Wie beeinflusst der Boom der KI-Sprachmodelle die Entwicklung der Gesellschaft? Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine wird intensiver – und führt zurück zu den Anfängen der Gesellschaft.
Dies ist ein gekürzter Auszug aus der Publikation „Beyond 2024 – Das Jahrbuch für Zukunft“
7. Dezember 2023
Am Anfang war die Sprache. Die Sprache ist der Grundantrieb der sozialen Evolution, der große Katalysator für die Entstehung und Entwicklung gesellschaftlicher Gefüge. Erst die Sprache macht die Dinge unterscheidbar, motiviert zur Anschlusskommunikation – und produziert damit das, was wir „Gesellschaft“ nennen: ein riesiges Bündel aus Kommunikationen, das fortwährend evolviert.
Generative KI führt diesen Evolutionsprozess nun in eine Phase der erhöhten Beschleunigung. Insbesondere die „großen Sprachmodelle“ wie ChatGPT haben KI alltagstauglich anwendbar gemacht, indem sie menschliche Kommunikation simulieren. Erstmals interagieren Menschen seitdem praktisch reibungsfrei mit Maschinen, ohne Programmierkenntnisse zu benötigen. Und erstmals „füttern“ Maschinen direkt die menschliche Kommunikation – während ihre Urheberschaft zugleich immer schwieriger decodierbar wird.
Die Ära kommunizierender Maschinen erzeugt ein neues Level an kommunikativer Intransparenz, das mediatisierte Gesellschaften kulturell herausfordert: Was macht es mit uns Menschen, wenn „intelligente“ Software dialogisch mit uns interagiert? Und was bedeutet die Popularisierung der großen Sprachmodelle für die weitere Evolution der Gesellschaft?
Dass ChatGPT und Co. „automatisierte Bullshitmaschinen“ sind, die einzig darauf zielen, wahrheitsbezogene Kommunikation zu simulieren, ist inzwischen im kollektiven Bewusstsein angekommen. Um ihre Aussagen zu plausibilisieren, halluzinieren sie im Zweifelsfall frei erfundene Geschichten, die sie als Fakten ausgeben. In diesem Streben nach größtmöglicher Anschlussfähigkeit verstärken KI-Sprachmodelle zugleich bestehende Stereotype, sie sind „inhärent strukturkonservativ“: Indem sie das bereits bestehende Gerede ausweiten und dabei den kleinsten gemeinsamen Nenner unseres Denkens reproduzieren, fördern sie eine allgemeine Standard-Durchschnittlichkeit.
Generative KI entwickelt sich also nicht nur sehr viel schneller und unkontrollierbarer als alle bisherigen Technologien – sie verändert auch das Fundament des gesellschaftlichen Gefüges, die menschliche Sprache. Konkret heißt das: Eigensinnige Formulierungen werden nicht mehr gefunden, die sprachliche Performanz nimmt ab. Unsere Sprache und unsere Kultur werden vorhersehbarer, berechenbarer, gefälliger.
Je mehr Sprachmodelle dabei öffentliche Diskurse besetzen und die politische Öffentlichkeit bilden, umso stärker gefährden sie das gesellschaftliche Miteinander und die Demokratie – erst recht, wenn diese Systeme im Privatbesitz weniger Konzerne sind. Vor diesem Hintergrund erscheinen die KI-Erlösungsfantasien vieler Unternehmen geradezu gesellschaftsgefährdend. Immer wichtiger wird deshalb ein grundsätzlicher Perspektivwechsel in unserem Verständnis der Digitalisierung: eine soziokulturellen Reflexion der Digitalisierungseffekte – und die bewusste Kultivierung einer „Human Digitality“.
Der große Gegentrend zum aktuellen Siegeszug der KI ist die Aufwertung der zwischenmenschlichen Interaktion. Denn selbst die elaborierteste Sprach-KI wird nie dorthin vordringen können, wo die Interaktion eigentlich erst interessant wird: in die Untiefen des menschlichen Denkens, dorthin, wo wir die Einzigartigkeit unseres Selbst und unseres Verhältnisses zur Welt durchspielen – im unmittelbaren zwischenmenschlichen Austausch, mittels Sprache. Die Ära des maschinellen Deep Learning erfordert vom Menschen nicht nur ein Deep Thinking, sondern auch ein Deep Talking.
Die physische Begegnung und die mündliche Interaktion sind der Beweis, dass wir echte Menschen sind – indem wir uns im wirklichen Leben mit unseren menschlichen Körpern zeigen und unsere Sprache kultivieren. Unser Körper ist der Anker, der uns umfängliche Bedeutung erkennen und empfinden lässt. Das Fundament der menschlichen Urteilskraft und des kritischen Denkens.
Um diese zwischenmenschlichen Potenziale für eine positive Gestaltung der Gesellschaft zu erschließen, braucht es einen Bewusstseinswandel auf allen Ebenen. Im Bildungskontext erfordert dies zum Beispiel einen viel stärkeren Fokus auf „Human only“-Tätigkeiten und -Kompetenzen wie Kreativität, Imagination, Empathie, Wertebewusstsein, Emotionen, Intuition, Mitgefühl. Auf alles, was komplementär zur maschinellen Hypereffizienz ist – und klug angewandt durchaus von ihr unterstützt werden kann. Dies sind die wahren Future Skills.
In einer hypertechnisierten Realität, die zunehmend von KI durchdrungen ist, werden informelle Sprechakte mehr denn je unsere Menschlichkeit signalisieren. Immer deutlicher zeigt sich: Die Welt der kreativen sprachlichen Eigenheiten, der Dialekte, Memes, Jargons und Neologismen ist der genuine Bereich des Menschen.
Unter den neuen Vorzeichen der Vernetzung werden wir zurückkehren zu den oralen Anfängen der gesellschaftlichen Evolution. Zu dem, was einzigartig und wahrhaft menschlich ist: dem gesprochenen Wort.