Hauptrolle spielten. Der Afrofuturismus knüpft an diese Visionen an, indem er Schwarze Zukunftsentwürfe schafft, die über Trauma und Unterdrückung hinausgehen und Raum für Selbstbestimmung und Hoffnung bieten.
Kennzeichnend für dieses Genre ist unter anderem, dass – anders als in eurozentrischen Erzählungen – Zeit nicht linear, sondern zirkulär verhandelt wird: Es gibt keinen Anfang oder Ende eines Ereignisses, alles bedingt sich gegenseitig. Afrofuturistische Künstler:innen und Denker:innen wie Sun Ra, Octavia Butler oder Janelle Monáe integrieren dabei auf diese Weise historische Erfahrungen mit futuristischen Szenarien, um in ihren Werken eine neue, ermächtigende Identität für Menschen afrikanischer Herkunft zu erschaffen.
Doch Afrofuturismus ist nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform, sondern stellt heute auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Zukunft dar. Als kulturelle, künstlerische und sozialpolitische Bewegung nutzt der Afrofuturismus weiterhin Elemente von Science-Fiction, Fantasy und afrikanischer Mythologie, um die Rolle und Identität Schwarzer Menschen in einer technologisch fortgeschrittenen Welt zu definieren.
Gleichzeitig reflektiert der Afrofuturismus die historische Erfahrung des Kolonialismus, der nicht nur durch die Bacon’sche Idee von Wissenschaft gerechtfertigt, sondern auch durch den technischen Fortschritt und die kolonialen Bestrebungen europäischer Mächte, einschließlich Deutschlands, ermöglicht wurde. Die deutsche Kolonialgeschichte, insbesondere in Ländern wie Namibia, Tansania und Kamerun, hat tiefgreifende Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken.
Die Auswirkungen dieser kolonialen Vergangenheit sind eng verbunden mit dem systematischen Ausschluss und der Unterdrückung Schwarzer Menschen. Im deutschen Kontext bietet der Afrofuturismus die Chance, diese anhaltende historische Ungerechtigkeit aufzuarbeiten und neue Narrative zu entwickeln.
Die afrodeutsche Community hat begonnen, den Afrofuturismus als Werkzeug der Selbstermächtigung zu nutzen, um ihre eigenen Zukunftsvisionen zu formulieren und die spezifischen Herausforderungen des Schwarzseins in Deutschland zu adressieren. Künstler:innen und Aktivist:innen wie Olivia Wenzel oder Philip Khabo Koepsel kombinieren afrofuturistische Elemente mit den spezifischen Erfahrungen des Schwarzseins in Deutschland, um alternative Zukünfte zu imaginieren, in denen afrodeutsche Identitäten nicht nur sichtbar, sondern auch kraftvoll und einflussreich sind.
*„Schwarz“ wird in diesem Text mit großem „S“ geschrieben, um die soziale, historische und politische Bedeutung des Begriffs zu betonen: Es geht nicht um die Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um die Selbstbezeichnung einer politischen und kulturellen Identität. „Weiß“ wird dagegen kursiv geschrieben, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass „Weißsein“ eine gesellschaftlich konstruierte Norm darstellt, die in vielen Gesellschaften historisch als Standard gesetzt wurde, um Machtverhältnisse und Privilegien zu sichern.
Natasha A. Kelly
ist Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin und Mitglied des Black Speculative Arts Movement (BSAM). Die globale kreative und intellektuelle Bewegung erforscht Kunst, Kultur und Technologie, um Schwarze Zukunftsvisionen und alternative Realitäten durch Afrofuturismus und andere Formen der spekulativen Kunst zu gestalten und zu fördern.
Das Bild des kanadischen Afrofuturisten Quentin VerCetty Lindsay gehört zum Berliner Symposium „The Comet – Afrofuturismus 2.0“, das Natasha A. Kelly 2018 im Rahmen des Black Speculative Arts Movement (BSAM) kuratierte. Indem VerCetty die afrikanische Diaspora in Deutschland thematisiert, verbindet er Schwarze Geschichte mit Zukunftsvisionen – und symbolisiert kulturellen Widerstand und Ermächtigung in einer Gesellschaft, die noch von kolonialen Erinnerungen geprägt ist. Das Brandenburger Tor, einst mit dem preußischen Imperialismus verbunden, wird neu hinterfragt.
Der kamerunische Künstler Franck Toh verbildlicht den Zusammenhang zwischen Missionierung und Kolonialisierung und verweist auf das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Das Bild reflektiert zentrale Themen des Afrofuturismus wie kulturelle Identität, Technologie und Wissensvermittlung – und symbolisiert die Suche nach einer neuen, selbstbestimmten Identität Afrikas.
Das 2016 entstandene Bild des US-amerikanischen Künstlers Stacey A. Robinson symbolisiert eine Schwarze Utopie, die Identität, Wissen und Macht in einer grenzenlosen Zukunft neu definiert. Durch die Rekombination von Elementen des Schwarzen Kulturarchivs schafft Robinson Visionen einer freien, Schwarzen Zukunft, die auf einer Neuerfindung der Vergangenheit basieren.
Anderson, Reynaldo und Jones, Charles E. (2015): Afrofuturism 2.0: The Rise of Astro-Blackness. Lanham/London
Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant than the Sun: Adventures in Sonic Fiction. London
Kelly, Natasha A. (2019): At the End of ,Dasein‘. An Afro-German Voyage Into the Future. In: Anderson, Reynaldo und Fluker, Clinton R. (Hg.): The Black Arts Movement. Black Futurity, Art and Design. Lanham, S. 11–26
Kelly, Natasha A. (Hg.) (2020): The Comet – Afrofuturism 2.0. Berlin