Mit der Intelligenz der Vorfahren gegen die dunkle Aufklärung: Wie Afrofuturismus uns helfen kann, Vorstellungen einer lebenswerten Zukunft zu entwickeln.
von Sheree Renée Thomas, Lonny Avi Brooks und Reynaldo Anderson.
Aus dem Englischen von Natasha A. Kelly
25. Juni 2025
Das digitale Zeitalter singt ein verführerisches Lied des Fortschritts – und doch hallt in seinen Schaltkreisen ein absichtliches Auslöschen wider. KI ist zur neuesten Front im Kulturkampf geworden, der zwischen hemmungslosem Techno-Optimismus und dystopischer Angst schwankt. Einerseits heißt es, KI werde uns retten – vor Krankheit, Ineffizienz, Unwissenheit. Andererseits soll sie uns ersetzen, beherrschen, auslöschen. Wir stehen an einem Scheideweg: Wessen Perspektiven werden die Zukunft prägen – und wessen werden ausgelöscht?
Oft wird der Mainstream-Diskurs über Technologie und Zukunft durch die enge Sichtweise der „Broligarchen“ bestimmt – jener technokratischen Elite, deren Philosophie sich aus der technotopischen Ideologie des Silicon Valley der 1990er-Jahre speist. Inzwischen hat sich diese Perspektive in die sogenannte „Dunkle Aufklärung“ verwandelt: in eine techno-autoritäre, neo-reaktionäre Strömung, die von Akteuren wie Elon Musk vertreten und in bürokratischer Form von Organistaionen wie DOGE repräsentiert wird. Hier setzt die Gegenkultur des Afrofuturismus an – nicht nur als Genre oder Ästhetik, sondern als ein Paradigmenwechsel.
Der zeitgenössische Afrofuturismus ist eine Philosophie, die Menschen afrikanischer Herkunft dazu befähigt, sich mit Handlungsmacht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten. Dabei eröffnet der Afrofuturismus eine wichtige Perspektive – als kreative Ressource wie auch als kultureller und politischer Rahmen für die Neugestaltung von Möglichkeiten. Er bietet Werkzeuge, um alternative Zukunftsszenarien zu entwerfen, die ethisch auf der Erfahrung der Schwarzen basieren. Die Soziologin Ruha Benjamin erinnert uns daran, dass der „New Jim Code“ – digitaler Rassismus im Gewand technischer Objektivität – keine bloße Metapher ist: Es ist eine Realität, in der Algorithmen systemische Ungleichheiten aufrechterhalten. Ein digitales Echo historischer Unterdrückung.
Afrofuturismus stellt die Grundlagen unseres Verständnisses von „Zukunft“ infrage. Er lehnt die ahistorischen Narrative vermeintlich vorurteilsfreier Innovation ab und besteht stattdessen auf der Auseinandersetzung mit dem Wissen der Vorfahren. Er weiß: Zukünfte werden gemacht, nicht gefunden – und wer sie sich vorstellen darf, ist eine politische Frage. Aus Experiment und Erkundung geboren, aus historischem Kampf ebenso wie aus Freude, Spiel und unbändiger Neugier, steht der Afrofuturismus für Resilienz und Zukunftsgestaltung. Unsere Vorfahren, konfrontiert mit Entmenschlichung und Auslöschung, codierten in Spirituals und Klang die Visionen lebendiger, befreiter Welten. Diese „AfroRithms“ waren nicht nur Akte des Widerstands – sie waren das erste kulturelle Betriebssystem einer indigenen Voraussicht und Befreiungstechnologie.
Eine KI, die sich immer ausgefeilter und schneller weiterentwickelt, spiegelt auch die Voreingenommenheit ihrer Schöpfer*innen. Systeme, die aus einer begrenzten Sichtweise entstehen, verstärken Ungleichheit. Deshalb brauchen wir Afrofuturist*innen wie Walter Greason und William ‚Sandy‘ Darity, die die Grundlagen des globalen Kapitalismus hinterfragen und die verborgene Geschichte von Ausbeutung und Extraktion aufdecken.
In seinem Buch „How Europe Underdeveloped Africa“ (2018) zeigte der Historiker Walter Rodney, dass Europas Nachkriegsaufbau auf der gezielten Unterentwicklung Afrikas basierte – ein Kreislauf der Ausbeutung, getarnt als „fairer Handel“. Die „Hilfe“ für Afrika ist bedeutungslos im Vergleich zu dem, was der Westen dem Kontinent entzogen hat. Hier fordert der Afrofuturismus restorative Gerechtigkeit.
Doch Schwarze und Indigene Gemeinschaften haben nicht nur überlebt – sie haben erschaffen. Sie haben Technologien der Erneuerung entwickelt, von Verwandtschaftssystemen bis hin zu kulturellen Codes. Ontologien, die sich nicht dem nihilistischen Pessimismus unterwerfen. Spirituell orientierte Epistemologien, die zu rebellischen Datenpraktiken beitragen. Dies ist die Essenz der ursprünglichen Intelligenz – das, was wir die wahre KI nennen.
Afrofuturismus ist daher kein Nischenphänomen und auch keine Neuheit. Er ist gelebte Zukunftskompetenz – verantwortungsvoll, verkörpert, kulturell verwurzelt und moralisch dringend. In einer Ära reaktionärer KI-Euphorie, digitaler Verdrängung und entfremdeter rechter Beschleunigung bietet der Afrofuturismus – so wie die Ahnenintelligenz insgesamt – unsere beste Chance, bewohnbare Zukünfte zu gestalten.
Trotz ihrer Reichweite ist KI der Logik ihrer Schöpfer*innen verpflichtet – einer Logik, die von voreingenommenen Sprachmodellen, anti-Schwarzem Rassismus, kapitalistischer Ausbeutung und Techno-Utopismus geprägt ist. Und gerade weil KI mit den Vorurteilen ihrer Zeit und ihrer Schöpfer*innen kodiert ist, verdeckt, nutzt oder vernichtet sie allzu oft genau die Communitys, die seit langem ihre eigene Form kollektiver Heilungsintelligenz praktizieren: die Intelligenz der Vorfahren. Das Black Speculative Arts Movement (BSAM) liefert Blaupausen für diese andere Art von Intelligenz. Eine Intelligenz, die verwurzelt ist in Verwandtschaft, Gegenseitigkeit, Vorstellungskraft und Heilung – und die sich heute in vielfältigen Formen manifestiert.
Ein Beispiel ist das kollaborative Erzählspiel AfroRithms from the Future, Teil einer wachsenden Bewegung von „Imagination Games“, die Schwarze und Indigene Zukunftsvisionen stärken und Ahnenintelligenz als Ressource für alle sichtbar machen: Stellen Sie sich KI-gepowerte Griots vor – mündliche Geschichtenerzähler:innen, Musiker:innen, Dichter:innen, Historiker:innen –, die die Weisheit bedeutender Persönlichkeiten im Kampf gegen Rassismus, Kolonialismus und soziale Ungerechtigkeit nutzen, um verborgene Machtverhältnisse oder Wirtschaftsmodelle zu enthüllen und die ausbeuterischen Strukturen der Jim-Crow-Gesetze, der Apartheid oder des Kolonialismus zu zerschlagen. Das passiert, wenn wir die Weisheit der Vorfahren durch spekulatives Spiel kanalisieren. AfroRithms ist Weltenbau und Weltneugestaltung zugleich.
Oder die Science of Social Justice der Neurowissenschaftlerin Sará King: Während viele Zukunftsforscher:innen nur in Daten sprechen, zeigt King, dass Heilung zur Zukunftskompetenz gehört. Ihr Projekt „Mirror of Loving Awareness“ setzt auf empathische Verbindung – ein neuronales Netzwerk der Seele. Die Verbindung von Weisheit mit dem Spekulativen, von Meditation und Vorstellungskraft, führt zu einer neuen Form der Zukunftsarbeit, die in der Intelligenz unserer Vorfahren verwurzelt ist.
Diese emotionale Tiefe nennt der Schauspieler Ahmed Best den „emotionalen Motor“ – eine emotionale Triebkraft, die uns zu einem grundlegenden Wandel unserer Zukunftsgefühle führt. Die Verbindung von Empathie, Sinnhaftigkeit und Heilung in kinetischer Form aktiviert Zukunftsvisionen nicht nur als Ideen, sondern als gelebte emotionale Wahrheiten. Denn überlieferte Weisheiten und KI sind keine Gegensätze, sondern neigen sich einander an: Je tiefer man in das eine eindringt, desto näher kommt man dem anderen.
Die Verbindung von Heilung und technologischer Zukunft, von Schwarzsein, Neurowissenschaft, Technologie und Spiritualität, erforscht auch Philip Butler. Mit dem Seekr-Projekt hat er eine individuell konzipierte Konversations-KI geschaffen, die auf einem kulturell abgestimmten, heilungsorientierten Design basiert – mit integrierten Fähigkeiten zur psychischen Gesundheit und dem Potenzial zur Gestaltung radikal pluralistischer und befreiender Zukunftsperspektiven.
Neben King, Best und Butler arbeiten viele weitere Forscher:innen und Künstler:innen an einer Zukunft, in der Fürsorge, Bewusstsein und Ahnenintelligenz die Grundarchitektur von KI bilden. So bereiten die Forscher:in Toniesha Taylor vom Center for Africana Futures und die Community-Aktivistin LaWana Richmond junge Menschen auf politisches und persönliches Zukunftshandeln im Spannungsfeld von KI, Metaversum und Visioning vor. Nina Woodruff, Jasmine Wade und Kaya Fortune gestalten mit der Community Futures School das Jahr 2045. Die Aktivistin Audrey Williams stärkt spekulatives Erzählen über Ancestral Futures. Der Historiker und Kulturwissenschaftler Julian Chambliss engagiert sich aktiv für die Wiederherstellung verlorener historischer bürgerlicher Zukunftsperspektiven der Schwarzen.
Im Bereich der Kunst setzt Alan Clark mit seinen „gefährlichsten Comix der Welt“ auf afrofuturistische Landschaften als Gegenmittel gegen die „dunkle Aufklärung“. Nyame Brown erschafft mit ihrem Onyx-Universum künstlerische Schwarze Utopien. Joshua Mays überzieht die Stadt Oakland mit afrofuturistischen Wandgemälden – und erfindet sie als die Stadt Olgaruth neu. Politische und visuelle Räume für die Schwarze Vorstellungskraft gestalten auch Stacey Robinson und John Jennings, Schöpfer des Projekts Black Kirby, sowie die Künstler Quentin VerCetty und Tim Fielder, der Digitalwissenschaftlerin Zaika dos Santos, die Kuratorin Natasha A. Kelly, die Cosplayerin Shannon Theus und das niederländische First Noble Institute. Ihre künstlerischen Produktionen sind nicht nur Illustrationen: Sie sind Glyphen, visuelle Nommos, Siegel und Frequenzen alternativer Zeitschleifen.
Sheree Renée Thomas hat mit „Dark Matter“ (2020) und „Africa Risen“ (2022) zwei Anthologien spekulativer, afrikazentrierter Literatur herausgegeben, die uns daran erinnern, dass die Zukunft nicht unausweichlich ist, sondern kuratiert wird. Diese Perspektive prägte auch die Ausstellung „Curating the End of the World“, mitgestaltet von der Kunsthistorikerin und Kulturkritikerin Tiffany Barber. Eine ganz konkrete Beschäftigung mit der Intelligenz der Vorfahren an der Schnittstelle von Erbe und digitaler Innovation bilden die Arbeiten des sahelischen Performancekünstlers Ibrahim Oumarou Yacouba alias Sage Soldat, des kamerunischen Afrofuturisten Nkolo Blondel und des südafrikanischen Klangkünstlers Michael Bhatch. Auch sie führen vor Augen, wie Schwarze Menschen unsere Zukunft tragen, ohne unsere Vergangenheit aufzugeben. Und machen deutlich, dass afrikanische spekulative Innovation keine Nische, sondern eine Notwendigkeit ist.
Techno-autoritäre Narrative bieten eine Zukunft ohne Empathie – eine als Pragmatismus getarnte Regression zur Herrschaft. Demgegenüber behauptet der Afrofuturismus, dass eine andere Welt nicht nur möglich, sondern bereits im Aufbau ist. Diese Welt fordert uns heraus, Technologie als Werkzeug der Gerechtigkeit zu nutzen – das, was unsere Vorfahren „Maat“ nannten –, die Geschichte zu ehren, ohne uns an sie zu binden, und Gemeinschaften zu schaffen, die auf Gerechtigkeit basieren. In Zeiten der Klimakrise und des Wiederauflebens des Faschismus ist diese Vision mehr als nur ein künstlerischer Ausdruck: Sie ist ein politischer Imperativ. Der Fatalismus der Techno-Autoritären ist eine Kapitulation – der Afrofuturismus ist ein Aufruf zum Handeln. Dabei sind vier Herausforderungen zentral:
Sheree Renée Thomas
ist Herausgeberin von „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“, dreimalige Gewinnerin des World Fantasy Award für die Herausgabe der wegweisenden Anthologien „Dark Matter“ und „Africa Risen Black Speculative Fiction“ sowie Autorin der Sammlung „Nine Bar Blues“.
Lonny Avi Brooks
ist Professor und Fachbereichsleiter für Kommunikation an der Cal State East Bay, Mitbegründer der AfroRithm Futures Group und Mitentwickler von AfroRithms From The Future, einem visionären Erzählspiel, das sich eine freie Zukunft aus der Perspektive von Schwarzen, Indigenen und Queers vorstellt.
Reynaldo Anderson
ist Associate Professor für Afrikologie und African American Studies an der Temple University, Hauptorganisator der Black Speculative Arts Movement (BSAM) und Autor des Buches „Afrofuturism and World Order“.